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3262#
Hiforifhe Zeitſchrift.
Heinrich v. Sybel und Sriedrih Meinche.
Der ganzen Reihe 75. Band.
Neue Folge 39. Band.
Münden und TFeipgig 1895.
Drud und Verlag von R. Oldenbourg.
Inhalt
Auffäse. .
Aus dem hellenifchen Mittelalter. Bon Robert Böhlmanı . .
Die ftädtiiche Verwaltung bed Mittelalterd als Vorbitd der ſputeren
Territorialverwaltung. Von Georg v. Bel
Römiſche Nuntiaturberichte als Quellen der da. des Köfnifchen
Kriege. Bon Mar Loſſen
griebri Wilhelm I. und Leopold" von Anhalt. Von Otio Krauske
önig a milbem II DO. und bie Geneſis des Friedens von Bafel.
on Baul Bai .
Bur Beihichte er Begrlndung der. ſczweriſchemorwegiſchen Union. Von
ch ..
Neue Mittheilungen und Erläuterungen zur Begründun, des Deutſchen
Reiches durch Wilhelm J. Von Heinrich v. Sybel . .
Heinrich v. Sybel ̃. Bon R. Oldenbourg sen..
Heinrich v. Sybel FT. Bon Friedrich Meinecke
Miscellen.
Bur Borgeiiicte der Schlacht von Albe (Tagliacozzo). Bon Ernſt
adur
Das vermeintliche Schreiben Wiclifs an Urban VI. und einige vers
Fa een Wielif's aus feinen legten Lebenstagen.
oſert
Radıtron zu ber Abhandlung , „Unterfuchungen über die plätze
it ..
olitit zc.” Bon M ter
Literaturberidt.
Seite
Geſchichtsphiloſophie... 277 Altchriſtliches ..
Bolitit. -. . 2 2 121386 Kumifh-germanifche Belt.
Alte Geſchichte: ' Mittelalter:
Allgemeined . „ . .„ 282. 481 Rechtsgeſchichte 106.
Serad . » 2 2 2 20. 278 Eluniacenfer; Inveftturfteit
Sicien - - - 2 2 0. 284 Väpite . . 109.
IV
Interregnum .
Rudolf von Habsburg.
15. Jahrhundert .
gumaniamud
etten .
Reformationdzeit ..
Dreißigjähriger Krieg 110.
Beitalter der abfoluten Monarchie:
Großer Kurfürft
Rifola .
Leibniz und Muratori
Deutiche Literatur .
VHyfiofraten .
19. Jahrhundert:
Montgelas
Hannover .
Thielmayn
Gervinus . .
Beit Friedrich Wilhelm's IV.
Deutiche Sandichaften:
Reichenau . .
Worms
118.
Anhalt
Eeite | Seite
108| Köln 130
500 | Werden 181
503 | Magdeburg 133
5051 Medlenburg . 135
109| Bannover . 126
296 | Baiern 619
507 | Öfterreidh . 137
Frankreich
510 Univerfiiät Paris 318
3501| Revolution . . 623
514 | England Allgemeines u. 2 Miitel⸗
121 alter .
124 | Stalien:
Mittelalter . 324
5619| 19. Zaprdundert . 388
126 | Spanien (18. u. 19. Yadıh.) . 340
129 | Berfien (16. Sahrbunbert) 297
306 | Sübamerila . . 344
808 ' Funftgeichichte 846. 526
| Univerfitäten . 136. 318
292 | Schulweien . . . 303
293 | Rationalöfonomit . 100
Alpbabetildes Be der beſprochenen Schriften.)
Albert, Les Grecs & Rome
Alexandri Lycopol. contra
Manichaei opin. disputatio
ed. Brinkmann .
Undreae, Geld. d. Jagd im
Taunus . .
Armstro ng, Elisab. Farnese
Ashley,Introductionto Engl.
economic hist. and theory.
l,2.ed,D. . .
Auson, Law and Custom of
the Constitution. 1.2. ed, U.
Baar, Studien über den get.
Unterridt an d. höh. Lehr⸗
anftalten d. Auslandes . .
Bahmann, Deutihe Reichs⸗
geihichte im Zeitalter Sie
rich's III. u. Mar I.
Baumgartner, Die Sefnitene
republik in Baraguay
v. Bezold u. Riehl, D. Kunfte
denfmale d. Königr. Baiern. I.
Seite
164 Biermann, ei d. derzogth.
Teſchen. 2. Aufl.
Binterim u. Mooren, Die
Erzdiöcefe Köln. I. I. .
. Böhmische Landtagsverhandl. u.
187 ⸗Beſchlüſſe. VII. . 138
341 Böhtlingt, Der Raftatter Ger
jandtenmord vor dem Karla»
1 46 ruher Schöffengericht 378
Boissier, L'’Afrique Romaine 360
152:8008, Monum. Wormatiensia
| (Duellen 3. Geſch. der Stadt
Worms. ID
ya | Bulfert, Das Interim
rttemberg . .
Bourgeois, Alberoni, Lettres
508 | intimes adressdes au comte
J. Rocca. . . 340
344 Brandi, Chronik des Gallus
bem (Quellen
346 ðeſch — Heiden I)
130
.. 293
in
372
292
s, Enthält auch die in den Notigen und Nachrichten befprochenen felbftänbigen Schriften.
VI
Kawerau f. Möller.
Kempf, Geichichte d. deutichen
Reiches während des Inter⸗
Der „Neue rengon“
in Schlefien. (1556 —1624
Kleinwädter, Der —*
Reformationsverſuch von 1842
bis 1543 .
Knie, Karl Friedr. 3 v. Baden
briefl. Verkehr mit Mirabeau
u. Dupont. I. U.
Krebs, Franzoſiſche Staats⸗
gefangene in ſchleſ. Feſtungen
Kuenen, Geſammelte Abhand⸗
lungen zur Bibl. Wiſſenſch..
Lamperti opera rec. Holder-
Egger
Land et eh r, 3, Siesenpokititä: Fried.
Wilh.,
LegesVisigoterü antiquioren,
ed. Zeumer . . ..
Lehrs j. Ludmwid)
Lenel, Studien z. Geſch Paduas
u. Veronas im 18. Jahrh.
se onomw, Geheime Dohumente
d. ruſſ. Drient.: ⸗Politik 1882
bi3 1890 .
ei Das deutſche Nanonal-
efühl .
gipfins, . Griech. Studien.
Lobeck, ſ. Ludwich.
Sorengen, Die ſchwed. Armee
im 30jähr. Kriege und ihre
‚ obanfung
uägersäßlte Briefe
Ludwich,
von u. an Chr. A. Lobeck u.
K. Lehrs. I. I. .
Maccari, lIstoria del "Re
Giannino di Francia ,.
Maeterlinck, Ruysbroeck
and the Mystics .
Maitland, Memoranda de
Parliamento |
Matomwer, Berfaffung d. Kirche
von Englan nd
Manitius, Seid. d. wiiſtich
latein. Boefie . ..
Mazzi, Il tesoro dun re .
Bedienburgifged Urkundenbud).
VI
Mehlis, Studien ; älteften
Seid. d. Rheinlane. XU.
Inhalt.
Seite
Meinardus, Protokolle und
Relationen d. brandenb. Geh.
Rathes aus d. Zeit d. Kur⸗
108) fürſten Friedr. Wilh. II. III.
Meyer v. Knonau, Jahrb.
d. Deutſchen Reichs unter Hein⸗
rich IV. u. deinric V. Lu.
Mittdeilungen aus d. Batilan.
Ardiv.
Möller, Lehrbuch der Kirchen»
geſch. II., bearb. von @uftav
Kamwerau . .
Müller, W., Zob. Leop. v. Hay
Müller, H., Bild. Kaulbach. I.
Neumwirth, Geſch. d. bildenden
2735| Kunft in Böhmen vom Tode
Wenzel's III. bis au den
498 Hufiientriegen. Il .
Norrenberg, Die bl. Irm⸗
18| gardis v. Südteln. . .
Oman, Warwick the King-
106| maker. .
Ompteda, Irrfahrten u. Aben⸗
teuer end mittelftaatlihen
336) Diplom
Opel, Der ber bänt
che Krie eg. III.
186 Paolucci, L’origine dei co-
muni di Milano e di Roma
866 |v. Beter&dorff, General von
Thielmann
Piccolomini, in monte dei
Paschi di Siena. I—-IV. .
Pollock, Introduction to the
hist. ofthe science of politics
Pribram, Liſola . .
Die bit. Stellung der adziwili
Rathlef, Bismarck u. Öſterreich
bis 1866
Redlich, Eine Wiener Brief⸗
ſamml. z. „acid d. deutſchen
Reichs u. d. öſterr. Ränder in
d. zweiten Hälfte d. d. 13. Jahrh.
Reinach, La Franceetl!'Italie
devant |'histoire .
Reindell, Doktor Benceslaus
Lind von Colditz.
290 Reuſch, Beiträge ir Seid, d.
325 Jeſuitenordens
Ricasoli, Lettere e docu-
135| menti. VID.
Riehl, utſche u u. ital. Kun
charaltere..
510
Römiſche Nuntiaturberichte als Quellen der Geſchichte
des Koluiſchen Kriegs.
Bon
Max Loffen.
—
Im Vorwort meiner Vorgeſchichte des Kölnischen Krieges,
Dezember 1881, hatte ich die Erwartung ausgefprochen, daß in
den nächſten Jahren noch mancherlei neue Duellenmaterial für
die Gejchichte diejed Krieges zum Druck gelangen werde. Dabei
dachte ich an allerhand mögliche oder wahrjcheinliche Publikationen
aus beutichen und fremden Archiven, aber gewiß nicht daran,
daß jchon in nächſter Zeit faſt überreiche Quellen zur deutjchen
Geſchichte im Zeitalter der Reformation und Gegenreformation
aus den Archiven des Vatikans fich ergießen würden.
Treilih Hatte Schon im Jahre vorher Papit Leo XIII. den
„von wiſſenſchaftlicher Begeifterung, wie von ftaat3männifcher
Einficht zeugenden Entſchluß“!) gefaßt, diefe Archive gejchichtlicher
Forſchung zu Öffnen; doch verging immerhin einige Zeit, bis die
Geſchichtsforſcher und ihnen folgend die fremden Regierungen ſo—
viel Vertrauen in die Stetigfeit dieſes Entichluffes gewannen,
daß fie ausgiebigen Gebrauch davon machten. Dann aber, Ende
der achtziger Jahre, fing man an, ſich faft zu drängen und zu
jtoßen, um einander das Beſte vorwegzunehmen. Zu diejem
V Worte v. Sybel’8 im Borwort zu dem Gefammtunternehmen ber
Nuntiaturberichte aus Deutichland* 1,1. Gotha 1892.
OtReriiche Beitichrift N. 5. Be. XXXIX.
2 M. Loſſen,
Beiten rechnete man offenbar die Nuntiaturberichte des. 16 Jahr:
hundert3, denn um ihre Veröffentlichung ftritten jich alsbald Die
beiden eigens für die Ausbeutung der vatikaniſchen Archive errichteten
hiftorischen Institute in Rom, das djterreichifche und das preußifche,
bis fie Schließlich unter einander und mit einem ihnen beiden
zuvorgefommenen Privatinftitut, der Görres- Gefellichaft, ſchiedlich
friedlich fich derart in die Beute theilten, daß dem preußiichen
Institut die Nuntiaturberichte aus den Jahren 1533 bis 59 und
dann wieder die von 1572 bis 85 zufielen, die zwiſchenliegende
und die nachfolgende Zeit aber den beiden Rivalen.
Die Sahre 1572 bis 85, das iſt die Berichte der Nuntien
des Pontifikats Gregor's XIII., übernahm zunächſt Dr. Joſeph
Hanſen, damals Aſſiſtent am preußiſchen Inſtitut, jetzt Stadt⸗
archivar zu Köln, und förderte, ein ungewöhnlich raſcher und
gewandter Arbeiter, das Werk ſo, daß heute, nach etwa fünf
Jahren, bereits zwei ſtarke Bände gedruckt vorliegen.!)
Als Hanſen feine Arbeit begann, trat er mit mir in Ver—⸗
bindung. Da meine Gejchichte des Kölnischen Krieges jo breit
angelegt ift, daß nahezu die ganze Geichichte der Gegenreformation
auf deutichem Boden mit ihr verwebt erjcheint, mußte ich natür:
li auch die Stellung der römischen Kurie und ihrer Vertreter,
der Nuntien, fortwährend im Auge haben. Gegenfeitige Hand:
reihung auf dem ineinander greifenden Arbeitögebiet lag im
wohlverftandenen beiderjeitigen Intereſſe. Gern erbot ich mid)
deshalb, Herrn Dr. Hanjen mit jeder nur möglichen Auskunft
zu unterftügen. Er jeinerjeit3 fam meinem Wunſche entgegen,
indem er die auf den Kölnischen Krieg unmittelbar fich beziehenden
Ntuntiaturberichte zuerjt herausgab, andere lofer damit zuſammen⸗
hängende aber einem zweiten Bande zutheilte.?)
ı) Nuntiaturberihte aus Deutfchland. III. Abthlg. 1572 — 16885.
1. Band: Der Kampf um Köln 1576—1584. 2. Band: Der Reichstag zu
Regensburg 1576, der Bazififationstag zu Köln 1579, der Reichstag zu
Augsburg 1582. Im Auftrage des fgl. preuß. biftorifchen Inſtituts in Rom
bearbeitet von Joſephh Hanfen. Berlin, U. Bath. 1892 und 189. Bd. 1
LXVI u. 802 ©., Bd. 2 XCIUI u. 679 ©.
”) Auf diefe Vereinbarung bezieht ſich folgende Bemerkung in dem vor⸗
Hin erwähnten Vorwort v. Sybel’8: „Auf eine von Außen gelommene An⸗
4 M. Loſſen,
noch die laufenden Berichte der Nuntien am faijerlichen Hof,
Sohann Delfino, Bartholomäus Porzia und Horatio Malafpina,
dann die Schreiben der vorübergehend im Reiche thätigen päpjt-
lihen Kommiffare und Nuntien, Felician Ninguarda, Kafpar
Sropper, Nikolaus Elgard, der Veröffentlicdung harren. Selbft
dem jpezielliten Spezialiften dürfte, fürchte ich, damit des Guten
zu viel werden. Mir jcheint, man müßte von vorne herein einen
Hauptunterfchied - machen: nur da, wo die Berichte der Nuntien
gleichfam der Niederichlag eigener jelbftändiger Thätigkeit find —
wie dies in der That bei den von Hanfen veröffentlichten großen-
theild der Fall ift — mag vollitändiger Abdrud am Plage fein;
wo aber der Nuntius nur Berichterftatter über fremde Ereigniffe,
mit anderen Worten Heitungsfchreiber ift, wird in der Negel ein
furze8 Excerpt genügen.
Ein weiteres Bedenken von allgemeiner Art drängt fich auf,
welches auch für die von Hanjen publizirten Berichte gilt: Die
während des Kampfes um Köln von Rom entjendeten Nuntien
find zwar in der That, wie Hanfen im Vorwort ded 1. Bandes
bhervorhebt, „nicht mehr oder minder unbetheiligte Zuſchauer“,
Sondern mithandelnde Perjonen, — aber jie find nicht, und
das hat Hanfen infolge einfeitiger Archivbenugung verfannt, Die
Hauptperjonen. Hanſen's Meinung (1, LXIV), „der Erfolg der
katholiſchen Rejtauration in Köln ſei — darüber geftatteten Die
vorliegenden Akten feinen Zweifel — in erjter Linie der Initiative
der päpitlichen Regierung zuzufchreiben“, ift und bleibt, troß
den von ihm benugten Akten, ein Grundirrtfum. Hätte Hanjen
die Alten des Kölner Domfapiteld, die des Haufe Baiern
und des Eaijerlichen Hofes ebenjo genau gefannt, wie die päpft-
lihen, fo hätte er ein jolches Urtheil nimmermehr fällen können.
Er hätte ſich dann überzeugt, daß die römijch-fatholiiche Mehr:
heit des Domkapitels, fowie einzelne mit Gebhard Truchjek per:
ſönlich verfeindete Domherren, wie der Chorbifchof Herzog Friedrich
von Sachſen, weiter Graf Salentin von Iſenburg, endlich jelbit
die faiferlichen Kommifjare mindeſtens ebenfoviel gethan haben, um
dem Herzog Ernit von Baiern und damit der fatholifchen Res
jtauration im Erzitift Köln den Weg zu bahnen, als die Send»
6 M. Lofien,
Papſt, ſowohl in feinem Privatleben, wie in der Verwaltung der
römischen Kirche, der geiltigen Leitung des Sejuitenordend. Mit
den Jeſuiten erfannte er, daß es fein wirffameres Mittel der
fatholifchen Reftauration gab, als .die Verflechtung der politijchen
und zamilien» Sntereffen der weltlichen Machthaber mit den
kirchlichen Zweden der römischen Kurie. Der geeignetite Weg,
eine jolche Intereſſengemeinſchaft anzufnüpfen und immer feſter
zu jchürzen, war die Ausjendung von PVertrauendmännern der
Kurie, die fi) mit jenen Machthabern nah dem Grundſatz der
do ut des-Politik zu verftändigen Hatten.
Des Gegenjates feiner Politik gegen die feines Vorgängers, des
ftarren und fanatischen Mönches Pius’ V., war ſich Gregor XIII.
wohl bewußt. Kurz nad) feiner Thronbejteigung fchrieb fein
Staatsjefretär, der Kardinal von Como, an den Nuntius in
Wien: „Wir wollen hoffen, wenn die Leute fich überzeugen, daß
Se. Heiligkeit der Papjt der gemeinfame, gegen Alle liebevolle
Bater fein muß, wie er das in Wirklichkeit fein wird, fie dann
vielleiht auch einen andern Weg einjchlagen, als unter feinem
Vorgänger, gegen den ein gewiſſes Mißtrauen beitand.“ !)
In der Inftruftion für den im Jahre 1576 auf den Reich
tag nach Regensburg gefandten Kardinal Morone wird diejer
aufgefordert, bei Gelegenheit auch) mit nichtfatholifchen Fürſten
und Anderen zu verhandeln, um fie zu gewinnen, und „jie dabei
mit weicher Hand anzufafjen, da die Diener der früheren Päpite
vielleicht mit einer, in Anbetracht der Zeiten allzu großen Schärie
vorgegangen find“. (Hanfen 2, 25.)
Bergleicht man Gregor XIII. mit feinem Vorgänger Pius V.,
jo wird man manchmal unwillfürlich an den Gegenjag erinnert,
wie er zwilchen der Art Leo's XIII. und der des neunten Pius
beſteht. Che venga, non c’& piü Pio nono, fol Leo XIII.
gejagt haben, als er einen Vertrauten beauftragte, zu Döllinger
zu gehen, um ihn der römiſchen Kirche wiederzugewinnen.
Ein vorzügliches Werkzeug jeiner in der Regel vorfichtigen,
nit den Mächtigen der Welt Fühlung fuchenden Politik hatte
1) W. E Schwarz, Briefe und Akten zur Geſchichte Marimilian’® II.
Zweiter Theil. ©. VIf.
a M. Lofien,
Kongregation, zu deren Gliedern die angejehenjten, zugleich mit
den deutfchen Dingen am beiten vertrauten Kardinäle, — neben
dem Staatsjelretär jelbft ein Morone, Alerander Farneſe, Proſper
Santa Croce, Madruzzo, Stanislaus Hofius, Commendone und
einige andere ernannt wurden. Die intereffanten Protofolle diejer
Kongregation aus den Jahren 1573—78 Hat W. E. Schwarz
im zweiten Theil feiner Briefe und Akten zur Geſchichte Maris
milian’s II., Paderborn 1891, veröffentlicht. Leider find Die
Wrotofolle aus den jpäteren Sahren bisher noch nicht wieder
aninefunden worden. !)
Die Reihe der von Hanjen veröffentlichten Nuntiaturberichte
beginnt, größtentheild im 2. Band, mit den Briefen des Kardinals
Aohann Morone, nad) Ranfe „des geichicteften kirchlichen Diplo-
maten, der je gelebt hat,” vom Regensburger Reichstag des
Jahres 1576.
Morone hatte hauptfächlich die Aufgabe, zu verhüten, daß
Kuifer Maximilian auf diejem Reichstag den Proteftanten weitere
Augeftändniffe mache und namentlich die Freiftellung, ſpeziell die
Sulaffung von proteftantijchen Fürſten und Herren zu den Hoch-
itiftern, nicht bewillige.*) Über die Art, wie mit Morone's Hilfe,
aumeiſt freilich durch die Entjchiedenheit zuerjt des Kurfürften
Sulentin von Köln, dann des Herzoge Albrecht von Baiern,
dieſes Biel erreicht wurde, bringen Morone’3 Berichte im Großen
und Ganzen zwar faum weſentlich Neues, im Einzelnen aber
manchen unjern Einblid in die Vorgänge vertiefenden oder
die Anfchauung belebenden Zug. So, wenn Morone empfiehlt,
) Dieje PBublifation von Schwarz enthält außerdem eine ebenfalls
manches Belehrende bietende Sammlung von Gutachten aus den Jahren
1673 bis 76 — die meijten aus Deutichland jelbft ſtammend — Über die Lage
der katholiſchen Kirche in Deutichland, ſowie über die geeigneten Mittel zur
Seritellung der verfallenen Kirchenzucht und der vielfach faft verſchwundenen
Autorität des römiihen Stuhles. Zur Erläuterung diefer Gutachten, ſowie der
oben erwähnten Prototolle Hätte Schwarz, mitunter etwas mehr thun dürfen.
N Hanjen bezeichnet einigemale mißverjtändlic) die „Brafen und Herren“
ald den „Heinen“ oder „niedern“ Adel (1, XLVI und 2, LXXIV); nur
den landſäſſigen Adel und allenjall® die Reichöritter darf man fo nennen.
10 M. Loſſen,
ſehen. Das Verſprechen, Fein Lehenzindult — auch nicht für
furze Zeit — zu verleihen, hätte der Kaiſer gar nicht geben,
jedenfalls nicht halten fünnen, ohne die Regierung in den geiltlichen
Fürſtenthümern in Zerrüttung zu bringen. Daß aber Morone’s
Berichte aus Negensburg über die von mir angenommene Zus
fage Rudolf's nichts enthalten, beweift nichts, da Morone, bei Er⸗
wähnung feines Gejpräch® mit dem jungen König vom 10. Oftober
(O. 2, 171) ausdrüdlich bemerkt, er wolle darüber dem Staatd-
fefvetär fpäter mündlich berichten. *)
Die Gründe, welche ich früher dafür angeführt habe, daß
König Rudolf die erwähnte Zujage in der That gegeben hat, be»
balten aljo bis zu wirklicher Widerlegung ihr volles Gewicht.
Won den Berichten des Grafen Bartholomäus Porzia, der
vom Sommer 1573 bis zu feinem im Augujt 1578 zu Prag er-
folgten Tode ald Nuntius im deutjchen Reiche verweilte, jind von
Saufen im 1. Band nur die auf die Kölner Biſchofswahl des
Jahres 1577 bezüglichen abgedrudt. Die Berichte über feine
von 1573 bi8 Ende 1576 reichende jtändige Nuntiatur in Ober-
deutfchland find einer weiteren, durch Dr. Schellhaß zu bes
arbeitenden Publikation des preußifchen Hiltorischen Inſtituts vor⸗
behalten. Ich warte dieje Publikation, fowie die von Schwarz ver
Iprochene der Nuntiaturberichte des Kajpar Gropper ab, um auf
rund von ihnen meine, nicht nur von Unfel und Schwarz, fondern
auch von Hanſen jcharf angegriffene Behauptung, Gropper jei
„der erſte ftändige Nuntius in Köln“ gewefen, entweder auf
vecht zu halten oder als irrig zurüdzunehmen. Daß der von
Unkel aufgeftellte Unterſchied zwiſchen einem ordentlichen und
einem augerordentlichen Nuntius — daß nämlich jener die juris-
dietio ordinaria, Ddiejer nur eine jurisdictio delegata befige —
falich ift, Hat Hanien dargethan und jeinerjeitS behauptet, der
1) Jo trattai col re de Romani tutte le cose sustanziali deila
religione, della lega e di Polonia..., et li diedi molti amorevoli et
cattolici ricordi, i quali con grandissima humanitä et religione furno
accettati dalla Mtü. S. et con prudenti discorsi in risposta, come dird
poi a bocca.
14 M. Lojien,
Ludwig Madruzzo, defjen Berichte wieder größtentheils im zweiten
Bande, ſtückweiſe jedoch — ſoweit fie nämlich Auf den Abfall des
Gebhard Truchjeß von ber römiichen Kirche fich beziehen — ſchon
in Band 1 abgedrudt find. Madruzzo, von Geburt ein halber
Deuticher, nämlich Welfchtiroler, ſodann als Biſchof von Trient
jelbft deuticher Reichsfürſt, fennt die deutichen Verhältniffe genau;
er ift auch der einzige von diefen Vertretern der Kurie, welcher
deutfch nicht nur verftand, fondern auch ſprach und fchrieb,
wenn auch ungern und wohl mangelhaft (vgl.. H. 2, 3781).
Hanfen hatte jämmtlicye Briefe Madruzzo's vor dem Drud
mir freundjchaftlichit zur Verwendung überlafjfen, jo daß ich für
meine afademifche Abhandlung über den „Magdeburger Seſſions⸗
ſtreit“ (München 1893) ausgiebigen Gebrauch von ihnen machen
fonnte. Es ergab fich daraus, was auch von Hanjen wiederholt
hervorgehoben wird, daß die fatholifche Reſtaurationsidee im Laufe
weniger Jahre große Fortichritte auf deutichem Boden gemacht
hatte. Während Kardinal Morone im Jahre 1576 noch zufrieden
war, wenn er in den Reichdangelegenheiten den Status quo ante
aufrecht erhalten fonnte, ergriff Madruzzo ungejcheut die Offenfive,
um außer Gebrauch gefommene Rechte der römischen Kirche wieder:
herzustellen. Nicht nur, indem er, wie von mir dargethan, den
protitantifchen Inhabern geistlicher Fürftenthümer die Reichsftand-
Ichaft abjtritt, jondern auch, indem er den Kaifer drängte, ohne
Rückſicht auf die proteftantiichen Stände, zur Publikation des
gregorianischen Stalenders zu fchreiten, weiter, indem er Rudolf LI.
zu überreden juchte, ſich vom Papſt zum römijchen Kaiſer frönen
zu laflen. Biel böjes Blut bei den Augsburger Stonfellions«
verwandten machte auch, daß Madruzzo jelbit während des Neiche-
tags zu Augsburg den Trierer Kurfürſten zum Bifchof weihte,
und mehr noch, daB er dort auf Betreiben der Sejuiten, den
Proteftanten gleihjam zum Trotz, einen päpftlichen Ablaß ver
fündete (9. 2, 504 f.).
Am gewictigiten, jowohl durch den Umfang wie durch die
Neuheit des Dlitgetheilten, find in den beiden Hanjen’schen Bänden
die den zweiten Kampf um das Erzitift Köln, in den Sahren
1582 und 1583, betreffenden Briefe und fonftigen Akten.
16 M. Loſſen,
dem letzten Drittel des 16. Jahrhunderts die deutſchen Verhält-
niſſe wohl am beiten kannte und uns die ſchätzenswertheſten Aufs
zeichnungen über diejelben hHinterlaffen hat“; jedoch tritt ein
gerwichtiger Umftand bei Hanfen nicht genug hervor, der nämlich,
daß Minucct ſich mehr als Vertreter des Hauſes Baiern, denn
des römischen Stuhles fühlt. Wie er von Anfang an vor allem
darauf bedacht erjcheint, die Wahl des Herzogs Ernſt zu jichern
und deffen Intereſſen zu wahren, jo läßt er fich ſeinerſeits meiſtens
von den baierifchen Räthen, namentlid) von Hans Jakob von
Dandorf und dem mit diefem enge ‚verbundenen jungen Nieder-
länder Barvitius, berathen. WBielfach erfcheinen deshalb die bei
Hanfen gedrudten Berichte des Minucci an den Kardinal von
Como fast wie italienische Überfegungen der von mir aus den
Münchener Archiven ercerpirten Briefe, welche Barvitius, Dan-
dorf, Paul Stor an Herzog Wilhelm von Baiern oder deſſen
Näthe gerichtet haben.
War Minucci zunächft Vertreter der baieriichen Interefjen,
jo Kardinal Andreas der feiner eigenen. Nur auf das Drängen
des Erzherzogd Ferdinand Hatte ihn der Papit als Kardinal-
legaten nad) Köln abgeordnet. Der Erzherzog hoffte, jein Sohn
werde damit fich jelbit den Weg zum Erzitift Köln bahnen, oder
wenigſtens von Herzog Ernſt die Abtretung des Hochſtifts Lüttich
erlangen. Indem Pfalzgraf Johann Cafimir die Weiterreife des
Kardinal über Speier hinaus vereitelte, förderte er mittelbar
‘mehr die Nachfolge jeines feindlichen Vetters, des Herzogs Ernit,
al3 er den römiichen Plänen Schaden zufügte.
Der Auditor der Rota Orano, ein geborener Lütticher, hat
nur in den erjten Stadien des Kampfes um Köln eine gewifle
jelbftändige Bedeutung, da es ihm gelang, den widerftrebenden
Herzog Ernſt zu bewegen, feine Reife nach Köln zu beichleunigen.
Sehr eifrig in Betreibung der Wahl des Herzogs Emit
erwied fich der zuerjt dem Kardinallegaten Andreas beigegebene,
dann von dieſem nad) Köln vorausgefandte Nuntius am Hofe des
Erzherzog Karl von Steiermark, Germanico Malajpina; doc) fand
feine Geſchäftigkeit nicht jederzeit den Beifall feines eiferfüchtigen
Kollegen Bonomi. Auch Minucci rügt mit Recht die ungeſchickte
18 M. Lofien, Römiſche Nuntiaturberichte zc.
eine® Gegners der fölnifchen Nuntiatur im vorigen Jahrhundert,
Bonomi jei post festum nad) Köln gefommen, nicht ganz un⸗
rihtig. Jedenfalls aber hat Bonomi dad Seine dazu beigetragen,
daß fich der Kampf um die Treiftellung vom Erzitift Köln in
das Stift Straßburg fortpflanzte.
Sol ih zum Schluß noch ein Wort jagen über die Art,
wie Hanfen feine Editoraufgabe gelöjt hat, jo fann ich dieſe im
allgemeinen nur loben. Die Texte find, auf jchönem Papier und
in fchöner Schrift, durchweg fehlerfrei gedrudt, nur die Inter:
punftion dürfte etwas gleichmäßiger jein. Auf den im 1. Band
gemachten, aber mißlungenen Berluch, die urjprünglichen Accente
der italienischen Vorlage beizubehalten, hat Hanjen im 2. Band
zu gunſten einer gleichartigen, annähernd modernen Accentuirung
verjtändigertweife verzichtet. Das Perjonen- und Ortsregiſter zu
jedem der beiden Bände jcheint forgfältig gearbeitet. Einleitung,
Vorbemerkungen und Noten unter dem Tert erläutern Perjonen
und Verhältnijje joweit als erforderlich und unter vielfachem
Hinweis auf neuere und ältere Literatur. Einzelne Heine Irr⸗
thümer hier zu berichtigen, hätte faum Werth; Gelegenheit dazu
wird der, hoffentlich in längſtens zwei Jahren zu erwartende
Schlußband meiner Geichichte des Kölnischen Krieges darbieten.
20 ©. Kraußte,
Individualität meift mit peinlicher Sorgfalt zurüdgehalten oder
vielmehr nach dem großen franzöfischen Schema gemodelt. Die
Ideen und die Sprache Frankreich herrichten in faft allen
deutfchen Kreifen, die auf Bildung Anſpruch machten, fo jouverän,
daß ein Nefugie naiv fragen fonnte, ob die preußifche Königin
Sophie Charlotte überhaupt deutich verftünde.
Der Sohn diejer Fürſtin und des prunfliebenden, ceremonidjen
Friedrich war Friedrich Wilhelm I. Vom Königöglanze und gar
von irdifcher Gottähnlichkeit mochte Der nichts wiſſen. Müßte
er durchaus ein Gott fein, fchrieb er feiner Großmutter, fo könnte
er ficherli” nur ein ganz Heiner Grasgott fein. Mit gelindem
Schauer berichtete ein Bfterreichifcher Gejandter, der furz nad
Friedrich Wilhelm’8 Thronbefteigung Berlin bejuchte, von der
ſpartaniſchen Einfachheit des jungen Königs; wie er in den
Häufern der Handwerfer ein- und ausginge und überhaupt jo
ganz eigen wäre und Dinge thäte, die man von anderen Potentaten
nicht hören würde. Im UÜberichwange jeiner Urfraft und feines
grobförnigen Humors verlegte Friedrid Wilhelm häufig ge
fliffentlich die Formen und ergoß ungerechten Spott über das
„Petit-Maitre-®ejen“ der Gebildeten. Seine Kernworte, das
einzige, was er verſchwenderiſch an Hoch und Niedrig austheilte,
wurden mit gelittetem Eifer alg Pröbchen des bildungsfeindlichen
Potsdamer Wachtſtubentones verbreitet und jeine übergroße Bor
liebe für das Heer in grellen Farben geſchildert.
Das Verſtändnis für die Entwidlung Diejes eigenartigen
Charakters ift erjt fpät aufgegangen. Lange galt die Meinung,
Friedrich Wilhelm hätte jich ganz unter dem übermächtigen Ein-
fluffe Leopold’3 von Anhalt- Dejfau gebildet, der jchon bei Leb—
zeiten zu einer mythiſchen Perjon mit den Zügen des alten
Bauerngotted® Donar geworden war, und hätte fi) wohl gar
gegen befjere Einficht dem herriichen Willen des Fürſten gebeugt.
Heute weiß Jedermann, wie frei feine Natur aus fich ſelbſt heraus«
gewachien ift. Nur über den Grad des Einfluffes, den Leopold
auf die Negententhätigfeit Friedrich Wilhelm's gehabt hat, fann
noch geitritten werden. Während die einen in Leopold das Bor
bild des König auf militäriichem und adminiftrativem Gebiete
22 i O. Krauske,
Es darf vielleicht bemerkt werden, daß der erſte ganz eigen⸗
händige Brief des Kronprinzen an den Fürſten aus dem Jahre 1710
ſtammt. Damit begann recht eigentlich die hier als Hauptquelle
benutzte Korreſpondenz ), merkwürdig, trotz aller Hunde-, Jagd⸗
und Soldatengeſchichten, durch ihren Ton und ihre Gedanken⸗
fülle in einer ungefügen, aber belebten Sprache; merkwürdig auch
durch die entſetzliche Handſchrift: beide Herren vermochten ſelbſt
ihre vertrauteſten Mittheilungen nur in den Kopieen ihrer Sekretäre
zu leſen.
Leider ſind nur wenige intime Briefe Leopold's erhalten.
Dem Range und wohl auch dem Charakter des Schreibers ge
mäß, find fie weniger urjprünglich und frei von fonventionellen
Gedanken und Redewendungen, ald die unbefangenen Herzens
ergüfje jeines königlichen Freundes. Hier verbarg Friedrich
Wilhelm nicht feine Gefühle unter der rauhen Außenfeite, wie
er Anderen gegenüber pflegte; fogar eine gewifje Sentimentalität
bricht öfters durch.
Das militärische Intereſſe hatte ihre Freundſchaft vermittelt;
bald wurden auch die häuslichen und politifchen Berhältniffe in
ihre vertraulichen Erörterungen bineingezogen. Als der Sron-
prinz damit umging, das landverderbende Dreigrafenminiiterium
zu jtürzen, forderte er im tiefiten Geheimnis die Meinung des
Fürſten. Diejer warnte ihn vor dem Schritte, und jein Rath
hatte Berechtigung, obwohl er nicht ganz uneigennüßig war;
denn der Kluge hatte verftanden, neben feinen Beziehungen zu
dem Kronprinzen auch mit defjen Antipoden Wartenberg einen
näheren Verkehr zu unterhalten. Friedrich Wilhelm durfte fich
nicht lange feined® Siege über Wartenberg und Wittgenitein
freuen, dann ſtand er fait noch ijolirter als vorher da: bald
würde er gar nichts mehr zu jagen haben, Elagte er dem Fürften,
der eigene Vater beargwohne ihn als Verräther. Was er aber
noch an Einfluß befaß, bot er auf, um dem Freunde zum ers
jehnten Feldmarſchallſtabe zu verhelfen. Er verſprach fich zwar
ı) Die Korrefpondenz Friedrich Wilhelm’s mit Leopold wird im Laufe
diejed Jahres als Beiband der Acta Borussica ericheinen.
Hriedri Wilhelm I. und Leopold von Anhalt-Deffau. 25
Natur geworden. Doch joweit er Freundſchaft empfinden konnte,
bat er fie dem Könige dargebradht. Er ift ihm volle Wahrheit,
wenn er feine Bereitwilligfeit betheuert, jeden Blutstropfen für
ihn zu vergießen.
Unleugbar gab aber Friedrich Wilhelm mehr Freundſchaft,
als er empfing. Sein Lebenlang hat er für den Fürſten gebetet
und feine Familie beihügt und gefördert. Um Leopold's willen
trogte er auch dem Zorne des Kaiſers. Sogar das feinem
Herzen ſchwerſte Opfer brachte er mehrmals dem ‘Freunde, indem
er ihm beträchtliche Summen vorſchoß. „Sie willen, daß ich
nicht gerne Geld leihe,“ jchrieb er dann wohl, „aber zu bes
weilen die Lieb und Eftime, die ich vor Em. Xiebden babe,
it genug, daß ich Alles bergebe, einen folchen treuen Freund in
der Noth zu afliltiren, Procente will ich nit, und wegen der
Sicherheit ift Ihre Parol genug.“
Mit Bewunderung ſah er zu Leopold als dem erfahrenjten
General und dem vollendeten Weidmann empor. Dem ruhms>
gefrönten Marſchall gegenüber fühlte er fich jtetS etwas ala
Obriſt des Leibregiments: alljährlich führte er ihm feine langen
Leute vor, wenn fie ausexerzirt waren, und nach dem alten
Herfommen, das dem General das Beithaupt von den Pferden
eines geftorbenen Obriften zumies, ſchenkte er an feinem Todes
tage dem Fürſten ein aufgezäumtes Rob. Wie jehr entſchuldigt
er ji, als er, „leider ein Ignorant, der das Ding nicht ver
jtehet“, Leopold Rathſchläge zur Überrumplung von Mörs er
theilt. So wie der ;zürjt Alles anordnete, fand der König es
am beiten; dejien Regiment nennt er ehrend „mit die Norm der
Infanterie“. Über feine militäriiche Angelegenheit, war es die
Berbeilerung der Patronenhüljen, war es ein Kriegsplan, ent
ſchied er endgültig, bevor er das Urtheil des Feldherrn ein⸗
geholt hatte, „der wohl lehren, aber nichts mehr lernen konnte”.
Das friide Selbjtvertrauen, mit dem Friedrich auf jeinem eriten
Teldzuge den alten Deſſauer abjihtlih vom Schauplatze fern⸗
hielt, um der Welt zu zeigen, daB er aud ohne Hofmetiter zu
jiegen wũßte, jehlte dem Königa Triedrich Wilhelm ganz und gar:
niemals wäre er, # “en Kampf
26 D. Kraußfe,
gezogen, denn nirgends in der Welt fönnte er einen befferen
General finden.
Mit einem Eugen oder Marlborough dürfte man dennoch
den Fürſten kaum vergleihen. Aber ein Theil der erſten Lor-
beeren Friedrich's gebührt „dem alten Schnurrbart“. Durch das
Schnellfeuer, die weniger maſſige Truppenaufſtellung, durch den
Gleichſchritt — alles Veränderungen, die auf Leopold zurück⸗
gehen — und durch die eiferne Disziplin wurde die preußifche
Infanterie das Mufter für alle europäifchen Heere und zu einer
Macht, von der der Fürft ſelbſt rühmte, „daß fie Freund und
Feind, und die letzteren mit Zittern, admiriren müſſen und vor
ein Wunderwerk der Welt mit anſehen“. Welcher Triumph, als
auch der Altmeiſter Eugen, der jo oft die Potsdamer Soldaten-
ſpielerei verjpottet batte, den Fföniglichen Truppen feine Ans
erfennung zollte, und als der preußifche Ererzierteufel noch ärger
in die Raiferlichen fuhr.
War es überhaupt mit der preußiichen Exerzierfünftelei jo
Ihlimm, wie fie verfchrieen ift? Ein Senner rühmt gerade
die verhältnismäßige Einfachheit der Reglement und die faft
modernen Anschauungen im Vergleich zu den fchwerjälligen Bes
megungen der anderen Armeen. Das Außerliche wurde allerdings
in Preußen mit der zopfigiten Pedanterie behandelt. Niemals
hätte fich wohl der König und Leopold wenigftens nicht in feinem
Alter ähnlich vernehmen laſſen, wie Friedrich vor Zorndorf, als
er Dohna's fchmude Soldaten mit feinen eigenen verglich, die
wie Grasteufel ausjähen, aber bifjen.
Auch der Vorwurf, daß der Deſſauer die Kavallerie voll-
ſtändig vernadjläffigt hätte, schießt über das Biel hinaus.
Neigung, Talent und die eigenen Erfahrungen verwiefen ihn zwar
auf die Infanterie; doch er iſt ed gewejen, der trog Friedrich
Wilhelm’3 wiederholten Bedenken die Verdoppelung der preußifchen
Schwadronen durchgeiegt hat.
Welcher Zweig des Kriegsweſens wäre ihm überhaupt ganz
fremd geweſen? Selbſt denjenigen Waffengattungen, für die es
ibm an der wijjenjchaftlichen Vorbildung gebrach, hat er mit
großartiger Empirie Direktiven gegeben. Seine Abhandlung über
28 D. Krausle,
plägen von Potsdam und Deffau find ihnen Standbilder errichtet
worden. Hätten fie ſich wirklich nur militärisch bethätigt, fo
dürften fie vielleicht nicht zum Gegenstand ciner allgemein
geichichtlichen Betrachtung gewählt werden. Aber wer gedenft
nicht der unfterblicden Verdienste Friedrich Wilhelm's um den
Ausbau unſeres Staates, feiner entjagungspollen Arbeit für jein
Land? Die einjeitige Bezeichnung „Soldatenkönig” ift durch den
zwar wenig jchönen, aber den Kern treffenden Chrennamen
„Preußens größter innerer König“ verdrängt worden.
Unter den Gcehülfen Friedrich Wilhelm's bei den inneren
Reformen nimmt Leopold cine chrenvolle Stellung ein. Er war
feine jo ausfchlichlich foldatische Natur, wie etwa Blücher, dem
die Künfte der Diplomatie cbenjo freind waren, wie das Geheim—
nis geordneter Wirthichaftsführung. Nächſt den Truppen waren
die Thaler jeine beiten Freunde. Im Getümmel des Feldzuges ver:
gaß er feiner Güter nicht; auf feinen Kriegsfahrten ftudirte er die
Kulturen der Länder, aus den Niederlanden brachte er die Kennt—
nis des Deichbaues, aus dem Süden die Obftzudt und Die
Sartenbaufunft nah Defjau mit. Seine Haushaltung gedieh faft
wunderbar: 1701 Hatte er bei 300000 Thaler Schulden nur
24000 Thaler Sahreseintommen ; zwei Sahrzehnte Später betrugen
feine Einkünfte, Dank dem göttlichen Beiftande, jo drückt er ſich
aus, feiner eigenen Induſtrie, faſt täglichen Applikation und Ans»
ordnung, über 200000 Thaler.
Das eigene Heine Land genügte jeiner Thatenluft nicht. ALS
Gouverneur von Magdeburg und Chef des Regiments in Halle
rühlte er fid) berufen, aud) an der Regierung des Herzogthums
Theil zu nehmen. Friedrich Wilhelm ließ ihm gerne dabei freie
Hand; Tiebte er es doch, Offiziere als Kontrollbeamte jeinen
Bivilbehdrden zur Seite zu ftellen und von ihnen über die Thätig-
feit der Kammern unterrichtet zu werden. Die Magdeburger
Kollegien hatten manches von der barjchen und, wo ein perſön⸗
liches oder militärisches Intereſſe in’3 Spiel fam, parteiifchen Art
des Fürſten auszujtchen; im ganzen war aber feine Wirkſamkeit
durchaus nützlich. Auf feinen Betrieb wurden Sümpfe und Seen
in Ackerland verwandelt, Gräben gezogen, die Induftrie gefördert,
30 O. Krauske,
Pfennig mehr in jenes unergründliche Meer des Retabliſſements
zu werfen, das ihn zum Schimpf und Gelächter der ganzen Welt
gemacht hätte. Der Erfolg krönte endlich die Arbeit. In ſeiner
ſchlichten Art, die merkwürdig von den ſchwungvollen Worten
Friedrich's über die Verdienſte ſeines Vaters um Preußen abſticht,
äußerte ſich Friedrich Wilhelm 1737 über das Erreichte: „Ich
muß Ew. Liebden ſagen, daß in Litthauen alles recht gut gehet.
Ich kann verſichern, daß keine Bredouille wieder wird kommen
und alles im Stande kommen, ſo wie die anderen Kammern.“
Die Wirkſamkeit Leopold's iſt damit noch nicht abgeſchloſſen:
auch auf die Behördenorganiſation hat er Einfluß gehabt. Der
bedeutende Plan, die zwieſpältige Finanzverwaltung Preußens
durch die Gründung des Generaldirektoriums und der Kriegs
und Domänenfammern zu vereinigen, ſoll jogar urſprünglich jein
Eigentum gewejen und vom Könige nur übernommen worden
jein. Dieje Bermuthung geht aber doch wohl zu weit. Friedrich
Wilhelm Hat öfters ausdrücklich und feierlich verjicdert, daß
er, ohne Rath) dazu von irgend jemand empfangen zu haben,
allein mit dem Beiftande des Höchiten diefen Neformgedanfen
gefaßt hätte. Überdem hatte er ſchon vor 1722 mehrmals aus
eigener Initiative eine gewiſſe Kombination der beiden feindlichen
Behörden in einigen Provinzen bergejtellt, indem er ihnen einen
gemeinschaftlicden Präfidenten jegte oder gemeinjame dauernde
Kommilfionen aus hohen Sammers und Kommifjariatsbeamten
errichtete. Mit Beitimmtheit kann nur gejagt werden, daß der
König allein Qeopold von feinem Vorhaben unterrichtet und deffen
„Raiſonnements“ über die Geftaltung der neuen Centralbehörden
überdacht bat.
Die Nachricht aber, die damals in Berlin verbreitet war,
der Fürſt wäre zum Chef jämmtlicher Oberfollegien auserjehen
gewejen, darf jo gut wie ficher als leeres Gerücht zurückgewieſen
werden. Sollte Friedrich Wilhelm, der die Erfahrungen feines
Vaters mit einem Premierminiſter in jo bitterer Erinnerung hatte,
der auch jeinen Bertrauteiten gegenüber „Herr und König“ fein
wollte, daran gedacht haben, eine Inſtanz zwilchen ſich und
feinen Oberbehörden einzujchieben? Dann hätte er auf das Amt
83 D. Krauske,
Anſchluß an Frankreich empfohlen; als aber daS Gegentheil bes
ichloffen wurde, jehnte er inbrünftig einen großen Krieg mit den
Franzoſen herbei, - um im Kampfe gegen fie neue Lorbeeren zu
jammeln. Er bat wohl, wie auch andere Generale, bei wichtigen
Gelegenheiten ein politifches Gutachten abgeben müſſen, die Ent-
iheidung behielt jich aber der König allein bevor.
Freilich, wer kann ermefjen, welchen Einfluß der bejtändige
vertraute Umgang auf den feimenden Gedanken ausübt, ob nicht
die Bahn, die der Fuß jcheinbar freiwillig betritt, uns unbewußt
ihon von anderen vorgezeichnet worden ift? Aber auch Diele
geheimnisvolle Wechjelwirfung bat bei feiten Geiſtern ihre
Scranfen: jie fann jich in voller Kraft nur bethätigen, wo das
gemeinfame Streben zu demjelben Ziele aus der gleichen fittlichen
Wurzel hervorwächſt. War died bei dem ?Freundespaare der
Tal? In der Auffafjung ihres Verhältniffes zu Gott gingen
jie doch weit auseinander.
Friedrich Wilhelm ſah, wie der erjte Hohenzollerjche Kurfürft,
in der Herrichaft ein von Gott verliehene® Amt. Für alle feine
Thaten, ja für alles, was in feinen Landen geſchah, fühlte er
ih) vor des Höchſten Richterftuhl verantwortlid. Er trug über-
ſchwer an diefer Laſt. Ihm erichien der Weltenlenfer in dem
alttejtamentarischen, puritanijchen Xichte; auch jein Gott war ber
rädhende Sehovah, der die Sünden der Väter an den Slindern
und Kindeskindern heimſucht. Immer wieder befahl er den
Predigern, ihre Zuhörer in der Furcht des Herrn zu unterweijen.
Bon früh an Hatte er fi) in die Betrachtung der göttlichen
Dinge verjenft und fie nach feinem auf die That gerichteten
Sinne ausgelegt. ALS bei Tafel einmal der Begriff der Sünde
wider den heiligen Geiſt erörtert wurde, brach der Zwanzig⸗
jährige in die Worte aus: „Huren, das it die jchlimmite
Sünde!” Auch in den gewöhnlichen VBergnügungen der Vor—⸗
nehmen witterte er des Teufels Fangſtricke. Die Schaufpiele
und Deagferaden verdammte er ald „Xempel des Satanas“;
jelbjt feine lichiten ‘Freuden, im reife frober Zecher zu figen
und dem Weidwerf obzulicgen, waren ihm nicht unverdächtig.
Er hätte wohl Luft zum „jaufen“, äußerte er zu dem jüngeren
84 O. Kraußtfe,
daß die Liebe und nicht die Furcht Gottes der Inhalt unferes
Glaubens fein müßte; eine Prüfung ergab aber, daß dieſes
Scriftjtüd von der Fürftin Anna Luiſe verfaßt und von ihrem
Gemahl nur abgejchrieben worden ift, um einen Prediger zurecht
zuweiſen, der mit deutlichen Seitenbliden nach dem fürftlichen
Kirchenjtuhle den Mangel an Gottesfurdht beflagt Hatte. Der
Begriff der Ehre, nicht die Verantwortlichfeit vor Gott leitete
die Handlungen des Fürften. So hoch Tsriedrih Wilhelm die
Ehre ftellte, er fchäßte fie doch nicht, wie Leopold, „der Selig.
feit gleich”. Dem Könige war das Chriſtenthum ein Herzens
bedürfnis, Leopold ehrte es, damit ihm gleichſam Gott wohl-
gefinnt bliebe, und wegen der Einwirkung auf die Unterthanen.
Sich jelbit behielt er mit den meilten Fürſten feiner Zeit eine
bejondere Moral vor, für welche die Gebote, vorzüglich das
jechste, nicht geichrieben waren.
Mußte nicht dieſe geiftige Verfchiedenheit der beiden Fürſten
durd) ihre weltliche Stellung noch vergrößert werden? Der eine
der König eines waffengewaltigen, vorftrebenden Staates, der
andere ein Kleiner Zerritorialherr. _
Das Defjauifche Land war nicht einmal fo groß wie dad
heutige Fürſtenthum Schwarzburg-Sondershaufen und hatte nur
ein Drittel von deſſen Bevölkerung. Auch die bedeutendften
adminiftrativen Reformen in dieſem winzigen Gebiete hätten
Leopold's Namen faum unſterblich gemacht; nur der Wirkſamkeit
für Preußen verdankt er feinen Ruf. Oft und nicht unberechtigt
iſt dem Fürſten vorgeworfen worden, daß er fich mit allen,
jogar unlauteren Mitteln zum Alleinbeſitzer in feinem Territorium
gemacht Hat; aber man darf darüber nicht vergeſſen, daB damals,
bei jo engen 2erhältnifjen, ein Fürſt, der mehr fein wollte als
der vornehmite Großgrundbefiger feines Ländchens, nur in jolcher
Form zur wahren Herrichaft gelangen konnte. Für die Idee des
Staates war in diejen fleinen mittelalterlichen Gebilden fein Raum.
Auch Preußen gehörte noch nicht zu den Großmächten, aber
jeine hiltoriiche Entwidlung, die weiten Territorien zwijchen der
Memel und Maas, die jehr abweichenden jtaatlichen und wirth—
Ichaftlichen Bedingungen der einzelnen Sande und die Ausfichten
36 O. Kraußte,
Diener an; den Obriſten eines fchlecht befundenen Regiments
Ichalt er, gottlo8 im Dienfte gehandelt zu haben.
Aus diefem Gefühle der gemeinfamen Berantwortlichfeit ent-
jprang aber auch die Pflicht, treue Beamte zu belohnen und
vorzüglih ihnen Schuß gegen Jedermann, ohne Anjehen der
Perſon, zu gewähren. Niemand — das war des Königd Grund
fat vom erjten Tage feiner Regierung an — follte, wie unter
feinem Vater, ungehört verurtheilt werden. Wie oft bielt cr
dem Fürften vor, der mit den Magdeburger Behörden beinahe
immer auf Kriegsfuß jtand, daß die föniglichen Beamten pflicht-
und injtruftionsmäßig gehandelt hätten oder wenigſtens nicht
ohne Unterjuchung zuredhtgewiejen werden fünnten. An jeine
Staatsraifon durfte ihm auch Leopold nicht taften. Als der
Fürſt in einem erbitterten Streite mit Grumbkow den König in
das Dilemma drängen wollte, entiweder den Minijter zu ents
lajien oder mit dem Freunde zu brechen, erklärte ihm Friedrich
Wilhelm, er werde Grumbkow niemal3 wegjagen, darauf liche
er Alles anfommen. „Denn“, fügte er hinzu, „wenn Das follte
angehen, jo würde eins nach dem andern jo fortgejcht werden
und dann endlich die Reihe an mir kommen. Alſo ich meine
Officier und Diener jouteniren muß, woferne ich mir felber
Souteniren will“.
Am meilten gab er dem Fürſten in militäriichen Dingen
nad. Die Dejlauiihen Prinzen wurden jchneller befördert als
die eigenen Söhne des Königs. Dennoch war jelbit auf diejem
Gebiete Leopold's Fürwort nicht ſtark genug, die als gerecht er-
fannte Ordnung zu durchbrechen. Schon ald Kronprinz hatte
ihm Friedrich abgejchlagen, das Avancement eines Generalmajor
zu empfehlen, weil ſonſt jieben ältere zurücdgejett würden. Auch
für. die Prinzen jollte e8 feine anderen Gejege und Rechte geben,
als für die gewöhnlichen Offiziere. Wie merkwürdig tritt übers
haupt bier der Gegenjag zwiſchen TFriedrih Wilhelm und dem
Deijauer in Theorie und Praxis hervor. Während Leopold auf
milde Behandlung der Soldaten drang und dadurch auch im
gemeinen Manne das Ehrgefühl weden wollte, fonnte ſich der
König nicht genug verwundern, daB die hannoveriichen Soldaten
Neue Mittheilungen und Erläuterungen
ya Band 6 und 7 der Geſchichte der Begründung ded Deutſchen Reiches
duch Wilhelm L
Bon
Seinriß v. Spbel.
1. Die Verantmwortlichfeit des Bundeskanzlers.
(Bol. 6, 90.)
Aus der Neichdtagsverhandlung Hatte ſich ſchließlich das
Ergebnis herausgejtellt, daß der Bundezfanzler durch die Gegen»
zeichnung einer Präfidialverordnung nicht eine gerichtlich verfolg-
bare, jondern nur eine moraliiche oder hiſtoriſche Verantwortlich-
keit übernahm. Aber dieje nur moralijche Verantwortlichkeit hatte
jofort ſehr praftiiche Folgen. Der PBerfafjungsentwurf hatte fich
den Bundesfanzler gedacht ald preußiichen Präfidialgejandten zum
Qundesrath, der vom preußiichen Miniſter der auswärtigen An⸗
gelegenheiten jeine Initruftionen zu erhalten hatte, wie vormals
der djterreichiiche Präjidialgejandte zum YBundestage von dem
Staatskanzler in Rien. Seine Öegenzeichnung war gedacht als
Beglaubigung der formellen Berfafjungsmäßigfeit der Anordnungen
des Präſidiums. Mit der auch nur moraliichen Nerantwortlic-
fett des Aundesfanzler® war diefe Auffaſſung unvereinbar, denn
ein nach Injtruftionen handelnder Beamter konnte für den Inhalt
dieſer Injtruftionen nicht verantwortlid; gemacht werden. So
war denn das preußiiche Staatsminiſterium eimtmmig der Ans
Yicht, dab nach dem Beſchluß des Reichstags nur der Mintjter
der auswärtigen Angelegenheiten Bundesfanzler jein fünne. Cine
40 H. v. Sybel,
Bericht ein. Als der Kriegsminifter Generallieutenant v. Hardegg
bievon Kenntnis erhielt, jtellte er Suckow zur Rede, wie er es
wagen fünne, ohne jein Vorwiſſen eine derartige Eingabe dem
König direft vorzulegen, und fragte ihn, wer ihn biezu veranlaßt
babe. Sudomw antwortete ausweichend und nannte erjt, als ihm
der Kriegsminifter mit der Einleitung eines kriegsrechtlichen Ver:
fahrens drohte, die Perſon des Königs.
General v. Hardegg begab ich jofort zum König, wurde
hierüber vorjtellig und bat Se. Majeität, wenn er, wie es den
Anjchein Habe, nicht mehr das Allerhöchjte Vertrauen bejite, um
jeine Enthebuing vom Miniſterpoſten. Der König verjicherte
Hardegg, daß dies in feiner Weiſe zutreffe, und bewog ihn, in
jeiner Stellung zu verbleiben.
ALS Später Hardegg dem König das von ihm bearbeitete
neue Wehrgeſetz vorlegte, ließ legterer hinter dem Rüden des
Ministers diefen Entwurf dur) Sudow begutachten.
Dies veranlaßte Hardegg, nunmehr jeine fchon einmal ge=
jtellte Bitte um Entlaffung beim König zu wiederholen, und
wurde ihm Diejelbe auch gewährt. Die Ordre hatte etwa folgenden
Wortlaut:
„Se. Majeftät der König haben vermöge Allerhöchiter
Entihließung vom ... April 1867 den Striegäminifter und
Senerallieutenant v. Hardegg feiner Bitte gemäß von der
Berwaltung des Kriegsminifteriums gnädigft zu entheben geruht
und in den Ruheſtand verjeßt.“
Sch bemerfe biebei, daß an dv. Hardegg, während er Minijter
war, von dem Damaligen Generaladjutanten Frhrn. v. Spigemberg
das Anfinnen gejtellt wurde, er möchte doch Ießterem von den
dem König zu unterbreitenden Vorjchlägen vorher Kenntnis geben,
damit er Majeftät darüber informiren fünne. Hardegg wies dieſe
Zumuthung auf das Entſchiedenſte jchroff zurüd, da er als
Minijter nur direft mit St. Majejtät zu verfehren gefonnen jet. -
Schließlich möchte ic) noch anfügen, daß, wenn Sudom in
jeinen Memoiren — die ich übrigens nicht kenne — den General
v. Hardegg für die militäriichen Mißerfolge der Württemberger
42 9. v. Sybel,
gewählt und ber Losbruch bei ſterreichs militäriſcher Unfertig-
feit in thörichtem Eifer übereilt worden fei. Bei Elügerem Ber
fahren Frankreich wäre Beuſt ſchon mitgegangen.
Gegen meine, bievon gründlich abweichende, jedoch überall
urkundlich erhärtete Darjtellung, daß Beuſt zur Erhaltung der
Selbftändigfeit Oſterreichs die Fortdauer des Gleichgewichts
zwiichen Preußen und Frankreich gewünſcht und deshalb ſtets
auf Bewahrung des Friedens gearbeitet habe — hiegegen wendet
Herr Rößler zunächſt ein, daß ich die entjprechenden Außerungen
des Grafen Vitzthum von Eckſtädt, eines vertrauten Agenten
Beuft’s, für die zuverläffigite Quelle gehalten habe. Man braucht
nicht zu bezweifeln, jagt er, daß Beuft Solche Äußerungen jelbit
gegen vertraute Agenten gelegentlich hat fallen lafjen. So etwas
ipriht man wohl, fährt er fort, um jich die möglichen Folgen
einer Aktion alljeitig flar zu machen, oder man will aud)
Täuſchungen in die Welt ſetzen, indem man die eignen Ber:
trauten täufht. Nun wohl, ich bin fein jo fjachverjtändiger
Fachmann in diplomatijchen Kunftgriffen, wie Herr Rößler: aber
indem ich ihm bienach die Möglichkeit jolcder Dinge nicht beitreite,
ſcheint e8 mir doch, daß für ihre Wirflichfett im einzelnen Fall
der Behauptende Beweiſe beizubringen verpflichtet iſt. Darin
aber, fürchte ich, ijt e8 bei Herrn Rößler ſchwach bejtellt. Ich
bejorge, er hat feinen andern Beweis für Vitzthum's Täujchung,
ald die eigene jchon vorhandene, ebenjall® beweisloje Meinung
von Beuſt's Kriegsluſt. Ich will dies in Kürze darlegen.
Zunächſt bemerfe ich, daß in meiner Darftellung nicht auf
Vitzthum's Redensarten, jondern auf die ihm von Beuft auf
getragenen amtlichen Handlungen oder Injtruftionen Bezug ges
nommen wird. Als Napoleon 1869 mit dem Plane der offen-
jiven Zripleallianz gegen Preußen hervortritt, verwandelt Vitz⸗
thum denjelben, feiner Sache gewiß, ohne erſt bei Beuſt anzu⸗
fragen, in den Vorſchlag eines Vertheidigungsbundes, unter Vor:
behalt von ſterreichs Neutralität im Falle eines franzöfiich-
preußilchen Striegs. Der Botſchafter Fürſt Metternich beftätigt
Died, Beujt und Kaiſer Franz Iojeph genehmigen es, und fchließ-
lich lehnt eben deshalb Napoleon die Unterzeichnung des Kriegs—
44 9. v. Sybel,
dat SKatjer Napoleon den Antrag in einem offenen Briefe dem
König Wilhelm vorlegen möchte, erflärte Rouher fich einverftanden,
hielt aber Napoleon’3 Zuitimmung für ungewiß; und wenn der
Kaiſer, fragte darauf Rouher, den Brief fchriebe, der König aber
den Vorſchlag ablehnte, und wenn dann der Katjer dies übel
nähme, und daraus ein Bruch entftände, würde in diefem Falle
Ofterreih uns mit den Waffen unterftügen? Vitzthum, darauf
nicht gefaßt, antwortete: Wir befinden uns mitten in der Um—
geftaltung unjerer Armee; ehe fie fertig ift, kann ich auf Ihre
stage nichts Beltimmtes eriwidern; Hoffentlich werden wir aber
im Dezember das Biel erreichen. Als er dies Geſpräch dem
Kanzler berichtete, erhielt er umgehend folgende Zeilen:
„Berehrter Freund. Sie jagten, Sie möchten jo gern mir
meine Arbeit erleichtern. Deſſen bin ich gewiß und werde gern
und oft davon Gebrauch machen. Aber jet bedenfen Sie wohl,
dap Ein unüberlegtes Wort mir die mühjame Arbeit von zwei
Sahren umwerfen Tann. Der Gedanfe von dem Eintritt in die
Aktion iſt jegt abjolut falſch.“
Als dann im Herbit 1869 der lange verhandelte Dreibund
von Napoleon nicht vollzogen, jondern auf unbeitimmte Zeit zu
den Alten gejchrieben worden war, hatte Vitzthum mit den frans
zöſiſchen Miniſtern noch einige nachträgliche Gejpräche über ein»
zelne Änderungen des Textes bei etwaiger Wiederaufnahme der
Verhandlungen. Die Franzoſen regten an, ob nicht der Pariſer
Vertrag vom 15. April 1856 zu erneuern, und ob nicht eine
Bezugnahme auf den Prager Frieden von 1866 in dem Allianz⸗
vertrag angezeigt ſein jollte. Xetteres hätte, wie auf der Hand
liegt, dem projeftirten Dreibund die jchärfite Spiße gegen Preußen
gegeben.
Beust entichted auf der Stelle: „Wir wünjchen feine Modi
fifationen an dem urjprünglichen Texte. Was die Aljimilation
des abzuichließenden Vertrages mit dem von 1856 betrifft, und
die Idee, ihn in unmittelbare Beziehung mit dem Prager Frieden
zu ſetzen, jo kann id) dieſem Worjchlag meine Zujtimmung nicht
geben. Es wäre jchiwierig, eine bündige Analogie zwiſchen dieſen
beiden Übereinfommen zu finden, umd in politijcher Hinficht wäre
46 H. v. Sybel,
zu einem Kampfe mit der deutſchen Übermacht aufmerkſam zu
machen. Es war dies nicht eben eine leichte Aufgabe für einen
Ausländer, einen großen Souverän auf die ſchweren Mängel
ſeines Heerweſens anzuſprechen: für die Wirkung hing zunächſt
Alles von der Einführung des Themas ab. Albrecht nahm dann
von der vorübergehenden Unruhe, welche Lasker's thörichter An⸗
trag über Badens Aufnahme in den Nordbund in Paris her⸗
vorrief, Veranlaſſung, den Kaiſer Napoleon auf die wachſende
Spannung und die Möglichkeit eines Kriegs für beide Staaten
binzuweijen. Napoleon, ohne auf politiiche Erwägungen ein-
zugeben, fragte zurüd: wenn e3 zum Kriege fäme, wie hätten wir
nach Ihrer Meinung zu operiren ? worauf dann der Erzherzog
den befannten Plan ffizzirte, vor Allem mit vereinter Offenfive
Sübddeutjchland zu überwältigen. Über den weiteren Verlauf des
Geſprächs berichtet mein Gewährsmann:
Nach einem kleinen Diner auf der öfterreichiichen Botſchaft
zu Ehren des Erzherzogs geruhte Se. Kaijerl. Hoheit mir anzu:
vertrauen, er habe dem Kaiſer nicht verſchwiegen, daß die fran-
zöfiiche Armee numeriſch viel zu ſchwach jet, um einen Krieg mit
Deutihland aufzunehmen, jelbjt wenn man Ylgerien ganz von
Truppen entblöße. ſterreich anlangend, jo habe er Napoleon
gejagt, daß auf die Mitwirkung der Ef. f. Armee bei Beginn
eines Kriegs nicht zu rechnen jei, da man mindejtens ſechs Wochen
bedürfen werde, um die Mobilmachung zu vollenden. Napoleon
babe ihm darauf geantwortet, er werde einen General nach Wien
ſchicken, mit allen Etats, die hoffentlich dem öfterreichiichen General:
itab eine befjere Meinung von dem franzöfiichen Streitkräften
geben würden.“
Indejjen hatte der Erzherzog dem Kaiſer noch mehr gejagt.
Eine frühere Mittheilung Rothan's, Albrecht Habe am Schlufje
des Beſuchs dem Kaiſer wiederholt: „Alſo, Site, vergeflen Sie
nicht, das öfterreichiiche Heer wird jeine neue Urganijation erit
im nächiten Jahre zum Abſchluß bringen“ — wird mir durch
einen anderen Gewährsmann von völliger Zuverläffigfeit beftätigt.
Er jei, bat er mir erzählt, im März 1870 auf der Straße in
Paris zwei franzöfiichen, ihm befreundeten Xffizieren begegnet,
48 9. v. Sybel,
Lebrun fam im Juni nach Paris zurüd mit einer per
jünlihen Erflärung des Kaiſers Franz Joſeph, daß Napoleon
im Kriegsfalle auf eine bewafinete Theilnahme Öſterreichs nicht
rechnen dürfe.
Mit voller Wahrheit konnte ſpäter Leboeuf der parlamen-
tarijchen Unterſuchungs-Kommiſſion erklären, daß der Erzherzog
feine PBropofitionen gemacht; ich) habe mit ihm, jagte er, nur
Beziehungen der Höflichkeit gehabt, und glaube nicht, dab wäh.
rend jeines Aufenthaltes in Paris Unterhandlungen ftattgefunden
haben.
Noch muß ich aus dem weitern Verlaufe der öfterreichiichen
Bolitif jener Zeit einen in der neuen Auflage verbeflerten Irrs
thum meiner Darftellung erwähnen. leid) nachdem am 15. Juli
in Paris der Beichlug zum preußifchen Kriege gefaßt worden,
hatte am 18. die öjterreichtiche Regierung ihr Verbleiben in der
Neutralität den Mächten angezeigt. Dem Grafen Beuft erjchien
dies jehr bedenklich; er bejorgte deshalb eine bittere Entrüjtung
Napoleon's. Er jchidte aljo am 20. Juli einen vertraulichen
Brief an den Fürften Metternich, mit Anweiſung, wie er den
kaiſerlichen Unwillen beſtens bejchwichtigen ſollte. Am Schlufje
des Schreibens kam er auf Italien und bemerkte, die Italiener
würden nur dann mit Herz und Seele für die Sache Frankreichs
gewonnen werden, wenn man ihnen den römiſchen Dorn heraus-
zöge, aljo ihren Truppen, jobald die franzöfiiche Bejagung den
Ktirchenjtaat räume, den jofortigen Einmarſch geitatte.e Nun war
es jeit 1861 weltbefannt, worin „der römiche Dorn“ beitand,
nämlich in dem franzöjiichen Verbot der Roma capitale, in dem
Berbote, Nom zur Hauptjtadt des Königreichs Italien zu machen.
Sch verstand aljo Beuſt's Meinung dahin, nach dem Abzug der
franzöjiichen Brigade den Italienern die Beſitznahme der Haupt—
jtadt zu erlauben.
Aber von der berufeniten Seite bin ich jeßt belehrt worden,
daß Dies ein Irrthum war — den übrigens alle franzöfijchen
Staatsmänmer nach der Lektüre des Briefes vom 20. Juli getheilt
haben —, dal Beujt den Stalienern zwar die Belegung des
Patrimoniums Petri gejtattet, die Stadt Nom aber der Herrichaft
50 9. v. Subel,
Öffentliche Meinung ſeines Landes bäumte fich letdenichaftlich gegen
dieje Selbjtbejchränfung auf, fo daß er zur Sicherung feines
Throns und jeiner Dynaftie e3 für nöthig hielt, nach Rompen-
fationen zu jtreben, fich wenn möglich mit dem gewaltig heran-
gewachjenen Preußen darüber zu verjtändigen, und big dies geluns
gen, gegen die Vollendung der deutjchen Einheit, auf Grund
einer jaljchen Auslegung des Prager Friedens, ſein Veto einzu«
legen. Da jedod) feine Kompenjation erlangt wurde, blieb das
Verhältnis der beiden Regierungen ein gejpanntes, und bet dem
franzöjiichen Volke, deſſen große Mehrheit jonft bei fortichreitendem
Gedeihn der materiellen Intereſſen eifrig Die Fortdauer des
Friedens wünjchte, jegte jich eine tiefe Mißſtimmung, um nicht
zu jagen, ein offener Haß gegen das „herrichjüchtige* Preußen
und das „undankbare“ Italien fe. In einem Augenblide
bejonderer Aufregung über belgijche und badiſche Vorgänge jchlug
dann Napoleon im Frühling 1869 den Höfen von Wien und
Florenz einen offenfiven Dreibund gegen Preußen vor.
Indeſſen wollten die beiden ‚sreunde nur von einem Ber:
theidigungsbunde unter jtarfen Vorbehalten wiſſen. Auch zeigte
ih, daß Bismard jich durchaus nicht eilig um die Annerion der
deutichen Südſtaaten bemühte, und jo jchob Napoleon die Ratis
jifation des Dreibundes auf unbejtimmte Zeit zurüd und ſagte:
wenn Bismarck nichts überjtürzt und die Zeit für feine Pläne
wirfen läßt, jo wird jich allmählich auch das franzöfifche Vol
an die deutjche Einheit wie an ein Naturereignid gewöhnen.
Er war damals ſoeben von einem lebensgeführlichen Anfall
jeines chroniichen Nieren= und Blajenleidens erftanden und fühlte
jeine Kraft gebrochen und die Hoffnung auf ein höheres Alter
verſchwunden. Unter dieien Umſtänden fam er zu dem Entſchluſſe,
die Feſtigkeit ſeines Throns durch populäre Mittel zu ftärfen,
durdy Erweiterung der Rechte der Wolfsvertretimg und durch
Übertragumg der Negierungsgewalt an ein verantwortliches Mini—
jterium. Zum Leiter desſelben erwählte er den Abgeordneten
Emil Ollivier, der allem jeit 1866 unaufhörlich zum Frieden
und zur Anerkennung Deutſchlands gemahnt hatte So wollte
Cäſar zum fonjtitutionellen Möonarchen werden, um zu erlangen,
62 H. v. Sybel,
weiſe gegen niemand eine Mittheilung über den Inhalt. Die
Ärzte hatten gewiſſe Operationen beantragt, Napoleon jedoch war
der Überzeugung, die Operation fönnte gelingen, er aber würde
fie nicht aushalten, was 1873 ſein Tod auch bejtätigt hat. Nun
jtelle man fi) feine Lage vor. Elende Schmerzen bei jedem
Schritte des Neitpferdes und bei jedem Rütteln de Wagens, und
dazu auch beim Gehen jchmerzhafte Unbehülflichkett. Ein Augen»
zeuge, der feinen kurzen Spaziergang auf der Terraſſe des Tutilerien-
gartens zwijchen zwei Sigungen beobachten konnte, hat mir Das
Bild geichildert, wie der Kaijer, mit dem einen Arm geitügt auf
den ihm vertrauten General Beville, mit dem andern auf den
eine3 jungen Adjutanten, langjam mit jchleifendem Schritte ſich
fortbewegte. Bei einer ähnlichen Promenade bejuchte ihn ſeine
Koujine, die Brinzeß Mathilde; als fie ihn in der Nähe jah,
rief jie aus: Um Gott, auf diejen Süßen wollen Sie in den Krieg
marjchiren? Gewiß, er wollte es nicht, aber die Krankheit jelbit
nahm jeinem Geiſte die zum Widerſtand erforderlichen Sträfte.
Dazu Hatte er jeit dem 2. Januar ſich zum fonititutionellen
Monarchen gemacht und fühlte fich nicht mehr in der Yage, mit
durchgreifendem Ernſte dem jich ihm aufdringenden Striegslärmen
Ruhe zu gebieten. Und welch ein Dajein itand ihm dann bevor!
Nenn glänzende Siege jeine Dyynajtie bejejtigen ſollten, jo mußte
er, der durd) und durch Eranfe, feinen Augenblid ſchmerzensfreie
Mann, den Lberbefehl über die Armee führen. Denn ein
triumphirender Bazaine, warum jollte er mit den Bonaparte's
anders verfahren, als einſt der erite Bonaparte mit der damaligen
Regierung, dem Direktorium, verfahren war?
Immer that Napoleon, was cr vermochte, den Krieg zu
vermeiden. Am Vormittag des 6. Juli trat der Kronrath zur
Prüfung des Gramont'ſchen Entwurf der der Stammer zu
gebenden Erklärung über die Kandidatur Hohenzollern zujammen.
Ic habe den Verlauf nad) den Ausſagen des damals Ollivier
nahe ſtehenden Thiers und Des Kriegsminiſters Leboeuf vor
der parlamentarichen Untertuchungsfommijjion Bd. 7, 276 bes
richtet. Wie erquiclich wäre es Ende 1871 für den unglüdlichen
Leboenf und jene Hörer geweſen, wenn der General die Schuld
| 54 9. v. Sybel,
die Spezialdebatte über die einzelnen Säte des Entwurfd und
drudt die kriegeriſchen Amendements de3 Kaiſers wörtlich ab.
Trotz des Widerjpruchd mehrerer Miniſter habe der Kaiſer fie
energijch durchgeſetzt, insbeſondere den drohenden Schlukjat, der
die Thüre zu einer friedlichen Löſung verjchloß, jagt der Artikel.
Dieje Mittheilung, wenige Monate nach dem Tode des
Kaiſers veröffentlicht, machte großes Aufjehen und rief Heftige
Widerſprüche und Erfundigungen über ihren Verfaſſer hervor.
Ein ehemaliger Abgeordneter, Darimon!), fragte einen früheren
Beamten des auswärtigen Amtes, den Baron ©. U. (ich zweifle
nit St. Andre), der in nahen Beziefungen zu Gramont ftand.
Er jagte, der Artikel jet unter der Inſpiration Gramont's
redigirt worden, der ermüdet und beläftigt Dadurch geweſen, DaB
man fortfahre, ihm die Verantwortung für den Strieg zuzufchieben.
Darimon bemerft nod), der Umstand, daß Gramont den Artikel
nie dementirt hat, wie das freilich ſchwierig gewejen, fünne jchon
für ein Geſtändnis gelten, und jo erjcheine der Artifel als ein
geichichtliche8 Dokument eriten Ranges. Uffenbar hat Darimon
die früheren Ausjagen Thiers’ und Leboeuf's nicht gefannt oder
wieder vergeijen, jonjt würde auch ihm Gramont's verläums
derijche Erfindung im Gegenjage zu Leboeuf's ehrenhafter Offen⸗
beit jofort im richtigen Xichte erſchienen jein. Wie vieler ſolcher
Erdichtungen ſich Gramont ſchuldig gemacht, darüber verweiſe ich
auf die Abhandlung am Schlujfe meines fiebenten Bandes.
Übrigens hat Gramont bei den hejtigen Angriffen, die der
Artitel erfuhr, doch einige Scham empfunden, allerdings nicht den
Inhalt dementirt, aber doch, um feinen Verdacht über jeine
Autorichaft auffommen zu laſſen, Herrn Ullivier und einem
anderen Herrn, von dem Darimon den Vorgang erfahren hat,
eine nene Erfindung mitgetheilt, ein untreuer Sekretär babe ihm
jeine Aufzeichnungen über den Kronrath des 6. Juli geftohlen
und ſie dann in Brüjjel veröffentlicht. Die Gehäfjigfeit feines
Verfahrens wird dadurch freilid) nicht abgejchwächt. Nach mehrs
jachen anderen Proben halte ich es übrigen? für ganz möglich,
1) Bgl. defien Notes p. 8. à l’histoire de la guerre de 1870. Paris
1888. 5.52 ff.
66 H. dv. Sybel,
ungenannten 5reunde?!), daß er mit Bistum und Metternich nebit
den SItalienern Nigra und Vimercati am 15. Juli den Entwurf
eines in Wien und in Florenz bereits gebilligten Vertrags zwiſchen
Dfterreih und Italien in drei Artikeln bejprochen hätte, worin
die beiden Mächte ic) zur Kriegserflärung gegen Preußen in
beftimmter Friſt verpflichteten. Hier it die Phantaſie des Herzogs
noch unglüdlicher al8 im vorigen Fall gewejen. Denn der Plan
eines Sonderbunds der beiden Mächte ijt zwar von Öſterreich
den Italtenern vorgejchlagen worden, aber nicht am 15., jondern
erft am 25. Juli, nachdem beide Mächte jeit mehreren Tagen
ihre Neutralität erklärt, und Beuft den franzöfiichen Antrag auf
Kricgshülfe Fategoriich abgelehnt Hatte. Der Entwurf für den
Sonderbund (in acht, nicht in drei Artifeln) wurde erſt im Auguſt
der franzöfiichen Regierung, und nur deshalb vorgelegt, weil ſein
jiebenter Artifel eine Klauſel über die römijche Trage enthielt.
Sramont ließ ſich dies Alles nicht anfechten, ſondern juchte
feine Dichtung von einem völlig verabredeten und nur noch nicht
mit der lebten Bejtätigung verjchenen Kriegsbunde bei der nädhiten
Gelegenheit durch neue Variationen in der Datirung und ein:
zelnen Umständen zu errettcr. Im emer Streitjchrift gegen den
Prinzen Napoleon wiederholte er 1878 die Mär von jeiner Unter:
handlung mit den obengenannten vier Herrn, dieſes Mal auf
Abſchluß der großen Zripleallianz gegen Preußen, über welche
man am 18. Juli 1870 (aljo nicht am 24., nicht am 18., wie
früher behauptet) zum Einverſtändnis gefommen fei. Alles war
ebenfo grundlo3 wie die früheren Fabeln. ALS die jcharfjinnige
Abhandlung veröffentlicht war, erinnerte Graf Vitzthum den
Herzog brieflicd) an die Ihatjache, daß er am 15. Juli mit ihn
nur ein furzes Gejpräd) von zehn Minuten in Gegenwart
Metternich's gehabt, wo Gramont ſich mit wahrer Wut gegen
den Kongreßplan des Kaiſers geäußert: gleich nachher jet er
(Vitzthum) nad) Wien abgereiit, jene Konferenz am 18. babe
aljo nicht in der angegebenen Weiſe jtattfinden fünnen. Ich jeße
Y, Der Brief ift von dieſem joeben im Figaro, 17. avril 1895 vers
öffentlicht worden.
68 9. v. Sybel,
Berjendung von Bismard’3 Zeitungstelegramm für eine Bes
ichimpfung Frankreichs erflärten.!)
Hier haben wir den ganzen Gramont. Er bfies die Kriegs—
trompete, jo lange die Striegserflärung in Frankreich populär war.
Als jich dieſes Blatt wandte, eignete er jich hinterher Napoleon’3
Friedensvorſchläge an und citirte zum Beweiſe dafür eine Schrift,
in der das Gegentheil jeiner Angaben fteht. Ob er fie jelbft
nicht gelefen, oder ob er geglaubt, Vitzthum würde eine alte
Brojchüre nicht nachichlagen, laſſe ich dahingeitellt.
Auch diefe Betrachtungen zeigen uns aljo, wie in den ver:
hängnisvollen Tagen vom 5. bis zum 15. Suli Napoleon fort
und fort zu einer PBolitif des Friedens gedrängt hat. Am 5. und 6.
fordert er eme milde Erklärung an die Kammer, am 10. jchreibt
er geheim an den Prinzen Leopold, ſein Nüdtritt jet dag einzige
Mittel, den Frieden zu erhalten; am 12. beruft er den italienischen
Gejandten Nigra zu einer bejondern Audienz, um ihn mit einer
telegraphiichen Botſchaft an Victor Emanuel zu beauftragen,
durch den Rücktritt des Prinzen jei jeder Grund zum Kriege be-
jeitigt; endlid) am 14. klammert er ſich im letzten Momente an
jenen alten Lieblingsgedanfen, einen europätichen Kongreß, um
den Bruch zu verhüten. Als trogdem der Krieg entjchieden war,
iendet er am 15. durch Vitzthum die Bitte an Franz Joſeph,
Diterreid) möge den Kongreß veranlafjen; zwei engliſchen Bejuchern
jagt er damals, die Macht jet ihm aus den Händen geglitten,
und jchreibt an die Königin von Holland, nicht er habe Ddiefen
Krieg veranlaßt, jondern die aufgeregte öffentliche Meinung. Alle
» Diefe Angaben bejtätigen in allen Punkten meine Darſtellung ber
Eigungen am 14. Juli 7, 336 ff. Übrigens bemerfe ich, daf Herr v. Lano
eine Erzählung des Miniſters Louvet anführt, nad) der am Nachmittag des
14. Gramont die erjte Erwähnung von einem Kongreſſe gemacht hätte.
Lano ijt, wie wir weiter jehen werden, ein jehr unzuverläjliger Gewährs⸗
mann; wenn überhaupt etwas an der Notiz iſt, jo hat Gramont vielleicht
auf das Trängen des Staijers nah einem friedliden Ausweg auf einen
Kongreß Hingewiejen, was dann der Saijer lebhaft aufgriff und zähe feſt—
hielt. Gramont's eigne Taritellung (France et Prusse p. 212: läßt deutlich
jeinen W®iderwillen gegen den Gedanken erkennen.
60 H. v. Sybel,
Ehe ſchwamm ſie in Glück und Lebensluſt. Sehr ſchnell hatte ſie
mit weiblichem Takte ſich in die würdige Repräſentation ihrer hohen
Stellung gefunden; von geiſtigen oder politiſchen Dingen war
damals bei ihr keine Rede; als der Kaiſer bei ſeinem Aufbruch
zum italieniſchen Kriege ſie zur Regentin während ſeiner Abweſen⸗
heit ernannte, hatte ſie kein anderes Gefühl als Schmerz über
die Trennung und Sorge über die Gefahren des Kriegs. Oft
mußte jie auf den Balfon hinaustreten, um ausmarjchirende
Negimenter unter Jubelrufen vorüber defiliren zu jehn: dann
grüßte und winfte fie freundlich, aber unter Thränen und Schluchzen:
unfere arme Kaijerin, jchrieb ihr alter Freund Merimee, hat ver:
weinte Augen, did wie Eier. Die Kürze der Trennung erjparte
ihr die Regierungsforgen; der einzige Wunſch, den fie als Regentin
geäußert hat, war der möglichit raſche Friedensſchluß. Er wurde
ihr erfüllt, jchon damals nahm der Zorn der revolutionären
Parteien ſie zur Zielfcheibe; fie jei es gewejen, welche ihren
Gemahl zum vorzeitigen Abbruch eines großen Befreiungskriegs
bejtimmt hätte. Es war aus der Luft gegriffen und die wahren
Urſachen des Friedens von VBillafranca lagen offen vor aller Welt
Augen. Eugenie fonnte jid) wieder ihrer bisherigen Sauptarbeit
widmen, der Herrſchaft über die jährlichen Schöpfungen der Barijer
und damit der europäischen Moden. Dieje Sorge für die äußere
Erjcheinung war hier begreiflich; es verlohnte jich bet ihr, ſich zu
ſchmücken. Denn fie war von Hinreigender Schönheit und zugleich
von jeltner natürlicher Anmuth. Als Bismard von einem Bejuche in
Paris 1857 zurüdfam, erflärte er, vielerlei Schönes habe er dort
gejehn, von Allem das Schönjte aber ſei Eugenie. Bet ihren Zu—
ſammenkünften mit der Königiu Victoria gewann jie deren Herz, wie
die Anerkennung der ältejten Tochter, jpäter unjerer Slatjerin Fried⸗
ri. Auch unjer Kronprinz hatte bei einen Beſuche in Paris ferne
‚sreude an ihr. SZivar fand er fie nach ihrer Flöfterlichen Erziehung
feuntnisarm und ſchwach gebildet. Sie fragte ihn einmal, ob er
etiwas von der weißen Dame wiſſe, die im Berliner Schlofje umgehe.
Gr antwortete jcherzend: Natürlic), das iſt ja cine meiner Tanten.
Vie erjchredt jah fie ihn darauf aus großen Augen an und bezeigte
ihm jeitdem eine Art von cigenthümlichem Reſpekt. Daneben aber
62 9. dv. Sybel,
Vermittler aller Art ſich um die Heilung des Bruchs bemühten.
Es gelang denn auch, Eugenie, deren Mutterherz fie zu dem
boffnungsvollen Sohne zog, zur Rückkehr zu beitimmen. Adh,
jagte fie damald zu Merimee, wie bin ich unglüdlih; es gibt
feine Eugenie mehr; es gibt nur noch eine Kaiferin. Es bezeichnet
ihre Stimmung, daß eine fchon früher angeregte Sympathie für
eine unglüdliche Borgängerin auf dem glänzenden franzöjiichen
Throne, die Königin Marie Antoinette, damals zu voller Ents
wicklung gelangte ; unermüdlich ftudirte ſie deren Gejchichte, ſammelte
ihre Bilder und Handichriften, erneuerte Trianon, deren Lieblingsſitz,
und richtete dort ein Mujeum für die Reliquien Dderjelben ein.
Indeſſen begann doc ein letdliches Verhältnis zu dem Gemahl
ſich wieder herzustellen, vollends als 1865 die Nemeſis über den
Sünder hereinbrach, der erfte ftärfere Anfall der quälenden
Krankheit, die ſeitdem den Weit jeine® Lebens vergiftete. Aus
Meitleid und Dankbarkeit erwuchs, joviel man weiß, zwijchen ihnen
eine von der Erinnerung an bejjere Tage durchwärmte, zwar
nicht mehr zärtliche aber herzliche Sreundichaft. Um ihn in feinen
Negierungsjorgen bei jeiner gejchwächten Kraft zu unterftügen,
begann ſie fich für Politik zu interefjiren, jeßte fich mit den
Minitern in Berbindung und gewann mit ihrem Klaren Verjtande
bei ihnen wie bei dem Gemahl einen gewiljen, in ipätern Dar-
Itellungen jehr übertriebenen Einflup. Ihr leitender Rathgeber war
Rouher, damals ohne Zweifel der begabteite unter den franzöftichen
Staatsmännern, im Innern ein Gegner der liberalen Tendenzen
Ollivier's und der fonjtitutionellen Neigungen Napoleon's, m der
auswärtigen Bolitif aber ein Mann des ‚sriedens und folglich ent»
Ichiedener Widerjacher der Arkadier (vgl. 7, 80) die nur in kriegeriſchen
Zriumphen die Rettung der Dynajtie und der Thronfolge des
kaiſerlichen Prinzen erblidten. Nachdem ihn die liberale Strömung
aus dem Miniſterium verdrängt hatte, jchlug er dem Statjerpaare,
vor, die Etärfe der Krone ımd die Sicherung der Thronfolge
auf friedlichen Wege durch em großes Plebiszit zu erreichen. Der
Kaiſer hatte anfangs Bedenten, die Kaiſerin aber jtimmte freudig
zu, und die Volksabſtimmung batte ein glänzendes Ergebnis. Die
Arkadier aber gaben tbre Partie deshalb nod) nicht verloren. In
64 9. v. Sybel,
Nbitriche der Kammer die Armee jchwer reduzirt hätten umd ohne
Bündniſſe em Krieg nicht zu wagen jei, und auf ihre frage Hatte
Niel jelbit geantwortet: die Armee ift fertig, aber Ihre Allianzen
find es noch nit. Die Allianzen waren auch 1870 nod
nicht fertig.
So wurde jie unaufhörlich durch zwei gleich ſtarke, aber
einander entgegengejeßte Bejorgniffe aufgeregt, um den Sohn und
um den Gemahl, um die möglichen Vortheile und die fichern
Gefahren des Kriegs. Dft it jeitdem gejagt worden, ihr lirch—
licher Eifer habe jie endlich unter Elerifalem Einfluß für den Krieg
entichteden. Solche Einflüſſe hatten am Hofe zahlreiche Vertreter:
eine Zeitlang erfreute jich ein Abbe Bauer von jüdischer Herkunft,
der nad) Konvertitenweiſe zuerft mit asfetiichen, düftern Mienen
einhertrat, großer Gunft vieler vornehmer Damen; eben Diele
Beziehungen aber wurden für ihn jelbft mihlich und entzogen
ihn die Gnade der Staijerin volljtändig. Gewiß, die Kaiſerin
hatte eine glühende Verehrung für das Oberhaupt ihrer Kirche
und wünfchte dringend, die rebelliichen Italiener von Rom fern
zu halten. Diejelbe Abficht beieelte auch den Herzog von Gramont,
der jonjt perjönlich bei der Kaiſerin ſchlechterdings feinen Einfluß
bejaß ; ſie theilte Damals und jpäter das wegwerfende Urtheil
ihres Gemahls über den eitlen Hohlkopf, und während diefer in
blindem Dünkel die franzöfiiche Armee für fich allein jedem Gegner
überlegen erachtete, Elang ihr ſtets Niel's Wort in das Chr:
meine Armee iſt fertig, aber Ihre Allianzen find es noch nidht.
Cie wünjchte aljo dringend einen Ausgleich mit Italien, der im
Kriegsfall der Franzdfiichen Armee mehr ala 100000 Dann Ber:
jtärfung geliefert Hätte. Aber jet 1861 hatte Italien dafür jtets
die Überlaſſung Noms, die ihr unmöglich jchien, zur Bedingung
gemacht. Alto wie jich enticheiden? Der nad) jemer Etellung
als Präfident des Staatsraths durchaus zur Erkenntnis befähigte
arten, jelbjt cin überzeugter Natholif, erklärt es völlig bejtimmt
für eine Fabel, duß die Kaiſerin aus fatholiichem Eifer zum
Ntriege getrieben babe.
Überblickt man alle dieie Taten und erinnert jich dann der
uriprünglichen Natur ımd des ganzen Lebensganges der Kaiſerin,
66 9. v. Sybel,
bätte. Mag nun vor dem Kriege die „Partei der Kaiſerin“ fie
zu ihrem Ruhme erfunden, mögen nad) Sedan die Republikaner
jie al8 grimmigfte Schmähung verbreitet haben: die Worte find
in alle Bücher und alle Zeitungen übergegangen, Emer hat fie
dem Andern nachgefagt, und jeßt heißt es: fie find weltbefannt
und damit gewiß und wahrhaftig bewiejen.
Weiterhin erfuhr dieſe Legende über den Urjprung des Kriegs
ipeziellere Ausbildung in Bezug auf die enticheidenden Momente
in der Vorbereitung des Kriegsbejchluffes, den 6., den 12., den
14. Juli, für die Forſchung erwünjcht, da Hier die Mittel zur
Prüfung vorliegen.
Wir jahen, wie Gramont, furze Zeit nach Napoleon’3 Tod,
in der Independance Belge die Entitehung feiner kriegeriſchen
Parlamentsrede vom 6. Juli gejchildert hat: der Kaiſer habe ſich
bei den erjten Berathungen am Abend des 5. höchſt friebfertig
geäußert, dann aber in der Schlußſitzung am Morgen des 6.
mit völlig veränderter Haltung mehrere unverhüllte Kriegs—
Drohungen in den milden Entwurf des Miniſters hineingebracht.
Darimon?), der Gramont’3 Autorjchaft entdedt und demnach
die Erzählung für authentiiche Wahrheit gehalten Hat, fragt jich
darauf, wie jei ein jolcher Sinneswecjjel des Kaiſers während
einer furzen Nacht möglich gewejen? Er antwortet: man hat
dies dem Einfluß -der Kaiſerin zugejchrieben, die jeit dem 3.
höchit aufgeregt gewefen; man behauptet, nach den Sikungen
am 5. habe fie mit dem Kaijer ein Geſpräch gehabt, das jich
bis 1 Uhr Morgens fortgejegt Hätte, und defjen Folge jet
die Umjtimmung des Kaiſers gewejen.
Wir wiſſen nun aus Thiers’ und Leboeuf's Ausjagen, daß
dDieje anonyme Behauptung falſch in ihrer Örundlage ift. Der
Kaiſer Hat feine AUmjtimmung erfahren; er hat am 6. wie am
5. feine friegerijche, jondern friedfertige AÄnderungen in Gramont's
Entwurf durchgeſetzt.
Sm Figaro (24. und 31. janvier 1894) hat Graf Steratry,
der 1870 als cifriger Chauvinijt für den Strieg gearbeitet hat,
Notes p. 72.
68 9. dv. Sybel,
gejeßted Verfahren, und nad) Mitternacht erobert Eugenie Die
kaiſerliche Zuftimmung zu Gramont's eigenmächtiger Depeſche.
In der Wirklichkeit fam Gramont um 4 Uhr Nachmittags zum
Kaiſer nad) St. Cloud und Hatte mit ihm eine mehrftündige
Verhandlung, bei welcher von einer Theilnahme der Kaiſerin
nichts gejagt wird und welche troß des anfänglichen Widerſtrebens
des Kaiſers damit endigte, Daß Diefer dem Minifter die Erhebung
der neuen Forderung an König Wilhelm geſtattete. Damit fehrte
Sramont nad) Paris zurüd und jandte das betreffende Tele-
gramm um 7 Uhr Abends an Benedetti. Um 10 Uhr erhielt er
aus St. Cloud einen Brief des Kaiſers, worin derjelbe emen
Theil des Inhalts ihres Geſprächs wiederholte. Um 11 Uhr 45
ſchickte der Minijter ein zweites Telegramm mit dem entiprechen-
den Befehl an Benedetti. Schon die Daten diejer Pariſer Tele:
gramme, die von Benedetti richtig empfangen und jpäter gedrudt
worden find, reichen aus, die ganze nächtliche Szene m St. Cloud
al3 ein Hirngefpinnſt darzuthun.
Indeſſen noch abenteuerlicher und gehäjliger als dieje Er-
findung iſt eine Schöpfung der Phantaſie ded Herrn v. Lano,
von der ich Bier faum Notiz nehmen würde, wenn nicht Herr
Geffcken (in den Münchener Neneften Nachrichten, 10., 12.,
13. April 1895) fie nach Deutjchland verpflanzt und fie zugleich
in jeiner befannten magiftralen Sicherheit mit einer langen Reihe
ungenauer und irriger Angaben verziert hätte. Da wird 3. 2.
der belgische Eijenbahnftreit von 1869 ganz unbefangen unter
den Fehlſchlägen des Minijteriums Illivier von 1870 aufgezählt;
da wird berichtet, daß der jpaniche Antrag der Kandidatur
Hohenzollern Ende März in Berlin gejcheitert jei, während der
König die Ablehnung erſt am 24. Mpril und dann am 5. Mat
nach) Madrid telegraphirte. Es iſt nicht weniger falſch, wenn
von dem ſpaniſchen Botjchafter Tlozaga behauptet wird, er Habe
alle Fäden in der Hand gehabt; in Wahrheit erfuhr er die Kan—
didatur Dohenzollern wie die gewöhnlichen Menſchen erft am
3. Juli: nicht er hat den rumäntichen Agenten Stratt nad) Sig-
maringen gejchiekt, Jondern dieſer iſt aus eignem Entſchluſſe abs
gereiit. Weiter: aus der Korreſpondenz PBismard’3 mit dem
70 9. vd. Sybel,
Darauf antwortete ein wohl unterrichteter Gegner im Figaro,
11. November, Radziwill's Bericht hätte am 13. Juli noch gar
nicht eriftirt, aljo hätte Benedetti eime Abjchrift nicht einjenden,
und die Kaiſerin und Gramont eine ſolche nicht verbergen Fünnen.
Auch ſtehe es jegt feit, daß Bismard die Fälſchung nicht an
Radziwill's Bericht, ſondern an einer am 13. Abends erhaltenen
Depeche Abeken’3 begangen habe.
Dur) jo unbedeutende Thatjachen ließ ſich Herr v. Lano
nicht erjchüttern. Er antwortete: Nadziwill oder Abefen, gleich-
viel. Dann hat Benedetti eine Abjchrift der Depeiche Abefen
eingejandt, und dieſe it auf Befehl der Kaiſerin jefretirt worden.
Dieſe meine Darftellung Hat mir der Miniſterpräſident Olivier
geliefert.
Es iſt nun aus Benedetti's Buch gewiß, daß diejer feine
Ahnung von der Exiſtenz der Depeche Abeken gehabt hat. Alſo
heißt e8 hier wie oben: er konnte feine Abjchrift derjelben ein-
jenden, Gramont fonnte dieje Abjchrift nicht der Kaiſerin vor-
legen, die Kailerin Fonnte deren Sefretirung nicht befehlen.
Herr v. Lano aber bleibt dabei, jo jei es gejchehn, ſo babe es
ihm Ollivier verfichert. Nur jo weit hat cr einen Eindrud
erfahren, daß er in der weitern Erörterung nicht mehr ausdrüd-
ih von einem preußiichen Aftenjtüd, jondern nur unbejtimmt
von einer Meittdeilung Benedetti's redet, deren Unterichlagung
dag Streben der Sriegspartei zum Siege geführt habe.
Was Olivier betrifft, jo hat dieſer ich auch gegen andere
Perſonen bejchwert, daß Gramont die am 12. und 13. Juli mit
Benedetti geführte Unterhandlung nur mit VBorwiljen des Kaiſers,
ohne Mitwirkung des Miniſteriums, aljo jehr verfafjungswidrig
geführt Habe.?) Auch Benedetti hat jich jpäter beklagt, dab das
Miniſterium nicht auf Grund feiner Berichte der Legende von
jener Bejchimpfung durch den König entgegengetreten jei. Als
hienach aber Lano 1893 die beiden Herrn aufforderte, feine
Erzählung öffentlich zu beitätigen, haben beide wohlweislich
1) Darimon, Notes p. 79 ff. Diejelbe Beſchwerde hat der Mintiter
Mege geführt. Ebenda p. 123 fi.
12 9. dv. Sybel,
folglich befahl fie, daß die beiden Herrn von der Sigung ferne
gehalten würden, und veranlaßte die Unterjchlagung der beiden
Zelegramme. So unterlag, verjichert Herr v. Zano, die Friedens⸗
partei, ihrer Führer beraubt, in der Nachtſitzung emem neuen
Berbrechen der Kaiferin.
Bon emem Beweiſe ift auch bier feine Rede. Louvet's
vorher mitgetheilte Ausſage enthält nicht die leiſeſte Andeutung
Darüber, jo menig wie über die angebliche Sefretirung eines
Benedetti'ſchen Berichte.
Übrigens bin ich in der Lage, der von dem abwejenden
Louvet gegebenen Schilderung der Vorgänge in Samt Cloud
zwilchen den beiden Sitzungen den Bericht eines Anmwejenden,
eines franzöfiichen Tffizier, entgegenzujtellen, der mir von emem
vertrauten Freunde desjelben mitgetheilt worden ift.?)
„An jenem Tage, dem 14. Juli, war eine Anzahl vom
Kaiſer geichägter Offiziere zum Diner nad) Saint Cloud befohlen.
Als der Kaifer gleich nach 6 Uhr aus der Sitzung zurüdfehrte,
trat er freudeftrahlend in den Saal ein, ging auf die Offiziere
zu und fragte: nun, meine Herren, find Ihre Effekten für den
Feldzug bereit? Ein braujendes Ia war die Antwort. Wohl,
jagte der Kaiſer mit fröhlichem Ausdrude, dann paden Sie
wieder aus; denn, Gott jei Dank, der Friede ift gefichert. Bei
den Offizieren fand dieſe Nachricht nicht gerade einſtimmigen
Beifall, natürlich aber konnte fein Widerſpruch laut werden.
Während der ganzen Dauer der Tafel blieb der Kaiſer in Heiterfter
Etimmung, jcherzte, erzählte kleine Geichichten, plauderte mit den
Damen. Bald nad) Tiich zog er fi in ſein Kabinet zurüd.
Nac einer Weile Hieß es, der Herzog von Öramont und Baron
Serome David jeien angefommen und jogleich zum Kaiſer geführt
worden. Später ließ der Kaiſer feine Gemahlin bitten, herauf-
zufommen. Als darauf nah dem Schluß der Berathung der
Katjer wieder im Saale erichien, war jein Ausjehn in erjchredender
Weiſe verwandelt, dag Gelicht bleich wie der Tod, die Züge
1) Leider darf ih die beiden Namen nicht nennen, um fo ficherer
aber ihre abiolute Zuverläſſigkeit verfichern.
74 H. v. Sybel,
auf und nieder; zu ihren Füßen lag die zum Theil feitlich
beleuchtete Riejenftadt und ließ den Kriegslärm wie ein dumpfes
Braufen herauf jchallen. Die Kaifern war im Kontrafte zu
diefem Bilde jo ſchweigſam und tieftraurig, daß endlich Der
Begleiter nach der Urſache fragte. Da brach fie aus: Wie follte
ich nicht erjchüttert jein? ein Land wie unfer Frankreich, in vollem
Frieden gedeihend, wird in einen Kampf verwidelt, bei dem im
beiten Falle jo viel Zeritörung, fo viel Sammer ficher iſt. Wohl
handelt es ſich um die Ehre Frankreichs; aber welches Unheil, wenn
das Glüd uns zuwider wäre? Wir haben Alles auf Eine Karte
gefeßt; wenn wir nicht fiegen, jo ftürzen wir in den Abgrund
der entjeßlichiten Revolution, die man je geſehn Hat.?)
Der Gebrauch endlich, den Herr Geffden von Lano's Ent-
hüllungen über den 14. Juli madt, ift jo unglaublich, daß jede
Urſache außer einer abjoluten Gedanfenlofigfeit unfindbar bleibt.
Ganz gelafjen erzählt er, Gramont, der am Morgen des 14.
Benedetti's Bericht erhalten, jei damit, nach) einer furzen Begeg-
nung mit Zord Lyons, in die Quilerien gegangen, aber nicht
jeiner Pflicht gemäß zum Kaiſer, fondern zur Kaiſerin; er zeigte
ihr den Bericht, der jede Infultirung Benedetti's ausjchloß und
empfing von ihr die dringende Bitte, das Aftenjtüd geheim zu
halten. Gramont that es, ging in die Kammern, acceptirte dort
die Mär von der Beleidigung Benedetti’3, die er noch) Morgens
Lyons gegenüber in Abrede geftellt hatte (die Kammerfigung und
das Gerpräch mit Lyons haben für Geffcken am jelben Tage, dem
14. Juli, ftattgefunden) und forderte die Mittel für den Krieg.
Bergeblich erhoben Thier3 und Gambetta Widerjprud); fie wurden
niedergejchrien. Geffcken fügt noch Hinzu, Sybel erwähne eme
weitere Fäljchung, deren ſich Gramont in diejer Sitzung ſchuldig
gemacht u. ſ. w.
Sch verbitte mir, meine Angaben in die Reihe diejer Thor:
heiten verflochten zu jehn: die berühmte Sigung, die der Welt
den Krieg verkündete, fand nicht, wie hier erzählt wird, am 14.,
jondern am 15. Juli ftatt. Der 14. war völlig ausgefüllt durch
die drei Stronräthe, Deren zweiter den Frieden, der dritte ben
1) Sarette 2, 101.
176 9. v. Sybel,
und Beuft’3 unmiderleglich wäre, jo würde Bismarck in viel höherem
Maße als bisher für den Vater des Kriegs zu halten jein. Offenbar
wäre dieſer Schluß nur dann bündig, wenn fein Anderer als dieſe
Drei den Krieg hätte veranlajjen fünnen; er fällt aber ohne weiters
zujammen durd) die Thatjache, dat in Paris Gramont und Xeboeuf,
jowie die Arfadier und die Sllerifalen gegen Napoleon’3 Willen
bei dem aftiven Theil der Bevölferung den Kampfzorn entflammt
und Damit den Bruch unvermeidlich gemacht haben.
Gewichtiger als dieſe Dinge find die Ausführungen der
Herrn Delbrüäd und Brandenburg (M. Allg. Ztg., Beilage 11.
u. 12. Febr. 1895) über Bismard’s Thätigfeit bei den Verhand-
(lungen über die Kandidatur Hohenzollern, weil fie jich auf die
neuen Mittheilungen in den „Aufzeichnungen aus dem Leben des
(jegigen Königs, damaligen Fürſten) Karl von Rumänien“ ſtützen,
welche, von dem Bruder des Kandidaten herrührend, eine Quelle
eriten Ranges darftellen. „Da durch dieſe“, jagt Delbrüd, „die
Hauptthatjachen heraus find, kann über Bismarck's Verhalten fem
Bweifel mehr jein.“
Den Werth der Quelle jtelle ich nicht in Abrede. Aber ich
fonjtatire, daß die Folgerungen der beiden Herrn nicht aus dem
richtig erkannten Inhalt, jondern aus gänzlichem Mißverſtändnis
derjelben gezogen find.
Sch erläutere die durch einige Bemerkungen über die Bes
ichaffenheit der Aufzeichnungen.
Auf den eriten Bli iſt es deutlich, daß der hohe Verfaffer
nicht an eine volljtändige, zujammenhängende Gejchichte der ſpaniſchen
Kandidatur ſeines Bruders gedacht, jondern einfach aufgezeichnet
hat, ‘was ihm von jeinem Berwandten oder jonjt gemeldet wurde.
Kein Schluß wäre verfehrter, ald daß cin anderweitig bezeugtes
Ereignis deshalb als nicht geichehen zu betrachten wäre, weil es
in den Aufzeichnungen nicht erwähnt wird. Diejen Fehler macht
Herr Brandenburg mehrfach, indem er aus diefem Grunde bie
völlig jichere Thatjache des erſten ſpaniſchen Anklopfens bei den
Hohenzollern im April 1869 und den nicht weniger beglaubigten
Beicheid des Fürſten Anton an den ſpaniſchen Agenten im Seps
tember 1869 aus der Geichichte jtreichen will.
18 9. vd. Sybel,
diejem Sinne an König Wilhelm gejchrieben, und dieſer ihm jo-
gleich) geantwortet, daß er mit dem Vorhaben einveritanden jei.
In Wahrheit Hatte der Erbprinz den jehr verjtändigen Vorſatz,
dem Könige jenen Entſchluß erſt dann mitzutheilen, wenn trog
der bisherigen Ablehnungen ein neues ſpaniſches Angebot an ihn
gelangte. So liegt hier im Tagebuche wieder ein nachträglich
gemachter Zujag über dag allerdings längſt befannte Creignis
des 21. Juni vor; Herr Brandenburg aber hat fich durch die
Faſſung des Saßes verleiten laſſen, den ganzen Inhalt desjelben
zum Datum de d. zu rechnen, und jo zu der allerdings ganz
neuen Entdedung zu gelangen, daß der König ſchon am 4. oder
5. Juni Kenntni® von der Sinnesänderung des Erbprinzen er:
halten habe, worauf der Kritifer dann jofort weitere politiiche
Schlüffe aufbaut, die natürlicd) jedes Grundes entbehren.
Welche Abweichungen von meiner Darjtellung der Gejinnung
Bismarck's folgern nun meine Gegner aus den Angaben des
Tagebuchs?
Unter dem 6. Juli berichtet Fürſt Karl von einem Briefe
des Königs Wilhelm an den Fürſten Anton, offenbar von dem-
jelben Datum, worin u. U. der König bedauere, daß man der
früher geäußerten Meinung des Fürjten von Hohenzollern, man
müſſe jich der Zujtimmung Frankreichs verfichern, keine Folge
gegeben habe, weil General Prim die Geheimhaltung gewünsdt,
und Graf Bismard geltend gemacht habe, daß jede Nation ji
ihren König wählen dürfe, ohne andere zu befragen. Den Wort⸗
laut des Briefs rüdt Fürſt Karl nicht em.
Aus diejer Notiz zieht num Herr Brandenburg wieder weit-
tragende Schlüjfe. Der Antrag des Fürſten Anton Hätte den
Frieden gefichert; der Umjtand, daß Bismard ihn befämpft und
die Verwerfung enticheidet, beweilt, daß der Kanzler nicht jo
unerhebliche Vortheile aus der Thronbejteigung Leopold's zu
ziehen gehofft, wie meine Darftellung e8 im Gegenſatze zu ben
Angaben des Tagebuchs jchildert!); er habe ein preußiich-jpaniiches
on Ich habe allerdings die Vortheile, die Bismarck von ber Thron
beſteigung Leopold's erwartete, als unerheblich bezeichnet. Aber ich habe
damit nicht Bismarck's Anſicht wiedergeben wollen; es iſt lediglich mein
eignes, auf des Königs Auffaſſung geſtütztes Urtheil.
80 H v. Enbel,
keit des Geheimniſſes überzeugt. Er ſchrieb am 20. März, das
Geheimnis müſſe wenigſtens vorläufig gewahrt werden. Ebenſo
lehnte er am 16. April einen Vorſchlag ſeines Sohnes Karl ab,
weil durch deſſen Ausführung das bisher muſterhaft gewahrte
Geheimnis verlegt und der Plan im Steime erfticht werden würde.
Desgleihen am 22. April: Das Geheimnis von Spanien ift
wunderbar gewahrt worden, und es ift von höchſter Wichtigfeit,
dab es auch ferner, wenigftend von unferer Seite, gewahrt werde.
Er freut fi), daß jogar Olozaga nichts davon erfahren hat.
Und derjelbe Fürſt, der während der ganzen Dauer dieſer
Berathung das Geheimnis ftreng zu wahren einjchärft, ſoll in
einem Moment derjelben den Vorjchlag einer Mittheilung Darüber
an Napoleon gemacht haben ?
Ich kann nicht helfen, es ift dag wieder nichts als ein Miß—⸗
veritehn des königlichen Brief vom 6. Juli dur) die Herrn
Recenjenten.
Der König erwähnt in jenem Briefe nicht einen im März
oder April gemachten, von Bismarck abgewicjenen Vorſchlag
des Fürſten, jondern eine früher geäußerte Meinung des
jelben, der Folge zu geben nad) der Ausbedingung ftrengen Ges
heimniſſes durch Prim unmöglich geworden jei. Die Frage drängt
fich auf: wann ijt diefe frühere Äußerung gefchehn ?
Die Antwort liegt allerdings jehr nahe.
Im März 1870, wo der Fürſt Anton bei der inneren Be—
ruhigung Spaniens die Annahme der Kandidatur lebhaft wünſchte,
bat er auf jtrenges Geheimnis der Verhandlung gedrungen.
Tagegen im September 1869, wo die revolutionären Wogen in
Spanien noch hoc) gingen, wollte er jo wenig wie jein Eohn
von der Kandidatur etwas wiljen. Indeſſen kleideten beide, Water
und Sohn, die Ablehnung höflicher Weile in bedingte Form ein,
und zwar entlie Fürſt Anton Herrn Salazar mit dem Bejcheibe,
che er die gyrage näher erwägen fünne, müſſe Spanien ihm erjt
die Zuſtimmung Napoleon’s verbürgen, während der Erbprinz
dem Agenten jonftige jchwere Bedingungen jtellte, Einſtimmigkeit
der Wahl, Fehlen eines Gegenfandidaten, feine Yeindieligfeiten
gegen Bortugal. Der Fürſt hat jenen Vorgang und jeinen
82 9. v. Sybel.
betrachtet dann im September die für die Annahme der Kandidatur
geſtellte Bedingung als eine unmöglich zu erfüllende Forderung,
mithin als eine deutliche Form der Ablehnung. Aber im März 1870
hat ſich dies Alles bei ihm in das Gegentheil umgeſetzt. Das
Tagebuch zeigt es, daß er vom erſten Augenblick für die Größe
und den Werth der Kandidatur begeiſtert iſt, daß er unaufhörlich
ſich bemüht, durch die Bewahrung des Geheimniſſes das Gelingen
trotz des ſpaniſchen Parteihaders zu ſichern und nach der Ab⸗
lehnung durch den König die Sache auf's Neue in Gang zu
ſetzen. Wird nun irgend ein Menſch ein ſolches Auftreten des
Fürſten für möglich Halten bei Fortdauer jener frühern Über:
zeugung von Napoleon’3 feindfeligem Verbote der Kandidatur?
Sein fpäteres Verhalten gibt darauf die bündigfte Antwort. Als
im Juli der Kriegslärm der Pariſer beginnt, iſt er jofort ent-
ihloffen, daß wegen jener dynaftiichen Interefjen der Friede
Deutichlands und Europas nicht gejtört werden dürfe; er vollzieht
den Berzicht ſeines Sohnes, fobald er weiß, daß König Wilhelm
nicht8 Dagegen einwendet. Hätte er im März noch wie im
September ein Veto Napoleon’3 vorausgejehn, ganz ſicher würde
er daraufhin die Annahme der Kandidatur nicht in das Werf
gejegt haben. Dazu fommt auch das beitimmte Zeugnis Bismard’3t),
daß damals ſowohl er felbjt als auch Fürſt Anton nicht den
geringiten Zweifel gehabt hätten, der befreundete und nahe ver-
wandte Hohenzoller würde dem Statjer ein erwünſchterer Beherricher
Spaniens fein al3 der feindliche Orleaniſt Montpenfier oder gar
ein republifanischer Präfident.
Alſo Anton's Umjtimmung it evident. Aber auch die Urſache
derjelben it uns bezeugt. Der ald höchſt zuverläjfig befannte
Times-Korreſpondent William Ruffel erzählt (my diary of the
last war p. 97): „Ich ritt dann mit dem Brinzen Leopold. Er
iprach von der Stellung, in die er Hinfichtlich des Kriegs gefommen
war, wit einem Tone des Kummers, und was den Kaiſer anging,
mit Entrüftung. Es war, jagte er, dem Kaijer vollfommen wohl«
befannt, dat man mir im Herbſte 1869 den ſpaniſchen Thron
1) Mittheilung an Lord Loftus.
84 9. v. Sybel,
zollern eingetreten fei, mit allen, auch den befannteften, That-
jachen im Widerſpruch. Er hat jie nachdrüdlich unterjtügt, weil
er jie vortheilhaft für Preußen erachtete und Napoleon eher für
einen Freund als für einen Gegner derjelben hielt und jedenfalls
auf defjen oft bewährte Kriegsicheu rechnete. Im übrigen waren
gerade Damals, im Mai und Juni 1870, alle Gedanken Bismarck's
auf eine längere Friedenspolitik gerichtet. Wohl fah er, mie
immer jeit 1865, in der Vollendung der deutichen Einheit, in
der Wiederaufrichtung des deutichen Reichs, das Schlußwort feiner
Aufgabe. Aber cbento Hatte er jtet3 erklärt, Die gedeihliche Löſung
dieſer Aufgabe jege das Berjchwinden der alten, im Süden noch
fortbeftehenden NRafje-Antipathien und partifularen Eigenmwilligfeit
voraus, und dafür jet das einzige Mittel eine langjährige gemein-
jame riedensarbeit im Zollverein, die zu gründlicher gegenjeitiger
Belanntichaft und dadurch zum Aufgeben des gegenjeitigen
Argwohns und Mißtrauens führe. Es fei etwas Großes, hatte
er zu Sudom gejagt, wenn dies bis zum Ende des Jahrhunderts,
es jei ein Wunder Gottes, wenn es früher gelinge. Durd) einen
franzöjischen Krieg konnte der äußere Anjchluß des Südens
beſchleunigt, die innere Klärung und Bertiefung aber des Einheit»
gedanfend nur geſtört werden. Schon nad) dieſer Auffafjung
war Bismard 1870 von jedem friegeriichen Wunjche entfernt.
Dean mag es loben oder tadeln, aber jo war es.
E3 enthielt dann aud) die Thronrede zum Schluß des NReichs-
tags am 26. Mat 1870 nicht die leijejte Dindeutung auf eine
baldige Neiterführung des deutjchen Einheitöwerfd. Im Gegen:
theil, jie jprac) die volle Zufriedenheit mit den bejtchenden Ver:
hältnijjen, dem innern Ausbau des Nordbundes, der Entwicklung
des Zollvereins und der vertragsmäßigen Verbindung mit Süd—
deutjchland aus; demmach werde auch das Ausland anerkennen,
dag der Nordbund die deutiche Volkskraft nicht zur Gefährdung,
jondern zur Stütze des allgemeinen Friedens ausbilde.
Tem entjprechend eilte nad) dem Schluß der Sejjion in
Deutſchland Alles zum Genufje der ‘Ferien, der König, die Bundes-
räthe, Die maßgebenden Miniſter, zu Badefuren, Yandleben, weiteren
Reiſen. Da hinein fiel dann am 6. Juli, wie ein Donnerjchlag
86 9. v. Sybel,
des Prinzen vor. Wie alle Welt jagte er fich, damit jet der
Handel beendet, und zwar ohne Genugthuung für Preußens Ehre,
auf die man nad Erledigung der Hauptjache nicht wohl mehr
zurüdfommen fünne. Er bejchloß, nicht weiter nad) Ems, jondern
morgen nach Varzin zurüdzuretien, jedoch nicht mehr als Mintfter.
Aber es follte anders fommen. Am Morgen des 13. Juli
empfing er die erjte Nachricht, daß Gramont, mit dem Nüdtritt
des Prinzen nicht zufrieden, weitere Forderungen erhebe, daß der
preußiiche Botjichafter, Baron Werther, ſich von ihm die Beſtellung
eines ungebührlichen Auftragg an den König hätte aufdringen
laſſen. Da wurde Bismard das Herz wieder leicht. Jetzt war
die Bahn auf's Neue eröffnet zu der Tilgung der von Gramont
bisher gewagten Ehrverlegungen Preußens, ſei e8 durch Ver:
handlung, jet e8 durch Blut. Indeſſen auch in diefem Augenblide
höchſter Spannung verließ ihn feine jtolze und fichere Bejonnenheit
nicht. Er befahl dem Baron Werther, den er nach jenem
Ungejchiet nicht einen Tag länger in Paris lafjen wollte, er. jolle
dem franzöfiichen Miniſter anzeigen, daß er zu emer Badekur
Urlaub genommen habe und fein erjter Sefretär die Geſchäfte
ernjtweilen führen werde. Bismarck wollte noch den Schein eines
diplomatischen Bruchs vermeiden, welcher den Weg zu weitern
Verhandlungen vielleicht verjperrt hätte. Bald nachher empfing
er den Bejuch des englischen Botjchafters, Lord Augustus Loftus.
Durch diejen wünjchte er, das engliiche Kabinet zu empfehlender
Anmeldung und kräftiger Unterjtügung der preußiichen Forderungen
in Paris zu beftimmen, wozu es bei der abjoluten Friedensliebe
der engliichen Mintjter fein wirkfjameres Mittel geben fonnte, ala
bei der Entrüftung der deutichen Nation über Frankreichs Injolenz
die Erflärung der Sicherheit des Kriegs, wenn Preußens or:
derungen nicht erfüllt würden. In diefem Sinne redete er mit
Lord Auguftus, gleichjam jeden Sat mit Säbelflirren begleitend.
Der Lord jtimmte Allem zu und berichtete deögleichen an jeinen
Meinifter, nur zweifelnd an einer friedlichen Entſchließung der
franzöfiichen Regierung. Freilich Hätte cr das Geſpräch nicht
brieflich, jondern tefegraphiich nach Yondon, und ebenjo dort ſein
Miniſter den Inhalt wieder telegraphiich nach) Paris berichten
88 9. v. Sybel,
Nun erinnere man fi), daß in der Nachmittagsjigung des
14. Juli die Majorität des franzöfiichen Kronraths auf Betreiben
des Kaiſers zu dem Beichluffe fam, die Mobilmachung zu ver-
Ihieben und dafür am folgenden Tage an die Sammer eine
Botjchaft zu jenden, des Inhalts, daß 1. durch die rüdhaltsloje
Bujtimmung des Königs zum Verzicht des Prinzen die Frage in
befriedigender Weiſe für die Gegenwart gelöft jei, 2. daß für die
Sicherung der Zukunft die Regierung beſchloſſen habe, fi) an
einen Kongreß der Großmächte zu wenden und dort die Feſt—
jtellung eines allgemeinen völferrechtlichen Principg zu beantragen.
Vergleicht man diefe Sätze mit Bismarck's Forderungen, To
iſt e8 unleugbar, daß fie, wie miteinander verabredet, zujammen
paſſen. Denn der erite Saß enthält die Zurüdnahme der neuen
nad) Leopold’3 Rüdtritt erhobenen Forderungen und das pofitive
Eingejtändni® der befriedigenden Löſung der Trage durch das
Berfahren des Königs. E83 bedurfte feiner inhaltlichen Erweite⸗
rung, jondern nur einer augführlicheren Faſſung dieſes Satzes und
dazu etwa eine Wiederholung der bereit? von Benedetti am
9. Juli dem Könige vorgetragenen Motivirung der Gramont’schen
Nede vom 6. Juli, jo waren Bismard’3 Forderungen erfüllt,
und Damit ‚der Friede zwilchen den beiden großen Nationen
gefichert. Diefe Gewißheit aber würde, wenn Loftus' Depejche
in der That und nicht bloß nad) Gramont's Phantafie dem
Kronrath vorgelegen hätte, dem Kaiſer und feinen Mmijtern,
davon bin ich überzeugt, die Kraft zu fiegreichem Widerſtande
gegen dag Kriegsgepolter Leboeuf's und jeiner Genoffen gegeben
haben. Die in der Depeiche hervortretende Entichloffenheit und
Mäpigung des deutjchen Staatdmannes hätte die nothwendige
Ehrenerflärung ohne Blutvergießen erlangt.
Auch hier fann ich nur wiederholen: mag man darüber
jtreiten, ob dies em Glück oder ein Unglüd für Deutichland
gewejen wäre, genug, es war jo.
Aber es jcheint, Daß unſere modernen Germanen ganz jo
wie ihre Vorfahren vor einem Jahrtaufend doch unter allen
Ruhmestiteln für den höchſten den friegeriichen Siegeslorbeer
halten. Sie wollen es nicht hören, daß der nationale Held, ber
90 H. v. Sybel,
ſeinen Räthen zu der Zurückweiſung Benedetti's entſchloſſen, hätte
eine Steigerung des franzöſiſchen Hochmuths bewirken können.
Ganz richtig hat alſo Felix Dahn in ſeiner ſonſt nicht von Irr⸗
thümern freien Feſtſchrift zum 1. April bemerkt, Bismarck's
Streichungen hätten nur Milderungen des Textes bewirkt. Der
übrig gebliebene Reſt der Emſer Depeſche iſt der wörtlich genaue
Inhalt des Telegramms.
Was nun die Wirkung desſelben betrifft, jo war fie bekannt⸗
fi) bet dem deutichen Volke gewaltig. König Wilhelm aber ſah
in ihm nur die DBefolgung feines Befehls, durchaus feine Ger
führdung des Friedens, fondern jagte beim Abſchied zu Benedettt:
jest werden die Miniſterien die Verhandlung fortjegen. In der
That fand auch auf der franzöfiichen Seite Benedetti in dem
Telegramme nicht? als die unbedenfliche, vom König veranlaßte,
Bekanntmachung einer richtigen Thatfache. Ebenjo erklärte in
Paris der Minijterratd am 14. Juli Morgens die Verjagung
weiterer Audienzen an Benedetti für die jelbitverjtändliche Folge
der Ablehnung feines Antrags; es führte dad am Nachmittag zu
dem vorher analyfirten Friedensbeſchluß. Dann erjt erfand
Gramont, der ebenjall3 vorher an dem Telegramm feinen Anſtoß
genommen, die Wendung, daB die Deittheilung des Inhalts durch
eine offizielle Depefche an die Höfe eine von Bismard prämeditirte,
ichwere und nur durch Blut zu jühnende Beleidigung der franzö-
ſiſchen Ehre geweſen fei.
Es ijt jtetS dasjelbe Ergebnis.
Bismard war fein durch ftachelnde Kampfbegier in das
Schlachtgetümmel gedrängter Eroberer. Er war fühn und un
erichroden im Streite, wie irgend ein Menſch, aber im Siege
bejonnen und jtet3 der Grenzen des Crreichbaren eingedenf, wie
wenige Menjchen aller Zeiten. Der Drang feines Herzens ging
nicht auf Beherrſchung einer unter jeine Füße geworfenen Belt,
jondern auf das wachjende Gedeihn jeines Vaterlandes und feines
Boll. Deshalb hat er zur Dedung der Ehre oder der Lebens
interefjen ſeines Staats auch einen gefährlichen Krieg nie gefcheut.
Und deshalb hat er auch einen fiegreichen Krieg unter allen Um⸗
jtänden für ein jolange wie möglich zu verhütendes Übel erklärt.
92 9. v. Sybel, Neue Mittheilungen und Erläuterungen zc.
zwanzig Jahre lang alle feine Kraft der Aufgabe gewidmet, dem
deutichen Namen die Achtung Europas, und damit dem deutjchen
Volke die Segnungen eine dauernden Friedens zu fichern.
Das it der Staatdmann, dem man nach unverjtandenen
Notizen friegeriiche Gelüjte und heimliche Intriguen zur nt
zündung gewaltiger Kämpfe nacdjjagen möchte.
Bor wenigen Wochen haben ihm auf einem aus dem Herzen
des PVolfes emporgewacjjenen Nationaljefte Millionen Stimmen
den Dank des Baterlandes entgegengebradjt, ſie Alle vereint m
dem Wunſche, daß Gott ihn noch lange erhalte und ihn eine
Wendung der Zeiten erleben lajje, in der er, befreit von den
jegigen Sorgen, wieder mit vollem Vertrauen auf die Zukunft
jeiner Schöpfung bliden fünne.
Berlm, im Mai 1895.
94 Zur Vorgeſchichte der Schlacht von Albe (Tagliacozzo).
Barianten Ticleri, Titleri, Titui; in der Darftellung, die Karl an die
Stadt Padua fandte, lieft man dafür Siculi, Cicli oder Scicli partes.
Köhler deutete die Tecli u. ſ. w. partes fühn auf Tivoli: Fider
Dagegen war Mittheilungen 4, 569 geneigt, in Siculi u. ſ. w. eine
Korruption aus Sculcolae anzunehmen. Aber audy dies iſt un
richtig, die betreffende Ortsbezeichnung ift noch mit aller wünſchens⸗
werthen Sicherheit feitzuftellen.
Noch heute heißt die Landſchaft am mittleren Salto, von Torano
etwa bis Tagliata, Licoli oder Cicolano, das alte Aequiculi, wie auf
der Kiepert'ſchen Karte von Mittelitalien von 1:250000 zu erfehen.
Auch bei Spruner⸗Menke no. 21 Heißt die Landichaft nördlich vom
pagus Marsorum Eciculi. In einer mir erjt nad) Vollendung meiner
Unterfuhung befannt gewordenen NRecenjion von Brandileone über
einen der Ficker'ſchen Auffäge im Archivio storico per le province
Napoletane 9 (1884), 362 wird ebenfalls hingewieſen auf jenen tratto
di paese nelle diocesi di Rieti, che fu detto e si dice Cicoli e
Cicolano.!) Das Licolanum oder Ceculanum fommt im Mittelalter
in allen Bejtätigungdurfunden für das benachbarte Klofter Subiaco
vor.?) Im Regiſtrum von Farfa iſt es ebenfalls nachzumweifen.?)
Es iſt nun leicht zu demonſtriren, daß die Varianten Tecli etc.
partes nichts als Korruptelen von Ciculi oder Ceculi find. Die
richtige Lesart ift Siculi im Beriht an Padua (8 für das franzöfifche
ce vor i). Da nun ciculi abgekürzt mit durchſtrichenem } cich wurde,
ergab ich die Variante cicli rejp. scicli. Da ferner im 13. Sahrhundert
c und t meiſt gar nicht zu unterfcheiden find, wurde von den Abjchreibern
des Berichtes an den Papſt, wo der Name offenbar undeutlich war,
überall t gelefen: aus cecli wurde tecli. Auch die Vorianten ticleri
und titleri find vollauf zu erflären, da } auch in ler (alfo tich,
titli = ticleri, titleri) aufgelöft werden konnte. Ebenfo leicht ift
titui aus ciculi herzuleiten. Es unterliegt jomit feinem Zweifel, daß
iy Brandileone bezieht bereit? die Tecli partes vermuthungsweiſe auf
die genannte Gegend. Ta bei ihm aber jede nähere Begründung fehlt und
jeine Vermuthung felbjt in den neuejten Arbeiten von Buſſon über die
Schlacht von Albe und Hampe Über Konradin von Hohenjtaufen überjehen
wurde, behalten die vorliegenden Erörterungen ihren vollen Werth.
2) Vgl. Il Regesto Sublacense no. 1, p. 3; no. 7, p. 14; no. 10, p. 23
u. a. St.
2) Reg. Farf. III. no. 325 (877) 5. 27: habitatores de massa cicu-
lana; 5.28: Actum in eciculis.
Kiteraturberidt.
Politik: Gefchichtlihe Naturlehre der Monardie, Ariftofratie und Demos
fratie. Bon Wilhelm Rofher. Zweite Auflage. Stuttgart, Gotta. 1898.
VII, 722 ©.
Eine fefte Überlieferung für die Daritellung der Politik als
Wiſſenſchaft befiben wir nicht. Weder die naturrechtlichen Theorien
der Engländer und Franzoſen noch unjere fpekulative Philofophie
haben einen rund gelegt, auf dent die Gegenwart weiter bauen fönnte;
und die vielverfprechenden Anfänge einer hiſtoriſchen Staatdlehre,
al3 deren vornehmſter Vertreter Dahlınann erfcheint, find bisher noch
nicht zun ſyſtematiſchen Ausbau gediehen.
Roſcher ift jeit langer Zeit der erfte, der ed wieder gewagt hat,
Ergebnifje geſchichtlicher Forſchung über Staatenbildung und Ber:
faflungen in ſyſtematiſchem Zuſammenhange darzuftellen. Auf einc
vollitändige Theorie vom Staat ift e8 ihm dabei offenbar nicht an⸗
gefommen: die herfömmlichen Erörterungen über Begriff und Zweck
des Staates findet man in dem Buche jo wenig wie eine Aufftellung
politifcher Poftulate. Hatte Dahlmann 1835 fein Bud in die Welt
gefandt mit dem Wunjche, daß es allen politiichen Selten mißfallen
möchte, jo will R. zur Verſöhnung der Parteien beitragen, indem er
die Einficht in die relative Berechtigung aller Standpunfte zu befördern
fucht. Er fteht feinem Gegenſtande als ruhiger, leidenfchaft3lofer
Beobachter gegenüber; er faßt die Wiſſenſchaft von: Staat als eine
Erfahrungswiſſenſchaft. Das ift der Sinn der Bezeichnung „Natur:
lehre“ des Staates, die er auf den Titel feines Buches gefept hat, —
einer Bezeichnung übrigend, die vor ihm jchon Heinrich Leo in einer
1833 erjchienenen Schrift angewandt hatte. Niemand, der R.’8 wiflen-
98 Literaturbericht.
Die Darſtellung iſt ſo angelegt, daß die einzelnen Staatsformen
in ihren hauptſächlichſten hiſtoriſchen Repräſentanten und ihren all⸗
gemeinen Principien nad) einander abgehandelt werden. Aber ſie ftehen
nicht zuſammenhangslos neben einander, fondern bilden die großen
Entwidlungstufen im politiſchen Leben der Völker. Die regelmäßige
Aufeinanderfolge der Staatsformen iſt nad) R. diefe: Aus dem ur
jprüngliden Geſchlechterſtaate geht zunächſt eine Monarchie hervor,
das patriardhalijch-volfäfreie Urkönigthum. Diefe Monardie verfällt
allmählich; eine ritterlichspriefterlihe Ariftofratie nimmt ihre Stelle
ein. Dann folgt gewöhnlich, geftügt auf den Mitteljtand, der ſich
zwifchen Herren und Knechten herausbildet, die ſog. abfolute Monardjie.
Sie pflegt fi beim Wachſen des Mittelitanded mehr und mehr mit
demofratiihen Elementen zu verfegen und wohl gar einer völligen
Demokratie Platz zu machen. Die Demokratie artet zulebt aus; der
Mittelitand ſchmilzt zuſammen; es bildet fi die Plutofratie mit der
Kebrieite des Profetariat3 heraus. Eine neue Form der Monardie,
der Cäſarismus, iſt fchließlich da8 Ende der Entwidlung. Ausnahmen
von dieſem regelmäßigen Entwidlungdgang werden jelbitverftändlid)
zugegeben, doch wird behauptet, daß fie immer al3 folche nachgewieſen
und erllärt werden können.
Offenbar bedeutet dies Entwidlungsfchenn einen erheblichen Fort⸗
Ichritt gegenüber den von Ariftoteled, Polybios und Madiavelli aufe
geitellten. Aber ganz wie dieſe leidet e8 an dem Mangel einer Unter:
jheidung zwiſchen den fozialen und den eigentlich politiichen Faktoren
der Entwidlung. Das Regelmäßige, was der von R. dargeftellten
Aufeinanderfolge der Verfafjungsformen zu Grunde liegt, iſt doch
eigentli) nur die Umwandlung der gefellichaftlihen Zuſtände, die
feineöweg3 nothwendig mit beitimmten Veränderuugen der Staatöform
verfnüpft ift. Derfelbe foziale Entwidlungdgang ift 3. B. in England
mit der Monardjie verträglich gemwejen, während er in Frankreich zur
Nepublif geführt hat. Hier jind eben noch andere Faktoren wirkſam:
der individuelle Wille fpielt auf dem eigentlich politifchen Gebiet eine
ganz andere Rolle ıwie auf dem fuzialen. Das Aufkommen des Mittel«
ſtandes, das in den antiken Stadtrepublifen die Demokratie hervor»
brachte, hat in der modernen Staatenwelt die fonjtitutionelle Monardjie
erzeugt. Iſt das nicht ein Beweis dafür, daß die durch joziale Ent⸗
widlung bedingten Veränderungen der Staatsjorm fi) ebenſowohl
im Rahmen der Monarchie wie der Republif vollziehen tönnen? Über
haupt ſcheint diefer Gegenjaß, der für die Unterfcheidung des antifen
100 iteraturberict.
pelitiihen Theorien, den er hier bieter, it dus Werk eine? Mannes,
der offenbar die Luellen fennt, teinen Gegenftand gründlich durch⸗
dacht but, Flur und eindringlich darzuitellen veritebt und auch in der
Auswahl meirt einen glüdlichen Zi befunder Mit einer Huldigung
an Ariftoteles beginn: das Buch: „zurid zu Artitotele3'“ iſt der
Schlußgedanke. Tem entierehend wird dus Alterthum ziemlid) eins
gebend bebendell. Ein zweier Abſichnitt umfaßt das Mittelalter
und die Kenarftance, ein drirter Dus I>. Jahrhundert und die Lehre
dom Staatsvertrag. Auf Kinzelmes önnen wir bier nicht eingehen;
nur mag bemerkt ıwerden. daß die ganztiche Übergebung eines Mannes
wie Hugo Grotius doch mobl kaum zu rechtfertigen it. Für Die
Yebre vom Staatävertrige und em Raturrecht überhaupt find die
Reiultaie von Giterke's Bud über Wichuftus 1880) nicht verwerthet
werden. Tas Schlußfavitel erörtert neuere Tbeorier über Souperäne:
tür und Geſeßgebung. über Zweck und Weſen dee Staates, über Die
Bremsen der Wirkſamkeit des Staates und ähnliches ohne wſtematijche
Vollſtändiakeit. Neben Benthem un) Auftis, Mill und Spencer
werden ande dennete Fericher wie Humboldt. Savigny, Bluntſchli
u Aubeirnkudina; Der Standeuntt des Dr. ot ein ethiſch-hiftoriſcher.
Er neht in !aetenniht MER eine Veranſtaltung zur Gewährleiſtung
materietter Sihherre: vendern zuh sur Ereichung idealer Güter.
In dieſem Sinke dekenn: er "su Ariſteteles gegenüber den
iaditalen, itaa!dieindlien Teteertien ver Mill und Spencer. Andrer⸗
ſeits lebnt er als enhicher Rare: Ind Utilitarier die rechts- und
ſiantetniierhöonen Yang des derrichen Ipefulativen Idealis—
mus ab. mitt ehne Meoneehzminee Verzusſetzung, Daß dieſe noch
gegenwartia unſere Wrienſnait dederrichten. Hätte er Ihering's
„met im Kent wien: so manleer derin — bei aller ſonſtigen
Verſchiedenne: — eine Ber cine sde verrendte Auffaſſung gefunden
baben. t2.
Berhitite der Nauena.etenen::! bon dugs Eiſenhart, Projeſſor der
Zange ertzrften sm Nr ammrme Delse DZ. Zweite vermehrte Auf⸗
fan rn bauten Netzer sel VTIL TS
zer Charatter des belaunten Buches. Deren hechbetagter Verfafler
nicht imo dem Ericheinen dieſer zweiten Auflage verftorben
nt, nr feine mein Anderungen erichren. Es ſiellt Die Geſchichte
ver nation:tctencridten Zülteme zwaer want Berüdiichtigung der
beſtandezen Weiseizwirfung zweichen Theorie und Neben, aber in der
102 Literaturbericht.
iiber koptiſche Überſetzungen altchriſtlicher Schriften (S. 886 —917 und
©. 918 -924) von Prof. N. Bonwetſch und Dr. C. Schmidt bei⸗
geiteuert, aber mad auf mehr al3 1000 Seiten übrig bleibt, ift ein
jo reicher, mannidhfaltiger, aus unzähligen Quellen zu erhebender und
jo verjchiedenartige Vorarbeiten erfordernder Stoff, daß feine Be-
wältigung innerhalb eine3 jo kurzen Zeitraums faft unglaublich jcheint
und eben nur 9. gelingen fonnte.
Daß eine Gefchichte der altchriftlichen Literatur endlih einmal
geichrieben werden mußte, wenn zunächſt auch nur bis Eufebius mit
Ausſchluß Thon der Alten des nicänischen Konzil$ von 325, wird
niemand bejtreiten, und auch darein wird man fi finden, dab 9.
die eigentliche Darjtellung dieſer Geſchichte und die kritiihe Beant⸗
wortung der Fragen nad) der Abjafjungszeit der Schriften, ihrer
Echtheit, Unverlegtheit u. dgl. einem zweiten Theile vorbehalten,
hier aber bloß daß überlieferungsgeichichtlicde Material geſammelt hat:
wa3 irgend an Nachrichten über altchriftlide Schriftiteller und
Schriften auf uns gelangt ift, und was wir noch in Handſchriften
beiten, wird in möglichit bequemer Verarbeitung vorgelegt. Ganz
genau läßt jich ja die Aufgabe des einen Theild von der des anderen
nicht trennen; Vieles aus I wird in II wiederholt werden müflen,
und mande Mittheilungen in I, 3. B. über pfeudocyprianifche Traftate,
über die Zuellen und den Charakter verlorener Schriften, find Stüde
der literarfritiichen Behandlung, aber wenn die einfahe Bericht-
eritattung über die Objekte der Literaturgefchichte jo großen Raum
erfordert, würde jie allerdingd nicht gut in Anmerkungen und Ers
furjen innerhalb diefer Gefhichte untergebracht werden können. Und
jehr viel kürzer, als es hier gefchieht, ließ ſich der Stoff nicht wieder
geben; einzelne Citate hätten vielleicht abgekürzt, andere fortgelaffen
werden dürfen, und NRüdverweifungen auf früher jchon Geſagtes
hätten Erjparnijje ermöglicht, aber vielen Benugern wird gerade das
bejonderd erfreulich fein, daß, wenn fie ſich in dieſem Werke Rath
erholen über einen Autor oder ein Buch, jie das überlieferungs«-
geihichtlihe Material bequem beifammen finden und, ohne erft viel
Citate nachſchlagen zu müfjen, zu einem Urtheil über den Stand der
Sade bejähigt werden.
Dem Zweck der überfichtlichen Bertheilung eines riejigen Stoffes
dient Alles in der Anlage des Buches, auch die ausführlichen Regifter
der Autoren und Schriften, der im Texte aufgezählten Manuffripte,
endlich der Snitien von Schriften und Schrijtfragmenten (S. 935 bi
104 Riteraturbericht.
erhaltenen Fragmente fähe man gern fyftematifch herangezogen, und
in Abſchnitt X und XI wäre wohl ein minder fummarifches Verfahren
bisweilen erwünſcht; allein bei diefer Literatur fehlt es theilweife
noch an den grundlegenden Unterfuhungen, auch wird dieſe kaum
balb der alten Kirche oder überhaupt der Kirche zugehörige Schrift-
ftellerei in einer „Geſchichte der altchriftlichen Literatur“ immer nur
einen Nebenplag beanſpruchen können. Alle Fragmente aber, 3. B.
bed Origenes oder des Euſebius oder des Hippolytus, die in den
mittelalterlihen Sammelmwerfen, großentheild noch unedirt, zerftreut
liegen, zu jammeln und unterzubringen, würde eine mehrere Jahre
ausfüllende Arbeit gemejen fein, die bequemer Hand in Hand mit
Heraudgabe der einzelnen Terte felber gethan wird. Sollte die
Überſicht über das Material gegeben werden als Einleitung zu dem
großen Unternehmen, das hoffentlich nunmehr fichergeitellt fein und
energiih in Angriff genommen werden wird, fo mußte verzichtet
werden auf den Grad von VBollitändigfeit, der „ohne neue bibliothes
farifche Forfchungen“ eben nicht zu erreihen war. In der Auf—
zählung der vorhandenen Handidriften hätte allenfall8 auch ohne
jolde nach Vollkommeneres geleijtet werden fönnen, und unter den
Drudausgaben hätte nicht nur die editio princeps — auch daß ges
Ihieht nicht ausnahmslos —, fondern auch die bisher befte genannt
werden jollen. Daß ein Scriftjteller zumeilen nad) verjchiedenen
Ausgaben — 3. B. das Chronicon Paschale bald nad) Ducange,
bald nad) Pirndorf — citirt wird, erklärt und entichuldigt die Bor:
rede; leider hängt damit der Übelftand zufammen, daß manche Beleg-
ftellen nur jehr ſchwer aufzufinden find: mit der Angabe 3. B. auf
©. 435: Facundus Hermanniens. bei Sirmond, opera II 740 ift
Wenigen genupt; jelbjt wenn man das richtige Hermianensis bers
ftellt; e8 follte heißen: Facund. Herm. pro defens. X 6 init.
Wegen Kleiner AInkorrektheiten und einzelner Verſehen wird ein
verftändiger Beurtheiler einem jo verdienitvollen Werke daß Prädikat
der Buverläfjigfeit nicht abjprechen. Immerhin bleibt in Diefer
Richtung am meijten nadjzubefjern; Druckfehler jind ſehr zahlreich,
die Schreibung der Eigennamen jehr ſchwankend — 3. B. begegnet
Ehrhardt neben Ehrhard, Eimon neben Eimeon de Magiſtris, Vulenger
neben Boulenger, Philipps und Phillips neben Phillippd —; in dem
Snitienregifter, deſſen Brauchbarfeit von der Richtigkeit der alpha»
betifchen Reihenfolge abhängt, jtehen mehrere Lemmata an faljcher
Stelle — z. B. Eneidı, (nuisuxıs) a anoıxuederg 5 reſp. 9 Beilen zu
106 Literaturbericht.
In dem Paragraphen z. B. über Victorinus von Pettau, Der von
Preuſchen gefertigt it, zähle ih auf 3 Seiten 732—4 mehr al
50 Korrigenda, keineswegs bloß gleichgiltige; über den „unter dem
Namen ded Victorinus ftehenden Kommentar zu der Apokalypſe“
wird fogar ein ganz irreführender Bericht eritattet. Ich erwähne
died nicht, um H.'s Mitarbeiter oder H. felber Vorwürfe zu machen,
fondern nur um der mißgünftigen Kritik, der auch dies fo überaus
dankenswerthe Werk ausgeſetzt jein wird, nicht parteiifch zu erjcheinen:
wenn zwei Menſchen, jelbit von ungewöhnlicher Arbeitskraft, in 21/e Jahren
einen jo immenjen Stoff zu verarbeiten hatten, fann man nur bes
wundern, daß ihrem Werke nicht mehr Mängel anhaften, als es hier
der Fall if. Mußte der Band I noch 1893 fertig geftellt fein, fo
fonnte niemand ihn vollfonımener hberjtellen, und die patriftifche
Wiffenfchaft wird dankbar für die große Gabe, die fie hier empfangen
bat, auf die noch größere harren, die ihr in einer boffentlih in aller
Ruhe und in einen Guß gejchriebenen Geſchichte der altchriftlichen
Literatur bis 325 der dazu vor jedem Anderen berufene Patrijtiler
ſchenken wird. Ad. Jülicher.
Leges Visigotorum antiquiores. Fontes juris Germanici anti-
qui in usum scholarum ex monumentis Germaniae historicis separatim
editi. Edidit Karolus Zeumer. Hannoverae et Lipsiae 18%.
XXI, 395 ©.
Über drei Jahrzehnte hindurch mußte ich in der Vorlefung über
Rechtsgeſchichte bei den Wejtgoten erklären: „ed gibt nur (Eine
brauchbare Ausgabe der Lex Visigotorum, die Madrider von 1815,
und dieſe iſt unbrauchbar“: vor Allem deshalb, weil fie die Hand
fchrijten in vielen Fällen nicht wog, nur zählte. In der That, wer
ih je mit diefer Duelle befaßte, mußte gar oft darüber Elagen, daß
ihm nur Eines jeit jtand: die Unrichtigfeit der gegebenen Ledart, da⸗
gegen die richtige ſich faum errathen ließ.
Diefe Noth ijt jet für den weitaus größten Theil des Weit
gotenrechtö gewendet: in der vorliegenden Ausgabe der Monumente
ift die Antiqua und die Lex Visigotorum Rekiswinths in wahr
haft mujtergiltiger Weile hergeſtellt. Ward jie doch beſorgt durch
denjelben Mann, dem wir die ausgezeichnete Ausgabe der Formel⸗
jammlungen in den „Monumenten“ verdanken; ich trete feinem zu
nahe, nenne ich Karl Zeumer den zu diefer Arbeit meift Berufenen;
er hat jie mit viel bewährter Gründlichkeit und Sauberfeit ausgeführt.
108 Literaturbericht.
ſoweit vorgeſchritten war, wie die Antiqua darſtellt. Ferner kann
ich (trotz 3.8 Widerſpruch S. XII) meinen Gedanken nicht fallen
laſſen, daß das bloße bonae memoriae, vom Sohne gegenüber dem
Vater gebraucht, nicht paßt auf den gefeierten Helden Theoderich,
der in der Hunnenſchlacht fiel, trefflich aber auf den ketzeriſchen Leo⸗
vigild, dem der Fatholifche Sohn eine sancta oder beata memoris
nit nachrühmen durfte. 3. meint freilih, er würde ihm nicht
einmal bonam memoriam zugebilligt haben! Aber Rekared ball
doch jeinem Vater regieren: 3. B. Hermenigild’8 Empörung nieder
werfen; fonnte er nicht „gut“ nennen, was er jelbft mit getbhan?
Weiter: es ift überliefert, Eurich bat (zuerft) weſtgotiſche Geſetze
erlafien; gewiß: aber folgt daraus, daß fie ung erhalten fein müflen?
Der erfte Hobenzoller in Brandenburg hat auch Rechtögebote erlaffen:
würde daraus folgen, fal8 und nur das preußifche Landrecht erhalter
wäre, daß dieſes don jenen herrühre? Endlich, daß Rekared Gejehe
erlafjen, jteht ebenfalls feit: einige benubt ja 8. jelbit.
Allerdingd iſt aber einzuräumen, daß die Spradhe der Antiqua
einfacher ijt als die der ſchwülſtigen Geſetze aus dem 7. Jahrhundert,
und ſchwer fällt in's Gewicht, daß die vorausgefehten Streitigfeiten
und Ungemwißheiten bezüglich der Landtheilung zwiſchen Goten umd
Nömern beſſer ald in die Zeit Rekared's in die Eurich's pafien, fo
dag ich allerdingd durch die neuen Ausführungen 3.8 in meinem
Widerſpruch ſchwankend geworden bin.
Gewiß wird auch die zu erwartende Ausgabe der Gejege der
Nachfolger Rekiſwinth's wie die hier bejprochene eine ausgezeichnete
Leiſtung jein. Dahn.
Geicichte des TDeutichen Reiches während des großen
1245— 1273. Auf Grund einer von der pbilofophiichen Falultät der Julims«
Maximilians-Univerſität gefrönten Preisichriitt umgearbeitet und ergänzt.
Son Dr. 3. Kempf. Würzburg, A. Stuber's Berlagsbudhbendlung. 1898.
VIII 292 2.
Tie vorliegende Arbeit it eine erireulihe Frucht der Nem-
bearbeitung der Böhmerſchen Regeſten. Kempf bat aus der Fülle ber
Ereigniſſe mit reitem Urtheil meiſt daS Weientliche berauszubeben ge:
mwußt und, was heute leider nicht mehr jelbitveritändlid if, eine leb-
bare Daritellung gelieiert. Beſonders ſorgiältig ift die Regierung
Koniq Rilbelm’& bebandelt, deiten Bemühungen. mit feiner ſchwachen
Hausmacht ein fette: Rönigtbum zu gründen, ichart hervorgehoben
110 Kiteraturberid)t.
Geſchichte der im 11. und 12. Zahrhundert zwifchen Papſtthum und
Kaijerthum geführten Kämpfe, dem wird das Bud eine Enttäufchung
bringen. Neben einer breiten Scilderung der päpftlihen Bolitit
gegenüber den meltlihen Mächten macht der Bf. zwar aud die
wechſelnde Stellung des Papſtthums zur Frage der inneren kirchlichen
Reform da und dort zum ©egenftand feiner Betrachtung, keineswegs
aber in der Weife, daß der Lejer ein lebendige und anſchauliches
Bild von den bedeutenden religiöfen Kräften und Bewegungen jener
Zeit, von dem vom Mönchthum audgehenden und in die Qaienfreife
eindringenden firchlichen Aufſchwung, von der Bedeutung der Tehe
riihen Volksbewegungen erhält, obwohl eine Geſchichte der Entwidlung
des Esprit de reforme gerade diefe Seiten des religiöfen Lebens in erfter
Linie zu berüdfichtigen hatte. Eine Vertiefung der Tarftellung bes Bf.
nad) der bezeichneten Seite bleibt für die weiteren Theile des Wertes
um fo mehr zu wünfchen, al3 der vorliegende Band durd die um-
fihtige Benußung der Duellen, durch die Schärfe und Selbitändigfeit
des Urtheil® und die anziehende und überſichtliche Darftellung fid
vortheilhaft auszeichnet. Eine erhebliche Beeinträchtigung erfährt freis
ih der Werth des Buches dadurd, daß aud die herborragendften
deutichen Arbeiten über die Geſchichte des Papſtthums im Mittelalter
ſeitens des Vf. unbeacdhtet und ungenußt geblieben find. |
Herman Haupt.
Hand Georg dv. Arnim. Lebensbild eined proteitantiichen Yelbherrn
und Staatsmannes aud der Zeit des Treibigjährigen Krieges. Non
Dr. Georg Irmer. Mit einem Bildnis Hans Georg's v. Arnim. Leipzig,
Berlag von ©. Hirzel. 1894. XIV, 398 €. -
Auf dem Gebiet der Geſchichte des Dreißigjährigen Krieges, auf
dem wir in Ranke's Wallenjtein ein Mujter Icbensgefchichtliher Dar:
jtellung bejißen, ijt eine der dringenditen, aber auch fchwierigiten Auf⸗
gaben durch das vorliegende Lebensbild gelöft, trefflich gelöft worden.
Tie Schwierigkeit liegt zum Theil im Gegenſtande felbf. „Grund
verfchieden in feinem Denfen und Handeln von feiner Umgebung, tritt
Arnim fait ganz aus den: Rahmen jeiner Zeit heraus“ ; feine tief-
gegründete Perſönlichkeit iſt an ſich nicht leicht verjtändlih. Dazu
fommt, daß er feinen Gedanken zwar, dank der Höhe feiner Begabung,
überall einen gewiljen Einfluß und Geltung hat erzivingen, aber
ihnen, ohne den Rüdhalt eigener Macht, nirgends eine reine Wirkung
verichaffen, ihre Eigenart und Eelbjtändigfeit nicht frei hat entfalten
114 Literaturbericht.
entfernt war, in Deutſchland jemals ſchwediſche Politik zu treiben.
Nicht eigentlich von Guſtav Adolf, der das Entgegenkommen Arnim's
1631 wohl zu ſchätzen gewußt hat (Briefe vom 16. und 17. Mai 1631)
und ihn ſehr gern in ſeinen Dienſt gezogen hätte (Bemühungen
März 1632), iſt ihm das verdacht worden, wohl aber von anderen,
Schweden wie Deutſchen.
Inmitten der folgenden wechſelvollen Ereigniſſe, auf die hier nicht
näher eingegangen werden kann, iſt es von großem Weiz, zu be
obadhten, wie Amin Schritt für Schritt mit entgegenitehenden Uns
fihten um die Zeitung der kurſächſiſchen Politit gerungen hat. Mit
Hülfe der von 3. gegebenen Aufklärungen ließe ſich das im einzelnen
zeitlich verfolgen. Arnim's militärisch-politifche Hauptabficht war von
Anfang an auf Schlefien gerichtet (S. 145. 160.185); erit im Auguft 1632
drang er völlig damit durh. Um die Wende ded Monats folgten
feine Siege bei Steinau. Aber aldbald wurden feine ſchleſiſchen Pläne
wieder geitört, die politifchen durch Mleinungsverjchiedenheiten mit
Kurfürit Johann Georg, die 3. nur nadträglid (S. 282) erwähnt,
die militärifchen durch; den Umfchwung der Lage mit dem Einfall
Holk's (der übrigend S. 192 nad) der moralifhen Seite hin zu ab-
fällig beurtheilt wird) in Sachſen, wo unter verwidelten, fortwährend
ſich ändernden Berbältniffen!) die Entjcheidung fich vorbereitete.
Sie erfolgte bei Lützen. Sachſen wurde befreit. Guſtav Adolf
der Befreier aber fonnte die politiichen Früchte feiner That nicht
ernten. In dem großen König fiel dad gemeinfame Oberhaupt der
Evangelifchen hinweg; zwiſchen ſchwediſcher und ſächſiſcher Politit
fam es zur reinlichen Scheidung. Damals gewährte Kurſachſen Arnim
Raum zu Hlarer Weiterentwidlung feiner Pläne deutſch-evangeliſcher
Selbitändigfeit; in Franz Albrecht von Lauenburg wurde ihn ein all«
zeit getreuer Genoſſe von der idealen fogenannten dritten Partei als
Feldmarſchall zur Seite gejegt. Es iſt nun leider nicht möglid,
auf die Verhältnifje, wie jie ſich jetzt entwidelten, hier irgendwie ein-
zugehen. Man weiß, wie die Verhandlungen mit Wallenjtein in
jener Zeit ganz in den Vordergrund traten, und welch' großen inneren
und äußeren Antheil Arnim an ihnen hatte. J. iſt durch feine früheren
1) über die Anfichten, die Arnim Anfang November in Torgau fid
bildete, vgl. Svenskt Krigshist. Arkiv 2, 636 und 638 (mit der Klage über
feine Abhängigkeit). Guſtav Adolf wünſchte zulept felbft, daß Arnim, den er
in der legten Zeit wiederholt jeines vollen Vertrauens bat verfihern laflen,
in Schleſien bleibe (Irmer S. 196 f.\.
118 Riteraturberidht.
burgifchen Dienft auf Wartegeld und deren theilmeije Anjtellung in der
Domänenverwaltung, wozu die Einleitung zum 2. Band meiner Proto-
folle zu vergleichen ift, find Maßregeln in diefem Sinne.
Ich könnte noch einige andere Punkte auß der Arbeit des Bf.
vorführen, jo feinen Hinweis auf die verjchiedenartige Tendenz, welche
den Güterfchenfungen der Krone Schweden an die höheren Offiziere
zu Grunde lag, von der tiefen ftaatSmännifchen Abficht, die Ouſtav
Udolf damit verfolgte, nämlich der, da8 auf dem Grundbefiß beruhende
Syſtem der allgemeinen Heerespflicht auch auf die germorbenen Truppen
theile auszudehnen, und durch Güter-Belehbnungen die Regimentd
Obriften und Werbeoffiziere ebenfo wie die Generale und Heerführer
an die Krone zu fetten, bis auf die wilden Verjchleuderungen der
Krongüter im banferotten Staat der Königin Chriftine, wodurd dad
Gebäude der ſchwediſchen Militärmonardie in feinen Grundfeften er
jchüttert wurde, aber ich beſcheide mich im Hinblid auf die Arbeit
jelbjt, welche eine Lücke in der gefchichtlichen Literatur befriedigend
ausfüllt.
Dem Fleiße des Vf. gegenüber, der bei den zahlreichen Berufs⸗
arbeiten eines Bibliothefsbeamten no Zeit gefunden bat, fogar
archivalifche Studienreifen zu unternehmen, unterdrüdt der Kritiker
gern einzelne Ausjtellungen, weiche gegen die manchmal ungleichartige
Forſchung und Darſtellung und die etwas zu breite Anlage, naments
lich im Abfchnitt der weitjälifchen Friedensverhandlungen, zu erheben
wären. Meinardus.
Die Kirchenpolitik Friedrich Wilhelm's, des Großen Kurfürften. Bon
Hugo Landwehr. Aui Grund ardhivaliicher Tuellen. Berlin, E. Hofmann
& Co. 1894. XII, 386 S.
Daß diefed aus verjchiedenen früher veröffentlichten Einzelitudien
erwachſene Buch des bald nad) feiner Vollendung veritorbenen Bf.
dur) den Verſuch einer kritiſchen Reviſion der bisher vormwaltenden
Anfichten über die Kirchenpolitik de3 Großen Kurfürſten eine nüßliche
Anregung gegeben Hat, ift von der Kritik jofort ziemlich einmüthig
anerfannt worden, und auch Wei. fann ſich im allgemeiner diefem
Urtheil anſchließen. Das Bedürfnis einer Reviſion ergibt jich einer-
jeit3$ daraus, daß allerdings nicht ganz in Abrede zu ftellen iſt, daß
der reformirte Kurfürſt Friedrich Wilhelm jelbit in feiner Behandlung
der firdlihen Angelegenheiten doch hin und wieder dem fonfefjionellen
Geiſte des Nahrhundert3 in etwas ſtärkerem Maße feinen Tribut
120 Literaturbericht.
gegebene 1. Band der ſtändiſchen Verhandlungen (Urk. u. Ultenft. XV)
nicht mehr benußt werden fünnen. Es kann hier nicht ausführlich dar»
gelegt werden, wie der Vf. im Einzelnen den Örundgedanten feiner Arbeit
durchführt, wie er das Iutherifche Element als das mehrfady mit
Unrecht angegriffene und in begründeten Rechten verlegte nachweilt,
wie er jtreitfüchtige Gehäffigfeit auch bei den reformirten Gegnern
findet und eine gewiſſe einfeitige PVarteilichfeit für feine Bekenntnis
genofjen auch bei dem Kurfürften felbft zu konſtatiren ſich bemüht.
Das Thatfählihe und zum Theil Neue, was hiefür beigebracht wird,
beſonders für die Konflikte in der Mark in den fechziger Jahren,
wird man in den meilten Fällen unbedenklich zu acceptiren haben,
wenn man aud bei manchem geneigt jein wird, es etwas weniger
Scharf zu accentuiren und die Öegenrechnung etwas jchärfer zu betonen.
Bisweilen fchießt der Vf. in feinem Eifer entjchieden über das Biel
hinaus: wenn er den Sinn des ſog. erften Toleranzedikte vom 2. Juni
1662 dahin erläutert, daß das öffentliche „Verdammen, Verketzern“ ıc.
der Gegner nur den lutheriſchen Predigern unterjagt wurde, den
reformirten dagegen freigeitellt blieb (S. 204), fo ift dieß jedenfalls
nicht der Sinn des Edikts geweſen und iſt aud) mit dem Wortlaut
nicht zu vereinigen.
Immerhin aber mag man e3 als thatfächlich und erwiejen gelten
lafien, daß den Qutheranern in den Landen des großen Kurfürſten
hin und wieder etwas zu nahe getreten wurde, was fie übrigens reic-
lich zurüdzahlten; in jenen Zeiten eines überreizten konfeſſionellen
Empfinden? ijt das im Grunde jogar leichter begreiflid, als es eine
im völligen Gleichgewicht jtehende Toleranz fein würde. Unfer Vj.
freilich theilt, wie es fcheint, für feine Perſon felbit bis zu einem
ziemlich) hohen Grade jene exkluſive Belenntnisftimmung; fein Bud
trägt ald Motto den Sprud) Paul Gerhardt's: „Hüte dich ja vor
Synkretiſten, denn die fuchen das Zeitliche und find weder Gott nod)
Menſchen treu”; bei aller auögeiprochenen Achtung vor Toleranz und
Unionsbejtrebungen ijt er doch im Grunde aller „religiöfen Glaubens⸗
mengerei“ jehr abgeneigt und preijt die alten Zeiten glüdlich, wo
Jedermann noch jeit auf jeinem bejtimmten Bekenntnis ftand, wo nicht,
wie heute ojt, „Öebildete vor der Frage jtraucheln, welchem Belennt-
nid jie denn jeßt eigentlid) angehören”, und wo „auch der gemeine
Mann genau wußte, welchen Glauben er hatte” (S. 354). Man kann
einen jolchen poſitiv fonjejjionellen Standpunft gelten lafjen; aber in
einem der Kirchen politik des großen Nurfürjten gewidmeten Buche
122 Literaturbericht.
bei einer zweiten Auflage, die gewiß nicht allzulange auf ſich warten
läßt, mit Leichtigkeit beſeitigen laſſen. Im vorletzten Kapitel ſind feine
und einleuchtende Beobachtungen über Leſſing's Sprache in überſicht⸗
licher Anordnung zuſammengeſtellt, während das letzte Leſſing's Lebensſ⸗
ausgang ſchildert. Sowohl um der glänzenden Herrſchaft über das
Material als um des Scharfblickes in der Auffaſſung und der Sicher⸗
beit der Darſtellung willen darf das geſammte Werk einen Ehrenplatz
unter unſeren deutſchen Biographien beanſpruchen.
Georg Ellinger.
Briefe Friedrich Leopold's Grafen zu Stolberg und der Seinigen an
Johann Heinrich Voß. Nach den Originalen der Münchener Hof» und Staate⸗
bibliotHet mit Einleitung, Beilagen und Anmerkungen berausgegeben von
Dtto Hellinggaus. Münfter i. W., Aſchendorff. 1891. LV, 546 8M.
Die Publikation, die wir bier jpät zur Anzeige bringen, ver:
dient lebhaften Dant. Bon Stolberg’3 Briefen an Voß (die Briefe
von Boß an Stolberg find zweifellos vernichtet worden) kannten wir
bisher nur Bruchſtücke. Aber erjt der Abdruck der ganzen Folge gibt
und Einblid in die fangjame (Sntjremdung der beiden Männer. In
einer augführlihen Einleitung weiſt Hellinghaus nad, aus welchen
Gründen feine dauernde Freundſchaft möglich war zwijchen dem weichen,
gefühlvollen Grafen, der in fonniger Jugend eine forgfältige Er—
ziehung genoflen hatte, dem Dichten Genuß war, der in treuer Vaters
landsliebe und inniger Neligiojität erwuchs, und auf der andern Seite
dem hart=- veritändigen Abkömmling von Leibeigenen, in dem nad
rauher Kindheit eine weltbürgerlicje, der Orthodorie feindliche Lebens⸗
auffaffung jich ausgebildet Hatte und dem unter Müh’ und Sorge
jelbjt die Tichtkunft zur Arbeit wurde. In der That erkennt man
jest, da die faft ununterbrochene Reihe von Stolberg’8 Briefen vor⸗
liegt, wie früh ji) die Trennung vorbereitete, obwohl die alte Hera
lichfeit immer wieder hervorbrad), doppelt heftig nach jedem Zer⸗
würfnis, doppelt heftig auch, wenn ein Beſuch und mündlicher Aus
tauſch die Mißverjtändniffe wieder aufklärte, die durch den brieflichen
Verkehr entitanden waren.
Bon der leiſen Vorbereitung jeiner religiöjen Belehrung, die für
den endgültigen Bruch das Entjcheidende war, ſchweigt Stolberg dem
Freunde gegenüber andauernd; aber von vielerlei anderen trennenden
Momenten lejen wir in und zwiſchen den Zeilen. Bei Stolberg, der
gewöhnlich in höchſter poetilcher Hitze, eiligit, ohne Reflexion feine
124 Literaturbericht.
druck mit folgendem Titel: „Die ſchöne Bäkkerin. Eine Legende.
Nebſt einer Apologie an den ehrwürdigen Pater S. in M. Der
Preis iſt 3 Groſchen. Desſau, An der Buchhandlung der Gelehrten.
1781.“ Der Ort M. iſt Münſter; dort war das Februarheft des
„Deutſchen Muſeum“ konfiszirt worden, denn die „ſchöne Bädern“,
die harmlos mit dem Motiv von Ayrer's „Ehrlich Bedin“ beginnt,
endet als gelungene Satire auf die fatholifche Geiftlichkeit. In beiden
Druden ift das Gedicht unterzeichnet mit „B..xr“, was faum andere,
als „Bürger“ zu deuten if. Auf ihn paßt ſowohl da8 Gedicht, wie
die Apologie. An Blumauer ijt nicht zu denken.
Albert Köster.
Karl Friedrich's von Baden brieflider Verkehr mit Mirabenu und
Dupont. Herausgegeben von der Badilhen Hiftoriihen Kommiſſion. Be⸗
arbeitet und eingeleitet burd) einen Beitrag zur Vorgeſchichte der erften
franzöſiſchen Revolution und der Phyſiokratie. Bon Karl Knies. 2 Bände.
Heidelberg, Winter. 1892. CLXII, 284 ©.; XVI, 398 S
Mit dem vorher genannten Werke ift Knies zu der von ihm in
den fünfziger Jahren eifrig gepflegten Literaturgefchichte der National»
öfonomie zurückgekehrt. Damals folgten raſch aufeinander Die Zur
fammenfafjung der nationalökonomiſchen Anſichten Machiavelli’3 in
einem lehrreihen Aufſatze; die Gefchichte der politischen Okonomie feit
Adam Smith in einer Abhandlung, welche noch heute nicht übertroffene
Theile enthält; die Schlihtung des Streited der Statiftifer und Die
Aufſtellung der Ziele der Hiftoriichen Nationaldöfonomie mit ebenfo
Iharfer Logik wie gründlicher Kenntnis der Literatur der politifchen
Okonomie. Die Bearbeitung des Briefwechſels zwifchen dem Mark:
grafen von Baden und franzöjiihen Phyliofraten läßt ihn ein neues
Gebiet der Literaturgefchichte betreten; er erweitert die Quellenkenntnis
einer für Nationalölonomie und politische Geſchichte wichtigen Zeit,
für die feit bald zehn Jahren unter den Nationalölonomen neueb
Intereſſe ermadt iſt. Es wird bezeugt durch eine Reihe vortrefflicher
Urbeiten von U. Onden, Auffäge von Bauer, Higgs, Feilbogen, ein
Wert von Schelle über Du Pont de Nemourd, den Neudrud des
Werkes Cantillon’8, des „eriten” Vaters Mirabeau's, feitend der
Harvard University und eine foeben durch die Economic Aseo-
ciation veröffentlichte Facſimileausgabe des Tableau Economique.
Das Material des 1. Bandes bejteht hauptfächlih auß der Kor
reſpondenz zwifchen dem Markgrafen von Baden mit dem Marquis
von Mirabeau und Tu Pont aus den Jahren 1769—1787 bezüglich
126 Riteraturberidt.
Ideen ift nicht genügend erforfht. Was Ref. verjuchte, bezog ſich
nur auf die allgemeinen philofophiihen Grundlagen. Wir bedauen:
ed, daß K. die Vielſeitigkeit und Gründlichkeit feiner Studien nicht
in den Dienft diefer Aufgabe hat ftellen wollen (vgl. I, S. XXVIH u.
CXVII). Dagegen fcheint und die Übergehung der Beiprechung der
fo oft behandelten droits fendaux und der von Emminghaus lichtvoll
dargeitellten phyſiokratiſchen Verſuche in Baden gerechtfertigt zu fein.
Möchten und recht viele ebenfo werthvolle Monographien vor dem
Erſcheinen einer neuen Literaturgejhichte der Nationalölonomie be
ichieden fein! W. Hasbach.
Dad KurfürjtentHum Hannover vom Bajeler Frieden bis zur preußiſchen
Okkupation im Jahre 1806. Nach ardivaliichen und handſchriftlichen Quellen
von ®. v. Haſſell. Hannover, Karl Meyer. 189. 465 ©.
Die archivaliihen Quellen, welche der Vf. benubt hat, beſchränken
jih auf die Alten des Staatdarhivs zu Hannover. Aus diefen Hat
er Neued namentlich in Bezug auf den Anſchluß Hannover? an den
Bafeler Tsrieden, fowie auf die erjte Okkupation des Kurfürftenthums
durch Preußen (1801) beigebradt. Neu ijt auch die Darftellung der
Phaſe von der Sulinger Konventien bi8 zur Artlenburger Kapitulation.
Die übrigen Abfchnitte des Hafjel’ichen Wertes wiederholen im
Weſentlichen nur Befanntes.
Für den Zeitraum von 1795 bis 1805 begnügt der Bf. fi
auch Hinjichtlich der gedrudten Quellen faſt ganz mit der Hannovers
Ihen Literatur. Preußifche Quellenwerke, wie die für die preußifch-
hannoverſchen Beziehungen in diefem Jahrzehnte hochwichtige Publis
fation von Bailleu, läßt er völlig unbeadhtet |
Die Erzählung der Ereigniffe, welche zur Bejignahme Hannovers
durch Preußen im Jahre 1806 führten, beruht bei H. nach defien
eigener Angabe vorwiegend auf der Darftellung, welche Ranke davon
im 1. Bande der Denkwürdigkeiten Hardenberg’8 gibt. Was der Bf.
aber nicht geiteht, ift, daß er in ausgiebigitem Maße Ranke's Worte
in jeine Darjtellung übernimmt, ohne ſie ald ſolche kenntlich zu
machen. Ref. hat fi nicht weniger als einige fünfzig derartige
Blagiate notirt. Man vergleihe 3.8. 9. 8.3571. = NR. ©. 478. 481;
H. 360 — R. 489 ff.; 9. 361f. — R. 4935; H. 35 — R. 515;
H. 385 = R. 531; H. 387 = N. 532 f.; H. 395 = R. 548; H. 396
— N. 549; 9.407 = N. 564 f.; H. 414 = N. 564. 566. 567. 569;
H. 415 — R. 569; H. 416. — R. 571-575; 9.424 — N. 595
128 Riteraturbericht.
Abänderungen mit der angeblichen Meinung desjelben in Einklang zu
ſetzen ſucht. Nah H. heibt e8 in der Denkſchrift: „Napoleon bietet
und eine glänzende Erwerbung, durch deren Unnahme wir den $lrieg
vermeiden können, während wir vor drei Monaten faſt entichlofjen
waren, um ihretwillen an dem Kriege theilzunehmen. Deshalb halte
ich es für unumgänglich nöthig, den Vertrag, wie er ift, zu ratifiziren,
allenfalls mit den nothmwendigen Ergänzungen und Einſchränkungen,
die in einem Memoire explicatif hinzugefügt werden könnten.“ Den
erften diefer beiden Sätze ſucht man in der Denkichrift vergebens |
Der zmeite lautet dort: „ES folgt hieraus, dab der Traktat vom
15. Dezember mit den in dem (von Haugwig zugleih mit feinem
Bericht vom 26. Dezember 1805) eingereihten Memoire explicatif
binzugefügten Einfchränfungen und Unfichten ratifizirt werde.” Wie
bier, jo citirt 9. regelmäßig ungenau. Er flidt, wie eben an einem
Beiipiele gezeigt ift, völlig erfundene Säße in die Citate ein, er läßt
nah Belieben Worte, Sabglieder und ganze Sätze aus, ohne dies
auch nur anzudeuten, er verbindet Säße, die durchaus nicht zufammen-
gehören, er ändert Ausdrüde, Sapfonftruftionen ꝛc. in weiteſtem
Umfange ab und umgibt gleihmwohl dad Ganze mit Anführungszeichen,
verfichert wohl noch gar außsdrüdlich (jo auf S. 177), daß er wörtlich
citirel Die von H. vorgenommenen Änderungen find nicht felten
tendenziöfer Natur, namentlid) da, wo feine fichtli vorhandene Ab⸗
neigung gegen Preußen (vgl. 3. B. ©. 50, wo dieſes mit einem
Raubthiere verglichen wird) in Frage kommt. So behauptet der Bi.
auf ©. 429 unter ausdrüdlidher Verweifung auf einen Augenzeugen,
Hausmann, mit jedem Tage fei der Widermille gegen Preußen in
Hannover geftiegen, und niemals fei der Geburtätag des rechtmäßigen
Königs mit größerer Begeifterung gefeiert worden, wie am 4. Juni
1806. Auch babe in der ganzen Nefidenz großer Jubel geherricht,
al3 eine vor dem Fürſtenhofe aufgeftellte Schildwadhe in tragikomiſcher
Weile verunglüdt ſei. Thatſächlich fteht bei Hausmann nur, ber
Geburtötag Georg's III. fei „in Privatzirteln mit großem Enthuſias⸗
mus gefeiert“ worden, und die hannoverſche Bürgerfchaft habe den
Unfall der preußiihen Schildwadje „fait mit Jubel“ vernommen.
Nah allem dieſen wird man fich fchwerlich entichließen können,
dem Bf. da, wo er auf Grund ardivalifchen und handfchriftlichen
Materiald Neues beibringt, unbedingten Glauben zu fchenten.
Friedrich Thimme.
130 Riteraturberidjt.
Alten gemadt. Da diefe Schriften dem Bf. entgangen find, ift diefer
Theil feines Werkes etwas ſchwach ausgefallen. Inhaltreicher und
anſchaulicher ift die Daritellung der Thätigfeit Thielmann’3 im Felde
zuge von 1815 und namentlich des Gefechtes bei Wavre am 18. Juni,
wo Thielmann, als Befehlshaber des 3. preußifchen Armeecorps, die
faft doppelt fo ſtarke Abtheilung von Grouchy feithielt und dadurch
verhinderte, an der Enticheidung bei Belle-Alliance Theil zu nehmen.
Nur wäre zu wünfchen, daß dem Lefer durch eine Überſichtskarte oder
durch Skizzen erleichtert würde, dem Gange der Operationen zu folgen.
Paul Goldschmidt.
Binterim und Mooren: Die Erzdiöcele Köln bis zur franzöfifchen
Staat8ummälzung. Neu bearbeitet von Dr. med. Wlbert Mooren, Geb.
Medizinalrath. Bd. 1 XVI, 689 S und 2 XVIII, 654 ©. Düſſeldorf,
8. Bob & Co. 1892 u. 1893.
Dieje neue Ausgabe des Hauptiverfed des um die niederrheinijche
Geſchichte Hochverdienten Wachtendonker Pfarrer? Joſeph Hubert
Mooren, der 1887 im Ulter von 90 Jahren geitorben ift, hat deſſen
Neffe, der Geh. Medizinalratd Mooren in Düfjeldorf, beforgt.. Man
wird ed al3 einen Alt der Pietät anerkennen, daß der einen Weltruf
genießende Augenarzt ſich damit auf ein feiner fonftigen Beſchäftigung
fo fern liegendes Urbeitögebiet begeben hat, und diefem Umjtand auch
bei der Beurtheilung des Werkes Rechnung tragen. Mancherlei in
der neuen Ausgabe muthet und doch etwas veraltet an; Texte mit
unaufgelöften Abkürzungen find wir heutzutage nicht mehr gewohnt
im Drud zu lefen. Und auch die Art, in welcher das urkundliche und
fonftige Material zur Erläuterung des liber valoris herangezogen und
beurtheilt ift, läßt an vielen Stellen den Mangel einer ficheren
methodifhen Schulung erfennen. Diejer liber valoris, ein Zehnt⸗
regijter der Kölner Kirche au dem 14. Jahrhundert, deſſen Entdedung
für Binterim und Mooren überhaupt die Veranlafjung zu der Heraus
gabe des fleißigen Werkes wurde, bildet den Grundftod des 1. Bandes.
Voraus gehen ihm, wie in der erften Ausgabe, eine Reihe von ein=
leitenden Hijtorifchen Abhandlungen, über die Grenzen der Erzdiöcefe,
die Dekanatseintheilung u. a. Daß der liber valoris eine Steuer:
tabelle der Geiſtlichkeit für Kreuzzugszwecke geweſen ift, haben auch
die urſprünglichen Herausgeber richtig erkannt. Es iſt ſchade, daß für
die neue Ausgabe Gottlob's Buch über die Kreuzzugsſteuern noch nicht
benußt werden fonnte; den allgemeinen Bemerlungen über die
132 Literaturbericht.
7000 Einwohner — bemerkenswerth durch das Alter ſeiner Stiftung,
die allgemeine Bedeutung feiner urkundlichen Überlieferung und die
feſte wirthſchaftliche Grundlage, welche ein weit audgedehnter, einer⸗
feit8 über Weſtfalen bis nad) Ditfriesland, andrerfeits bi8 nad) Brabant
und den nördliden Niederlanden reichender Güterbejig im Verein
mit den Öruppen abhängiger Lehen jowie in zahlreihen unter Ober-
höfe gejtellten Zind-, Pacht- und Behandigungsgütern den regierenden
Abte und deſſen Korporation gewährte. Während die äußere Gefchichte
des Zerritorium3 an die kaiſerlichen und päpftlicden Privilegien der
taufendjährigen Benediktinerabtei anknüpft und ihre Angelpunfte in
der Eremtion gegenüber der Kölniſchen Kurie und in den Verhält-
niffen der Schirmvogtei (in Händen insbefondere der Grajen von der
Mark und Herzöge von Eleve, fowie der Brandenburgiſch-Preußiſchen
Nechtönachfolger) hat, fällt die innere Entwidlung desfelben weſentlich
mit der Gejtaltung feines Kirchen- und Pfarrweſens zujfammen,
bafirt auf dem von Erzbiſchof Willibert von Köln im Jahre 875
umfchriebenen Pfarriprengel und Zehntbezirl. An Stelle der einen
Piarrei Werden (mit den Yiliallirhen zu St. Clemend oder zum
Borne und zu St. Lucius oder Neulirchen für die jüdliche, beziehungs-
weije nördliche Hälfte des Bezirks) traten erjt nad der Säfularifation
von 1803 und im Bujammenhange mit der Neubildung der Erz-
didcefe Köln 1827 drei Pfarreien, Werden, Kettwig und Heifingen.
Dementiprechend gliedert ſich der Stoff vorliegender Dionographie in
zwei Haupttheile, von denen der erſte die Geſchichte des Kirchen- und
Pfarrweſens zur Zeit des Stifts, Der zweite diejenige der nach der
Säkularifation eingerichteten Pfarreien einſchließlich der Reltorate
Bredeney (jet gleichfalls Pfarre) und Dilldorf behandelt. In beiden
Theilen find die einfchlägigen kirchlichen und politiichen Verhältniſſe
auf Grund des QDuellenmateriald® und mit lobendwerthem Fleiße
möglichſt vollitändig berüdiichtigt. Inſofern bezeichnet die Schrift
gegenüber früheren jehr ungenügenden Arbeiten, wie U. Schunden’s
„Beihhichte der Abtei Werden“ (1865) und W. Flügge's „Chronik der
Stadt Werden“ (1887), einen unleugbaren Fortichritt. Dem zweiten
Theile verleihen zudem eine Weihe von Urkunden und Altenjtüden
de 12. bis 19. Kahrhundert3 im Anhange (S. 409—514) und ein
jorgfältige8 Orts- und Namengregifter zum ganzen Werke erhöhten
Werth. Daß die Neformationgzeit in weſentlich ungünftiger Beleuch:
tung erjcheint, ift bei dem ftreng katholiſch-konfeſſionellen Standpunkte
des Bf. begreiflich und fteht theilmeife auch im Zuſammenhange mit
184 Riteraturbericht.
Detail ald ein Inbegriff und Spiegelbild des gefammten franzöfiichen
Refuge in Deutjchland. Aus Beidem erklärt fi” der Mangel an
einheitliher KFompofition, die Belaftung der Darftellung mit einem
übermäßigen Ballaft von Einzelheiten, die für den meiteren Leſerkreis
nicht das geringjte Intereife haben. Wer ſich aber durd) dieſe Form⸗
lofigfeit nicht abjchreden läßt, wird doch feine Ausdauer durch manchen
guten Fund belohnt fjehen. Im eriten Theile behandelt der Vf. Die
Militär und den Übel; von erjteren ermittelt er im Laufe von zwei
Sahrhunderten 199, deren Verzeichnid er, nad) dem Range geordnet,
folgen läßt, darunter einige für die Sittengejchichte nicht uninterefjante
Geftalten, wie die des abenteuerlihen „Staiferd von Madagasfar“,
de Langalerie. Auffallenderweile trägt er bei Erwähnung des Haupts
manns Ulerander v. Dohna die Abkunft dieſes Gefchlechte8 von einem
Grafen Aloys von Urpach, einem fränfifchen Nitter aus Languedoc
zur Zeit Karl's des Großen, als beglaubigte Thatſache vor, nod)
dazu unter Citirung der Kompilation „die Dohnas“, wo daS gerade
Gegentheil fteht, nämlich der von Räder geführte Nachweis, daB
diefe Genealogie nichts iſt als eine Erfindung Paprocky's... —
Der zweite Theil beijchäftigt ji) mit dem Fabrikweſen, dem Handel
und dem Handwerk. Wie in allen Ländern, wo die Nejugies ſich
anfiedelten, mit ihrem Auftreten für die Induſtrie eine neue Epodye
beginnt, jo haben fie au in Preußen 65 neue Gewerbe eingeführt.
Aber es jind fait nur Luxusinduſtrien, jür die da ausgeſogene Land
feinen Markt bot, mas die Thatſache erflärlich madt, dab ſämmtliche
hugenottiſche Großmanufakturiften von Magdeburg, und zwar bereitd
unter König Friedrich I., banferott gegangen find. Was die Kolonie
über Waſſer hielt, war die ebenfall3 von ihr eingeführte Strumpfe
wirferei, wenngleid) damals ein Strumpf für die deutichen Barfüßler,
felbjt für die vornehmeren Fußlappenträger, auch ein Luxus war.
Doch auch diefer Erwerbszweig litt bald durch Überproduftion.
Maſſenhaft gehen daher die armen Hugenotten zu Grunde oder jie
wandern aus, und von den urjprünglid in Magdeburg angeliedelten
Glaubensflüchtlingen iſt dort bald nicht ein einziger Name mehr vor:
handen. Das Bild, welches 2. zeichnet, iſt alſo um vieles düſterer,
als man es ſich gewöhnlich voritellt, und bejondere Beachtung ver-
dient der mehrfach von ihm geführte Nachweis, daß die dem Könige
eritatteten amtlichen Berichte von Dielen Nothitänden gefliffentlich
jchweigen, daß dieſelben, je näher die Berichterftatter dem Hofe jtehen,
um fo lieblicher, reiher und angenehmer werden, alfo durdaus feine
unverdädtige Quelle darjtellen. —
136 Riteraturberidht.
Nachträge und Berichtigungen, diesmal in ungewöhnlicher Zahl, was
nah der Vorrede ſich daraus erklärt, daß ein Mitarbeiter an dem
Urkundenwerk, Dr. Techen in Wismar, den Band zwecks Anfertigung
des Regiſters einer forgfältigen Durchſicht unterzog, die ſich ſogar
auf eine nochmalige Vergleihung jümmtlider dem Wismar'ſchen
Stadtarhiv entnommener Stüde auddehnte Das Negijter über
diejen und die drei vorangehenden Bände wird als Band 17 des
Urkundenbuchs zur Ausgabe gelangen. J. Wiggere.
Die Matritel der Univerfität Roftod. 3,1. Oftern 1611 bi8 Michaelis
1651. Mit Unterftügung des Großherzogl. Meckenburg-Schweriniſchen
Minifteriumd und der Ritter und Landſchaft beider Medlenburg berauss
gegeben von Dr. Adolf Hofmeifter, Kuſtos der Großherzogl. Univerjitäts-
bibliothef. Rojtod, in Kommiſſion der Stiller’ihen Hof- und Univerfitäts-
buchhandſung. 1893. 168 ©.
Nachdem der Heraudgeber dieſes Werkes ſchon im Jahre 1886
unter gleihem Zitel den Anfang, die Jahre 1419—1425 umfafjend,
al3 Probe voraufgeſchickt hatte, veröffentlichte er von 1839 bis 1891
deffen 1. und 2. Band, legteren wie den vorliegenden 3. Band in zwei
Abtheilungen. Wir haben wiederholt von diejer, auch für angrenzende
Theile der Geſchichtswiſſenſchaft werthvollen Urbeit in dieſer Beit-
fchrift Kenntnis genommen. Der Schluß diefed® 3. Bandes wird für
den SHerbit 1894 in Ausficht geitelt.e Ein dann nod folgender
4. Band foll mit der Vollendung des Werfed ein erit deſſen volle
Nupbarkfeit ermöglichendes ausführliches Negifter bringen. Die jept
erihienene Abtheilung führt da® Wert nad den biöher befolgten
Grundjäßen um vier Jahrzehnte, in die der Dreißigjährige Krieg
fällt, weiter. Unter den Einwirkungen dieſes Krieges Hatte auch
Roſtock und feine Univerjität zeitweife jtarf zu leiden. Während die
Bahl der Immatrikulirten in den vorangehenden Halbjahren über
100 und fogar über 200 betrug, wurden im Winter 1630/31 mır
17 in das Matrikelbuch eingetragen, was in einer Note des derzeitigen
Rektors daraus erklärt wird, daß durch die Sriegsleiitungen und
Berwüjtungen ganz Deutſchland und beſonders Mecklenburg und die
angrenzenden Länder erjchöpft jeien, Roftod eine kaiſerliche Beſatzung
von 3000 Mann habe, die Eltern nit mehr die Mittel hätten, ihre
Söhne auf Univerfitäten zu erhalten, aud) Bedenken trügen, diefelben
in die don Kriegern angefüllte Stadt Rojtod zu fenden. Aber ſchon
im Sommer 1632 hatten diefe Verhältniffe ſich jo fehr geändert,
138 Literaturbericht.
letztere haben mitunter, aber nicht immer, Überſchriſten in franzöſi⸗
ſcher Sprache, die wahrſcheinlich von Beelen ſelbſt herrühren. Cinen
gewiſſen Erfag für die fonft fehlende Überficht bietet allerdings ein
nach fachlichen Geſichtspunkten zufanınıengeitellter Auszug aus der
Mehrzahl der Berichte Beelen’3, verfaßt von dem Grafen Broli,
welcher an der Spitze diejer Berichte mit abgedrudt ift.
Tupetz.
Die böhmischen Landtagsverhandlungen und Landtagsbeſchlüſſe vom
Jahre 1526 an bis auf die Neuzeit. Herausgegeben vom fgl. böhmifchen
Landedardive. Bd. 7: 1586—1591. Prag, Berlag des fgl. böhm. Landes⸗
ausſchuſſes. Drud von D. Ed. Gregr. 1891. 731 ©.
Über die Einrichtung diefes Urkundenwerkes ift bereit3 anläßlich
des Erfcheinend der vorausgehenden Bände berichtet worden (vgl.
bejonder8 58, 163 und 62, 557). Der vorliegende Band ent-
hält auch Inhaltsverzeichniſſe und Sachregiſter zu den bereits
früher erfchienenen Bänden, und zwar für jeden Band gefondert;
bezüglich des Sadjregiiterd mag es dahingeitellt bleiben, ob nicht die
Heritellung eined gemeinjamen Regiſters für alle jieben Bände vor»
zuziehen gewejen wäre. Der Inhalt des vorliegenden Bandes gleicht
dem feiner unmittelbaren Vorgänger: Berathungen über die Ver
theidigung der ungarifchen Grenze, über die Ubzahlung der Taifer:
(ihen Schulden, über die Beitragdleijtung von Eger und Elbogen
zu den LZandesiteuern, dazu Beſchwerden des utraquiftiiden Kon⸗
jiitoriumd gegen Städte, welche das Lutherthum begünjtigten, endlid
audy viele Urkunden von zum Theile fehr privater Natur. Ein
intereflante8® Schriftitüd, dad man aber in dieſem Werke ebenfalls
jchwerlich juchen würde, ijt die Errichtungsurkunde einer Jeſuiten⸗
Univerfität in Komotau durch Georg Popel von Lobkowitz, denjelben,
welcher bald nachher aus nit ganz aufgeflärten Gründen ein
tragifhed Ende fand. Tupetz.
Johann Leopold von Hay. Ein biographiſcher Beitrag zur Geſchichte
der Joſephiniſchen Kirchenpolitit. Bon Wilibeld Müller. Bien, Karl
Gräjer. 1892. 92 ©.
Das Büchlein fucht das Andenken eined halb in Vergeſſenheit
gerathenen Kirchenfürften der Zofephinifchen Ara zu erneuern. Von
den Fantilienverhältniffen desfelben vermag der Vf. troß fleißiger
Nachforſchungen in den Archiven wenig mitzutheilen; bemerfenswerth
140 Kiteraturberidt.
weiſe des Bf. journaliſtiſcher gehalten it, als man es fonit an wifjen-
ihaftlichen Arbeiten gewohnt ift. Tupetz.
Geſchichte der Wiener Journaliſtik während des Jahres 1845. Ein Beis
trag zur deutfhen Kulturgeihichte. Bon E. V. Zeuker. Bien und Leipzig,
Wild. Braumüller, k. u. f. Hof⸗ und Univerfitätsbudhhändfer. 1893. VII, 159 S.
Diejes Werl, eine Fortfeßung des von demfelben Bf. herrührenden
Buches über die vormärzliche Zournaliftif, behandelt dasſelbe Material,
welche& den befannten Buche Helfert's über die „Wiener Kournaliftif
im Sahre 1848“ zu Grunde liegt, aber von einem theilmeife anderen
Standpunkte. Im Ganzen ſtellt es fich als eine Art „Rettung“ der
revolutionären Preſſe des Sturmjahre® überhaupt umd einzelner
Sourmaliften wie Häfner insbefondere dar. Daß die Rettung voll:
itändig gelungen wäre, vermödten wir nicht zu behaupten; ind
bejondere jcheint ed und vergebliche Mühe, den indireften Zuſammen⸗
hang ziwiichen den Ausfchreitungen der radikalen Preffe und den
Oftoberereignijjen in Abrede jtellen zu wollen, wenn aud die direkte
Einwirkung eines beitimmten Beitungsartifels auf die Mörder Latour's
nicht nachweisbar ift. Die Ausdrucksweiſe des Bf. ift nicht immer
geihmadvoll; fein Streben, einen höheren Standpunft zur Beurtheis
lung der Preſſe des Revolutionsjahres zu gewinnen, bleibt ſchließlich
in ziemlich banalen Phraſen jteden. Tupetz.
Sriedrih Graf Deym (geb. 1801, geit. 1853) und die öfterreichiiche
Frage in der Paulskirche. Vom Grajen Franz Xaver Deym, Regierungss
rath in Breslau. Leipzig, Breittopf & Härtel. 1891. VIII, 85 ©.
Mit einen Eohne, der in findliher Pictät die Geſchichte feine!
früh verjtorbenen Vaterd fchreibt, iſt ſchwer zu rechten, aud) wenn er
die perjönliche Bedeutung desjelben etwas zu Hoch anfchlägt, umfomehr,
wenn der Biograph fich mit fo liebenswürdiger Beſcheidenheit einführt,
wie dies in der Vorrede des vorliegenden Buches geihieht. Es mag
aljo dahingejtellt bleiben, ob ?sriedrih Graf Deym zu den führenden
Geiſtern der Paulskirche gehört hat und daher die Erforjchung jeiner
perfönlihen Stellungnahme zu den ſchwebenden Fragen, insbejondere
zu der öſterreichiſchen, jo wichtig iſt, daß fie verdient, in einem
bejonderen Buche dargejtellt zu werden. Was die Duellen betrifft,
aus denen der Vf. fchöpft, jo jind es nur die bereitd durch den Druck
veröffentlichten, ja der Bf. gibt fogar felbit zu, Daß er nicht einmal
die ganze auf den Gegenitand bezügliche Literatur überblidt. Ihm
142 Xiteraturbericht.
Für Boni konnte F. vornehmlich aus den Nachrufen fchöpfen,
die ihm feine Wiener Schüler 8. Schenfl, W. v. Hartel und
Th. Gomperz, und außerdem 2. Bellermann in Berlin gemidmet
haben. Auch zahlreiche Briefe und ein von Boni’ Sohn gefchriebener
und bis zur Berufung feines Vaterd nad) Wien reichender Lebens»
abriß Itanden zur Verfügung.
Um geringfügigiten waren die bißherigen Veröffentlichungen über
Erner. Indeſſen it über ihn in den Alten des Miniiteriums, in
handſchriftlichen Aufzeichnungen jeiner Freunde und in dem Familien
archiv ein ausgiebiged Material vorhanden, durch das ſich F. in den
Stand gejeht fah, ein vollitändigeres Lebensbild von ihm zu entiwerfen.
Es ift ein großes Glüd für Oſterreich gewejen, dab fich in den
enticheidenden Monıenten feiner Wiederverjüngung 1848/9 Männer an
der maßgebenden Stelle zufammenfanden, welche die Befähigung und
die Kraft befaßen, den Geiſt ded neuen frischen Lebens, den die
Befreiung von dem poliziftifch-jefuitifchen Syftem Metternich’8 erwedt
hatte, in dag Bildungsweſen des Kaiſerſtaates Hineinzuleiten und ihm
hier eine bleibende Stätte zu bereiten. Thun's gemeinnügiger Idealis⸗
mus und charaftervolle Feitigkeit, unterftügt von Helfert'8 geſchäfts⸗
gervandter Hand, Exner's freiſinnig-philoſophiſche Weltanfchauung,
Bonig’ ſchulmänniſche Erfahrung und Beider gediegened Fachwiſſen
wirkten bei der mujlergültigen Leiſtung des Organiſationsentwurfes auf
das Erfprießlichite zujammen. In die Ausarbeitung haben jich Bonig
und Erner getheilt, jo jedoch, daß es ebenfo wenig wie bei Goethe's und
Schiller's Kenien möglich ift, die geiſtige Urheberfchaft Beider bis in
alle Einzelheiten zu verfolgen und zu unterfcheiden. Die erite Nieder⸗
Schrift rührt zum größten Theil von Bonitz, zum fleineren — dars
unter die „Vorbemerkungen“ und die überwiegend verwaltungäredits
(ihen „Allgemeinen Beſtimmungen“ — von Exner ber. Vor
befprechungen gingen über alle Punkte zwiſchen Beiden vorher, und
ebenjo vereinbarten fie untereinander die abjchließende Feitftellung des
Terted vor deflen Vorlage an den Minilter. Helfert's Bemerkung,
„Daß alles Normative von Exner, alles Initruftive von Boni herrühre”,
der F. Werth beimißt, findet doch in der Sejammtdaritellung %.'8
feine Beitätigung. Biel treffender jagt 5. mit feinen eigenen Worten:
„Der ganze Entwurf, wie er.vorliegt, muß als das Werk von Exner
und Bonig bezeichnet werden.” Exner hatte Boni ſchon 1842 in
Berlin fennen gelernt und aus den Ilnterredungen mit ihm, ſowie
aus feiner allgemeineren Kenntnignahme vom Schulweſen in Deutſch⸗
144 Literaturbericht.
thanenſchuldigkeiten, und endlich erſt am Endpunkt der Entwicklung
zu dem Verſuch, den einzelnen Bauern in ſeinem Beſitzſtande zu
ſchützen. Und mit der Fortentwicklung der Art und des Maßes des
ſtaatlichen Eingreifens verwandelt ſich vor unſeren Augen zugleich
der centrale Geſichtspunkt, unter dem dasſelbe erfolgt: aus einem
vorwiegend fißfalifchen wird er unter Maria Thereiia ein überwiegend
populationijtifcher und gewinnt unter Joſeph IL eimen radifal-
philanthropifchen Charakter; die Überftürzung, welche diefer un-
politiſche Standpunkt in die Befreiungsgejebgebung bradte, und der
verfrühte Angriff auf die fundamentalen Lebensbedingungen des
agrariihen Großbetriebes, den die letzten Maßregeln Joſeph's I.
unternahmen, führten dazu, daB nad feinem Tode der bis dahin
jtetige Fortgang der Agrargefeßgebung mit einem plößlichen Ruck für
ein halbes Jahrhundert zum Stillitand gebradt und der Abſchluß
erit durch die 4er Nevolution erziwungen wurde. — Den naheliegenden
Bergleih dieſes Hergangd mit dem Verlauf der preußiichen Agrar:
gejepgebung Hat auf Grund des G.'ſchen Werkes inzwiſchen Knapp
mit der ihm eigenen künſtleriſchen Formvollendung derart gezogen,
daß es verlorene Mühe wäre, das, was er geſagt hat, hier zu wieder⸗
holen. Wenn der Vergleich in ſozialpolitiſcher Beziehung nothwendiger⸗
weiſe zu gunſten ſterreichs ausfällt, ſo muß dabei — das möge,
in Anknüpfung an Knapp und G., hier nochmals betont werden —
im Auge behalten werden, daß die Reform fi in ſterreich gegen
einen Stand von weniger als 2000 Grundherren richtete, welche ihr
ungeheueres Areal überwiegend durch adminiſtrirte Betriebe, alſo in
derjenigen Form nutzten und nutzen mußten, welche auch rein privat⸗
wirthſchaftlich die wenigſt entwicklungsſähige war, während es ſich in
Preußen um die Depoſſedirung einer wohl etwa zehnfach größeren
Zahl von damals ſehr lebenskräftigen Eigenwirthen handelte. Noch
1871 zählte Pommern allein ?/ı mal jo viel „Gutsbezirke“, als Böhmen.
Mähren und Sclejien zujammen „Dominien“. Und in weldem
Maße die neuerdings oft in Zweifel gezogene Behauptung, daB der
ojtelbifhe landwirthichaftlicde Großbetrieb auf den ungünjtigen Sand:
böden des Oſtens Träger nicht nur des techniſchen Fortſchrittes,
jondern auch der nativnalen deutichen Kultur überhaupt gewejen ift,
zutrifft, ergeben 3. B. noch die Zahlen der Volkszählung von 1871
in den nationalgemijchten Gebieten Wejtpreußend. Wenn 1871
Evangelifhe (= Deutſche) und Katholifen (= Polen) an der Bes
völferung der Landgemeinden und Gutsbezirke der mit befonders
146 Literaturbericht.
möchte die Behandlung des Stoffes hier faſt zu ausſchließlich rechts⸗
hiſtoriſch ſein: wir erfahren relativ wenig über die Beſiedlungsart
des Landes, und auch die Art der Wirthſchaftsführnng der großen
Güter kommt, ſo ſcheint es mir, etwas kurz ſort: die Typen der
„Dreſchgütner“, „Auenhäusler“ ꝛc. ſind nicht ſo eingehend gezeichnet,
wie Mancher angeſichts der Bedeutung, die dieſen Begriffen auch in
Preugiih-Sclejien zufam, es wünſchen wird. Das vorwiegende
Intereſſe für die rechtshiſtoriſche Seite der Sache tritt auch in der
Art der Weiterführung und des Abſchluſſes der Erzählung des Bf.
hervor. Die Darjtelung magert ab, je mehr fie ſich der neueften
Zeit nähert, und ſchließt mit dem Rechtsakt der Bejeitigung des
gutsherrlich-bäuerlichen Verhältniſſes durch Erlaß der Patente am
7. September 1848 und 9. März 1849. Die Würdigung ded Er»
gebnifjed ihrer Durchführung für die Grundbefigvertheilung und
Arbeitöverfafjung des platten Landes, namentlich im Vergleich mit
Preußen oder anderen öfterreihiichen Ländern, hat der Bf. nicht
unternommen. — Allein e3 wäre undankbar, mit dem Pf. darüber
zu rechten, daß und weshalb er nicht den Bereich feiner Betrachtung
bier und da noch weiter erjtredt bat; wir haben Anlaß, und deſſen
zu erfreuen, was er und in jeinen Werfe bieten wollte, und au⸗
zuerfennen, daß die Ausführung Hinter der Abficht zum Mindeſten
nicht zurüdgeblieben ift. Max Weber.
An introduction to English economic history and theory. By
W. J. Ashley, M. A. Professor of economic history in Harvard
University. Part I: The middle ages. Second edition. Part II: The
end of the middle ages. London, Longmans, Green & Co. 1892. 1893.
227 bzw. 501 ©.
Auch in England ijt eine hiſtoriſche Schule in der NRationals
ökonomie erwachſen, die, unbejriedigt durch die Abftraftionen und
mißtrauiih gegen die abfoluten Dogmen der alten „Elaffifchen”
Richtung, fid) zur Aufgabe gemacht hat, durch die Erforichung der
wirthichaftlihen und fozialen Entwidlung, deren Produkt unjere
gegenwärtigen Zuitände find, die Wiffenjchaft neu zu fundiren. Der
Bf. des oben genannten Buches iſt einer ihrer hervorragenditen Vers
treter. Er hat feine wifjenfchaftliche Laufbahn als fellow am Lin-
coln College in Oxford begonnen, mar dann Profefjor der politifchen
Okonomie an der Univerjität Toronto (Canada) und hat feit einigen
Jahren den neubegründeten Lehrftuhl für Wirthſchaftsgeſchichte am
148 Literaturbericht.
volle Darlegung des Armenweſens im Mittelalter und der beginnenden
Armengeſetzgebung im Ausgange desſelben (Kap. 5) zeigt, daß der
Urjprung des Proletariat3 weit älter ift, als man in der Regel an⸗
genommen hat. Den Beihluß de 2. wie ded 1. Bandes macht je
ein Kapitel über die ökonomiſchen Theorien der Zeit, wobei es ſich
natürli in der Hauptſache um die kanoniſtiſche Doktrin handelt,
deren relative Berechtigung der Vf. nachweiſt. In das Schlußfapitel
des 1. Bandes jind außerdem noch Ausführungen über die Geſetz⸗
gebung aufgenommen worden, die u. E. beſſer in den früheren
Kapiteln untergebracht worden wären, während das übrige fich leicht
in das Schlußkapitel ded 2. Bandes eingefügt hätte. Jedes Stapitel
wird mit einer Literaturüberjicht eröffnet, die fich zumeilen, wie im
1. Kapitel des 1. Bandes (über die Grundherrſchaft) zu einem Fleinen
dogmengeſchichtlichen Abriß geſtaltet. Es folgen Noten, in denen
das einzelne quellenmäßig belegt wird.
Im großen und ganzen ijt in England der Gang der Entwidlung
ein ähnlicher wie in den Kontinentaljtaaten: anfangs die Grundherr⸗
ihaft und dad Dorf, dann die Stadtgemeinde, endlich größere Terri⸗
torialfomplere aus jtädtifchen und ländliden Gemeinden find die
Träger des wirthichaftlihen Lebend, dad ſich auf immer breiterer
Grundlage, in immer größeren politiihen Körpern organijitt. Den
Urfprung der Grundherrſchaft will der Bf. mit der neueren franzd»
jiichen Schule, deren Haupt Fuftel de Coulanges ift, und in Über
einjtimmung mit Seebohm nit aus urfprünglicher markgenoſſen⸗
Ihaftliher Freiheit, jondern aus einem Zuſtande tiefer Unfreiheit
der Zandbevölferung ableiten. Auch in England folgt in den Städten
einer Herrichaftdepoche der Kaufmannsgilden eine ſolche der Zünite,
um zu Beginn ded 16. Jahrhundert der vordringenden Staats-
‚gewalt zu weichen; die Anficht von Rogers, daß bei der Reformation
das Bunftvermögen eingezogen worden ſei, wird als ein Irrthum
erwiejen, der auf der Verwechslung des kirchlichen Stiftungsvermögens
nıit dem Zunftvermögen überhaupt beruht.
Der Fortiegung ded ausgezeichneten Werkes jehen wir mit Er
wartung und mit dem beiten Vertrauen entgegen. tz.
Die Berjaffung der Kirhe von England. Bon Jelig Makower,
Dr. jur. Berlin, 3. Guttentag. 1894. 560 ©.
Wenn bisher unjere Kenntnis der kirchlichen Verfaſſung von
England recht dürftig und lüdenhaft gewejen ift, jo ift der Grund
150 Literaturbericht.
die Dankbarkeit aller derer erworben, die im Zuſammenhange ihrer
geſchichtlichen oder theologiſchen oder juriſtiſchen Studien auf die
Verfaſſung der Kirche von England geführt werden. R.
The history of early english literature, being the history of
english poetry from its beginning to the accession of king Alfred
By Stopford A. Brooke. 2 voll. VI, 344 u. 337 ©. London, Mac-
millan. 1892.
Zwei ftattlide, vornehm audgeitattete Bände über die Geidhichte
der altenglijchen, angelſächſiſchen Dichtung bis zum Jahre 871, ver:
faßt von einem befannten Theologen, der erſt in jpäterem Lebens
alter ji al? Autodidalt mit der alten Sprache jeiner Heimat und
mit der gelehrten Forſchung über ihre ältelten Denkmäler vertraut
gemadt hat. Mit der lebteren freilih nur zum Theil und vor:
wiegend indirekt: fein Führer nicht nur, fondern geradezu fein Ver⸗
mittler für die deutſche Fachliteratur ift der „Grundriß zur Gefchichte
der angelfähliichen Literatur” von Prof. R. P. Wülfer geweien, ein
Bud, das allerdings zu fünf Sechiteln aus Büchertiteln und Ercerpten
bejteht, und der Neipeft, mit dem Rev. Broofe im Vorwort von
diefer geifteSöden und formlojen Kompilation redet, erweckt fein
günjtige3 Vorurtheil. Natürlih fennt B. auch den 1. Band von
ten Brinf'S „Geſchichte der englifchen Literatur” (er citirt gelegentlich
Die engliſche Ausgabe), aber er Hat dad Buch nicht ftudirt und für
die Geſammtauffaſſung wie für die Einzelbetradhtung wenig Nuten
daraus gezogen. Was aber gar feit dem Jahre 1885 (mo Wülker's
„Grundriß“ erfchien) in Deutichland über die angelſächſiſche Dichtung
und die lateinische Poeſie der Angelſachſen geforſcht und publizirt
worden ijt, davon ſcheint der Vf. feine Kunde mehr gewonnen zu
haben: die Bücher von ten Brinf und Müllenhoff über den Beomuli
find ihm ebenfo unbekannt geblieben wie der fehr nützliche 3. Band
von Ebert's „Allgemeiner Literaturgeſchichte“ und die glänzenden
Arbeiten von 2. Traube über Ädelwulf u. f. w. Mit eigener Detail:
arbeit hat der Vf. nirgends eingefept, ja er ijt, wie allerlei naive
Äußerungen zeigen, in dad Wefen und die Methode der philologijche
hiſtoriſchen Forſchung nur wenig eingedrungen. Sein Bud enthält
wohl ein paar anregende Räſonnements, aber feine neuen Ergebniſſe
und feine neuen, fürdernden Belichtäpunfte, und da es auch den
gegenwärtigen Stand unſeres Wiſſens nicht zuverläfiig widergibt,
darf es in Deutichland immerhin ungelejen bleiben.
152 Literaturbericht.
alterlihden Schriftthums bezeichnet worden. Man wird aber ohne
Bedenken jagen dürfen, daß diefer zweite, was das Maß der eigenen
gelehrten Arbeit wie die lebensvolle Gruppirung und Vorführung
eines ungemein vieljeitigen Materiald angeht, feinem Vorgänger noch
beträchtlich) überlegen ift. Ic felbft habe bei ten Brint im Sommer
1876 eine Vorlefung über eben den Beitabjchnitt gehört, der dieſen
Band umſpannt, und kann daher den Umfang und die Antenfität der
Forſchung, die er feitdem nod) diefer Epoche zugewandt hat, am beften
ermeſſen. Sie erjcheint nirgend8 imponirender als in den Partien.
weldye der Geſchichte des miittelalterlichen Dramas gewitmet find,
während in der Form der Darftellung vielleicht die Kapitel über
jeinen alten Liebling Chaucer und über die: fchottifhen Dichter
(Barbour, Dunbar, Douglas) noch mehr anjprechen werden. Die jehr
eingehende (faft 200 Seiten lange) Behandlung der Literatur ic der
wichtigen Übergangsepoche unter Heinrich VII. und Heinrich VIIL
ericheint der bisherigen Forſchung gegenüber vollauf gerechtfertigt
und darf vielleicht auch bei den Lejern diejer Zeitichrift gerade jept,
wo eine neue Geſchichte England unter den Tudor's zu erjcheinen
begonnen hat, auf bejondered Intereſſe rechnen. E. Schr.
The Law and Custom of the Constitution. By Sir William R.
Auson, Bart. D. C. L. of the Inner Temple, Barrister-atLaw, Warden
of All Souls College, Oxford. Part I: Parliament. Second Edition.
Part II: The Crown. Oxford, Clarendon Press. 1892. 2 vol. 875 u.
494 S. 12 sh. 6 d. bezw. 14 sh.
Der Bf., der fich durch ein vielgebrauchted® Buch über die Lehre
vom Vertrage nach engliſchem Recht einen angejehenen Namen ver-
ichafft hat, beabficytigt einen genauen Überblid über die Normen des
engliſchen Berfafjungd- und Verwaltungsrechts zu geben. Er fieht
e8 dabei auf eine deutliche Hervorhebung der beitehenden Geſchäfts⸗
praxis der Staatsverwaltung ab und erleichtert das Verſtändnis durch
unabläſſige kurze hiſtoriſche Rückblicke und häufiges Herbeiziehen der
jetzt gebräuchlichen Formeln des behördlichen Verkehrs. Von älteren
Darſtellungen bat er im 1. Bande beſonders auf May's Parlia-
mentary Praxis zurüdgegriffen, während ihm für den 2. Band
Alpheus Todd's befannte® Buch On Parliamentary Government
in England die größte Hilfe gewährte. Für die gejchichtlicden Ver⸗
weijungen hat er jih am engiten an Stubbs angelehnt, doch auch
Hallam und May und einige Parliamentary Reports und Korres
154 Literaturbericht.
Parlamentsauflöſung und Neuwahlen herbeizuführen. Fällt Die Ent⸗
IHeidung der Wähler für das verivorjene Geſetz aus, ſo müflen die
Lords ſich fügen und ihren Wideriprud aufgeben. Bei Gejegen, Die
nicht von vitaler Bedeutung jind (nehmen wir die Deceased Wife's
Sister Bill zum Beijpiel) hat das Oberhaus freie Hand.
Dagegen find die hijtoriihen Nüdblide meijt oberflächlich und
unzuverläjjig. Es tind bejonderd zmei Klippen, an denen der mit
den Antiquitaten des engliihen Verjaſſungslebens nicht vertraute
Autor gejcheitert iſt. Erſtens fällt er in den jo häufigen Fehler
vager Gencrulijationen, die ıpveit über die Angaben der von ihm
benugten Autoritäten hinausſchießen. So 3. B. in dem Sage: That
representation is a condition precedent to taxation, and that
tlıe law is the same for all freemen may be regarded as the
cardinal principles of the :Greät‘! Charter (S. 15). Der zmeite
Fehler beruht darauf, Daß Autoritäten auch als Beleg für Meinungen
gelten jollen, die jie jelbjt nur ganz hypothetiſch Hingeitellt, gelegent-
lich erwähnt ımd unerwieten gelaffen haben. Ztubb3 bringt als
einen der möglichen Gründe, weshalb jo viele Städte ſich der Ber
rufung zum Rarlament zu entzichen juchten, den Wunſch der Fleineren
Ztadte, dadurch der höheren Zteuerituje, Die von den Bürgern
bewilligt wurde, zu entgehen und lieber mit den Grafſchaften Die
fieinere Zuote zu zahlen. Dieſes Jupponirte Motiv ericheint in der
Tiedergabe bei N. als das Faktum, dab die Stadt, Die Vertreter
ſandte, ein Zehntel, die unvertretene nur ein Fünfzehntel zu feuern
hatte. Tas tft natürlich leicht als poſitiv Jalih zu erweilen. — Um
noch ein erhevlicheres Beiſpiel zu bringen, jepe ih cin Diktum A.'s
und ein den wahren Zadverhalt erbellendeg Aktenſtück hierher. A.
bebaupter: „Tie ‘Petitionen der Gemeinen gingen der Beldbewilligung
voran, und die Gewährung des Geldes mochte wohl von den Ant:
merten abhängen, die die Gemeinen auf ihre “Petitionen erhalten
haben.“ Dieſer nur ganz entfernt an einen Sup bei Stubbd an:
Eingenden Behauptung braucht man nur einen freilich auch von
Ztubbs uberiebenen Paſſus aus den Protofollen des Parlaments
von 1402 entgegenzubalten: „Die Gemeinen baten unjern Herrn
Nönig, Daß zur größeren Bequemlichkeit und Annehmlichkeit der
genannten (demeinen es unterm Herrn König gefallen möge, jelbigen
‘Vemeinen zu geſtetten, DaB Te von den Antivorten auf ihre gemein:
I:men “Yetitionen Mennmis erhalten dürfen, bevor ſie eine Geld:
bemilliaung machen. Daraui wurde ihnen ‚nach Berathung mit dem
Io Literaturbericht.
Krevtum (im 4. Bande der Harvard Law Review) beſondere Auf—-
nerdumtleit geichenft. Diesmal bietet er und dad von ihm entdedte
ototoll des Parlament? von 1305 mit vielen zur Erläuterung
notdwendigen Wltenjtüden, die er aus den überreichen Schäßen des
Mublie Record Office mit rajtlojem Fleiße bervorgezogen hat. In
Dieter jeit Palgrave's Tagen in England felten gewordenen Vereinigung
öwer zu erreichenden zufammengehörigen Material liegt der Schwer⸗
punkt der Edition. Der größte Theil des im Mittelpunfte ftehenden
RKotulus Parliamenti war ſchon aus dem Auszuge in dem, wie
Waitland wahricheinlid macht, im erjten Drittel ded 14. Jahrhunderts
entitandenen ſog. Vetus Codex befannt; aber dur die neue Publi—
kation wird uns die Gejhäftsführung in einem der ältejten Parlas
mente zum erjten Mal urkundlich genau zur Anſchauung gebrad)t.
In der ausführlichen Einleitung legt M. die verfaſſungsgeſchichtlichen
Dauptrejultate feiner eingehenden Beihäftigung mit diefem und am
genauejten befannten Parlanıente Eduard’8 I. nieder. M. iſt den
aroßen Autoritäten von Hardy, Palgrave, Gneiſt und Stubb8 gegen
über fehr zurüdhaltend mit feinen Urtheil. Um jo erireulicher war
88 mir zu fehen, wie nahe er jich mit meinen vor zchn Jahren vers
Öffentlichten und fpäter auch in der Hiſtor. Zeitſchrift!)) explizirten
Anjchauungen berührt, die er freilih nur aus Gneiſt's polemijchen
Benerfungen dagegen zu kennen fcheint. Nicht nur, daB der König
von diefem Parlament feine Geldbewilligung verlangte oder erhielt,
was ja nach der früheren Anjicht der jelbitverjtändliche Zweck jeder
Berufung der Commons war. M. bezeichnet ausdrücklich ald one
of the duties jedes Vertreter eined Wahlbezirfet: he brings in,
and, it may be, urges by oral argunıent the petitions of that
community which has sent him to the parliament (S. LXXIII).
Faſt genau jo beißt e3 in meinem meine früheren Rejultate kurz
rejerirenden Auffate, „daß fie Die Beichiwerden der einzelnen Gemeinde—
genoffen jowohl wie ihres Verbandes vor den König und jcinen
Rath bringen follten, daß fie dort auf Verlangen weitere Auskunft
gaben und den Beicheid mit nad) Haufe nahmen.” Ebenſo konnte
die Verwendung der Abgeordneten für adminijtrative Gefchäfte der
Provinzialvderwaltung, auf die ich eingehend aufmerkſam gemadt
hatte, dem Erforſcher der auf dieſes eine Parlament bezüglichen
Urkunden nicht verborgen bleiben: Then, again, there are many
appointments to be made; for example, it is the fashion at
Notizen und Nachrichten.
Die Berren Derfailler erfuchen wir, Sonderabzüge ihrer in
Suntriften erfchienenen Auffäge, welche fie an diefer Stelle
wrügfiichtigt wünfchen, uns freundlicht einzufenden.
Die Redaltion.
Allgemeines.
Ron den Jaſtrow'ſchen Jahresberihten der Geſchichts—
wijsenjchaft it der 16. Jahrgang, 1893, erſchienen (Berlin, Gaertner.
ww. 141. 455. 508. 301 S. 30 M.. Wir brauden nicht zu wieder:
dolen, wie willlommen das pünktliche und ichnelle Erſcheinen diejer Publi⸗
Rution ijt. — Neu Dinzugelommen ijt diesmal ein bejonderer Bericht über
dinefifhe Weichichtäliteratur. So erwünſcht die gebotene überſicht ſein
mag, ſo ſcheinen uns durch die Einfügung dieſes Berichts die dem Unter:
nehmen naturgemäß geſteckten Grenzen ebenſo überſchritten, wie durch die eines
beſonderen Abſchnitts über ſüdruſſiſche Geſchichtsforſchung. Schon jetzt find
die Bände der Jahresberichte zu ſehr großem Umfange angeſchwollen, und
der gegenwärtig vorliegende Band wäre noch bedeutend ſtärker geworden,
wenn nicht mehrere wichtige und umfangreiche Abſchnitte ganz fehlten und
für den folgenden Jahrgang reſervirt wären (für's Alterthum Agypter und
Griechen; für den Abſchnitt Deutſchland der ſchon ſeit Jahren ſchmerzlich
vermißte Abſchnitt über die neueſte Zeit ſeit 1815, ſowie die Abſchnitte über
Verfaſſung und Geſammtgeſchichte; für's Ausland der allgemeine Abſchnitt
über Italien, England bis 1485, Dänemark ſeit 1523, Südſlawen, Neu⸗
griechenland ſeit 1453, Japan, Afrika, Mittel- und Südamerika; endlich die
Abſchnitte über Geſchichtsphiloſophie und über Diplomatik). Wir halten
aus rein räumlichen Rückſichten für geboten, daß beſondere territorial⸗
geſchichtliche Abſchnitte nur für Deutichland gegeben werden, die übrigen
160 Notizen und Nachrichten.
Zeit umfaſſen fell vgl. die Anzeige des Abbe Duchesne im Bulletin
eritique 18% Wr. 4).
Die Verlagsbuchhandlung von Bruylant⸗Chriſtophe in Brüſſel kündigt
das Erjcheinen einer neuen Auflage des Dictionnaire encyclopedique de
gedoxraphie historique du royaume de Belgique an (in 25 Lieferungen
a 1,50 fr. berausgegeben von A. Jourdain und M. L. v. Stalle.)
Die Buchbandlung von D. Harrafiowig in Leipzig ladet zur Subjtrip-
tion ein auf ein neue® Repertorium latinae poeseos (Catholica
Hyınnologiea excepta) ab Hugone Vaganay in Lugdunensi catho-
liva universitate et bibliothecis, da® zur Ergänzung de8 Repertorium
hymnologieum von Ulyſſe Chevalier dienen fol. Es ſoll in zwei Theile,
mittelalterliche und moderne Poeſie, zerfallen und in 5 Faszikeln zu circa
160 Blättern 49 herausgegeben werden (circa 150—200 Blätter für’3 Mittel:
alter, A00 G00 Blätter für die neuere Zeit); Preis pro Blatt durchſchnitt⸗
lich KO}.
Die Verlagsbuchbandlung von Dunder und Humblot in Leipzig beab:
nichtigt, wine populäre, billige Ausgabe von Ranke's Weltgeihidte in
4. Wänden ‚ohne die Anmerkungen und Analekten) lieferungsweije ericheinen zu
tunen, die zu Ranke's 100jährigen Geburtätag, den 21. Dezember d. J.,
vollendet ſein ſoll.
Ron Schoſſer'd Weligeſchichte iſt eine neue Auflage, von ©. Jaeger
bearbeitet und bid ISSS fortgeführt, in einer billigen Vollsausgabe und in
iluſtrirter Rrachtausgabe vollitändig erichienen.
su Wsmand's Weburtstag it im Verlage von &. Heuer und Kirmſe
dus L Det einer nenen Bismard:Rundihau eridienen, die hinfort
in vier jahrlahen Deiten unter dem Titel: Bismarck, illuſtrirte Rundſchau
ſur deuiſche Weſchichte, Kunſt und Leben, erſcheinen fol.
Pie Kerlagsbuchhaudlung von E. Felber in Berlin verſendet einen
Kroſppett uber Die von ibr im vorigen Jahre begründete „Bibliothet
aberer dentiner Überjepungen“, eine Ergänzung zu den fchon
etchenden ahnlihen Unternehmungen von Neudruden. Es ſoll die ganze
deuiſche Überjepungstiteratur vom 14. bis 19. Jahrhundert, vornehmlich
aber die Wuruye Dei Inerjepungskunft in den Streifen der deutfchen Hu⸗
wann beridjichtige werden. Herausgeber fit U. Sauer in Prag.
Die Vachhandlung Hachette et Cie. in Paris fündigt das demnächſtige
iriegeiwen (ver Wblaui des Jahres) des 7. und legten Bandes des großen
Nuanyean dirtionnaire de g6eographie universelle an,
woran d 1ATD begonnene Unternehmen zum Abſchluß gelangt.
m Yalrieriit jür Numismatit 19, 4 veröffentliht R. Weil einen
2‘ a Griftungefeit der numismatiihen Gejellihait zu Be
1 Werteeg: Zur Weichichte des Studiums ber N
162 Notizen und Nachrichten.
noch ber Entzifierung harren, berichtt E. Senart im Journal Asiatique
, 3: Notes W’Epigraphie indienne.
Aus ber Zeitichrift der deutſchen morgenländiſchen Gejellihaft 48, 4
rusiren mir einen bemerfenswerthen Aufjag von H. Oldenberg: Ter
Seisihe Kalender und das Alter des Veda. Verfaſſer wendet ji ent:
idieden gegen Jakobi's ajtronomijche Anjäge, aus denen derfelbe auf zu
hohes Alter des Beda ſchloß. In demielben Heft findet ſich nod) ein in=
'ereiianter Artilel von 3. H. Weißbach: Tas Grab bed Cyrus und die
‚nidriiten von Murghab (als Grab des Cyrus kann am ehejten das fog.
MYriananis Zalomo's gelten; die Injchriften von Murghab gehören dem
‚urrren Cyrus an.)
‚in den Zibungsberichten der Berliner Alademie der Wiſſenſchaften
Je’ Nr. 8 findet fi ein Feiner Artikel von Ed. Sahau: Baal-Harran
ein »inen altaramäiihen Zuichrift auf einem Relief des königlichen Mujeums
ss Herlin unter dem Baal⸗Harran, dem Herrn von Harran, auf einer In⸗
hist von Sendſchirli ijt der Mondgott Sin zu veritehen).
‚sit der Beilage der Münchener Allgem. Zeitung vom 8. Februar iſt
re <trahburger IlniverjitätSrede von ®. Nomwad abgedrudt über „Die
Aantuelſung der ifrachtiihen Religion“.
sie Zeitichrift des deutichen Paläſtinavereins 17, 4 bringt die Schlup-
ale un Benzinger's „Bericht über neue Erfceinungen auf dem Ge—
bet ner Fafajtinaliteratur 1892 und 1893” und von Schlid’3 „Baus
sehehjtchjte ber Stadt Jeruſalem in kurzen Umrijien von den ältejten Seiten
Ile an) bie GErzenwart“.
Hlwı die Auſgrahung der 6. Stadt in Troja im vorigen Jahre be-
Hlantete einer ber Gehilfen Dörpfeld's, Dr. Götze, in der Märzjigung der
Walter Grſellſchat für Anthropologie jehr eingehend. Einen Bericht
uber man In ber National Zeitung vom 12. März.
Ein Vritlel von Th. Trück in der Beilage der Münddener Allgem.
gering bon 6 März: Telphi und die neuejten franzöfiihen Ausgrabungen,
ihn eine populäre, aber eingehende und gut orientirende Überjiht über
biefe Unagabungen. Gbenjo vergleide man einen Artikel von R. Lijter im
Ninelsenth Century 216 (Febr. 1895.: Delphi, und den Beriht Ho molles
in bes Aruelkinie den inner, 22 Nov.⸗Dez. 1894).
Im Wlohus 67, T und N veröffentliht PreLt. Kannenberg einen
größeren Uuſſaß: Tie paphlagoniicen Felſengräber, eine genaue, durch
Helmmungen erläuterte Wefchreibung der von ihm auf feiner Erpedition in
Kieinaflen aufnenonmmenen (Mrabdenktmäler (vgl. unjere Wotiz 73, 155). —
An berfelben Yeltichriit Nr. 9 und 10 gibt ein Auflag von M. Hoernes:
Das Problem der miyteniſchen Rultur, eine Beiprechung neuerer einjchlägiger
7
Wirbeiten. Wan vgl. aud) einen Auiſaß von L. Mariani ir "or
164 Notizen und Nachrichten.
hinaufgefahren wäre, wo ber Fluß noch ungetheilt ijt, und Germanicus
daher nicht noch den zweiten Arm zu überfchreiten gehabt Hätte).
A history of Rome to the battle of Actium by Evelyn Shirley
Shuckburgh, London, Macmillan, 1894 (XXVI 809 ©.) verfolgt
einen ähnlichen Zweck wie die einbändige römiſche Geſchichte von Karl
Peter. Auf Verbreitung in Deutichland kann fie nicht rechnen; wer zu ihr
greifen würde, begnügt jich auch mit Peter. -a-
Mar Zoeller hat feine 1884 zuerft erſchienenen Römiſchen Staats
und Rechtsalterthümer 1895 in zweiter Auflage (Breslau, Koebner, XIV.,
520 ©.) ausgeben können, wird mit ihnen aber jegt Mommſen's „Abriſſe
des römifhen Staatsrechts“ gegenüber einen jchweren Stand haben. -a-
Rudolf Shubert'3 Geſchichte bed Pyrrhus, neu unterfudt
und nad) den Quellen dargejtellt (Königsberg in Pr., Koch, 1894, IV., 288 ©.),
bietet eine jorgfältige Unterjuhung, läßt aber fragen, was fi der Ber-
fafjer unter einer hiſtoriſchen Darftellung vorftellt, wenn er feine Arbeit
für eine folde Hält. Pyrrhus ift für uns aud in feiner Perſönlichkeit
fakbar, und feine Charakteriſtik bleibt eine lohnende Aufgabe. Zu dem
eriten Kapitel ift nunmehr eine Marburger Dijiertation von Hermann
Schmidt zu vergleihen: Epeirotifa, Beiträge zur Gejchichte des alten Epeiros
(Epeiro8 vor König Pyrrhus). Den Bertrag zwiihen Rom und Karthago
aus der Zeit des Pyrrhus behandelt Curt Wachsmuth in der Feitfchrift zum
deutfchen Hiſtorikertage in Leipzig, 1894, ©. 57—68. Bon ben 18 Bogen
jeine® Buches verwendet Schubert mehr als einen auf eine Auseinander⸗
jegung mit den NRecenjenten ſeines Agathofles. -A-
Maurice Albert, Les (irees a Roıne. Les médecins grecs
a Rome (Paris, Hachette, 1804, X, 323 ©.) beginnt das Horaziſche (iraecia
capta ferum vietorem cepit zu illujtriren und beabfichtigt, die Vehand⸗
lung der Künſte folgen zu laſſen. Ten gelehrten Apparat hat der Verjaſſer
nit bieten wollen. -2-
Im Hermes 30, 1 publizirt Ed. Meyer einen Auffag: Der Urjprung
des Tribunat® und die Gemeinde der vier Tribus (nebit einem Anhang
über die Sezeffionen von 494 und 449). Es jolgt in dem Heft eine Studie
zur neutejtamentlihen Quellenkritik von 9. Joachim: Die Überlieferung
über Jeſus' letztes Mahl, und eine Anjchriftenjtudie von E. Ziebarth:
Der Fluch im griedifhen Recht. Hiltoriih von bejondberem Intereſſe find
mehrere Artikel zur Geſchichte der römiſchen Kaijerzeit. TH. Mommijen
kommt in einem interefjanten Aufjap auf „Das Regenwunder der Marcus⸗
Säule“ zurüd (vgl. unjere Notizen 73, 544 und 74, 535). (Er jtellt ſich im
allgemeinen, namentlich bezüglich des Briefes Marc Aurel's, auf die Seite
Harnack's gegen Peterjen und Domaszewski, deren Hyperkritik er mit
idarfen Worten entgegentritt. — Sodann behandelt P. Biered: Cuittungen
166 Notizen und Nachrichten.
demographiques d’Auguste (die Ehegeſetze, lex Julia und lex Papia
Poppaea, und ihre Fortbildung in ber jpätern Kaiferzeit). — In demielben
Heft gibt C. Jullian einen Überblid über die franzöjifhen Arbeiten zur
römiſchen Gejhichte im Jahre 1894. (Travaux sur l'’antiquit6 romaine).
In der Acadömie des inser. machte Breal Mittheilung von einer
in Tunis bei Curba, dem alten Curubis, von einem franzdfifhen Offizier
gefundenen Inſchrift aus dem Jahre 49 v. Chr., der älteiten bisher in
Afrika gefundenen lateiniſchen Jnichrift (beit. Anordnungen zur ers:
theidigung der von den Pompejanern befegten Stadt gegen einen Überfall
der Cäſarianer.
Sn ber Revue de philologie, de litterature et d’histoire anciennes
19, 1 wirft Ph. Fabia die Frage auf: Les ouvrages de Tacite
reussirent-ils aupres des contemporains?, die er in der Hauptſache
bejaht. —
Aus der Classical Review 9, 1 notiren wir eine Unterfudung von
A. 9. 3. Greenidge: The procedure in the »provocatio« (das judi-
cium populi in den SKomitien ijt nad) dem Verfaſſer im Wefentlichen
Kajjationggericht und nur ausnahmsweiſe zugleich wirkliche Provofatione
inftanz mit materieller Abänderung des Urtheils).
Einen interejlanten Artifel veröffentliidt Ch. Hülfen im Bullettino
della commiss. archeol. comun. di Roma 22, 4: II posto degli arvali
nel colosseo e la capacitä dei teatri di Roma antica. Nad dem aus
der Inſchrift vom Fahre 80 n. Chr. zu berechnenden Raum, der den Arval«
brüdern eingeräumt war, berechnet Verfaſſer das Geſammtfaſſungsvermögen
de3 Koloſſeum auf 40—50000 Zuſchauer; ebenfo ftellt er für andere Theater
Berechnungen ihres Rauminhalt3 an. Beiläufig erwähnen wir Vorträge
desjelben Gelehrten im archäologiichen Jnjtitut in Rom über die Lage des
römiſchen Sonnentempel3 (nit am Abhange des Quirinals, fondern bei
©. Eilveftro) und über die via Caecilia (Heerftraße von Rom an’8 abrias
tiihe Meer, Zortführung der via Salaria. — In bdemfelben Heft des
Bollettino publizirt C. Pascal eine Studie: Acca Larentia e il mito
della Terra Madre (a proposito di un passo dei Fasti Prenestini.
Verfaſſer erklärt die Sage für einen Naturmythus, in dem zu der etruß-
tiichen Erdgöttin Mcca uriprünglih Jupiter als Himmeldgott gehörte). End⸗
ih wendet fi in dem Heit EC. Cantarelli nod einmal gegen Vaglieri:
Nuove osservazioni sulla origine della cura Tiberis.
Sn den Studi storici 3, 4 publizirt U. Crivellucci den zmeiten
Theil ſeines Aufjapes: Gli editti di Costantino ai provinciali della
Palestina e agli Orientali (Eus. V. C. 2, 24—42 e 4S—60; I. l’editto
agli Orientali, das er gleichfalls für eine Fälſchung erflärt. Bgl. dazu
von demjelben Verfaſſer am Schluß des Heftes aud bie Necenfion ber
168 Notizen und Nachrichten.
Miscelle von F. Laudert: Der unter Nilos des Älteren Namen über:
lieferte ITapadeıcos (ftammt von Johannes Geometres).
Eine Heine Schrift von R. Erampe: Philopatris. Ein heidniſches
Konventifel des 7. Jahrhunderts zu Konitantinopel (Halle, Niemeyer. 189.
62 S.) ſucht den Beweis zu führen, daß der pfeudolucianifhe Dialog
Bhilopatris eine im Winter von 622 auf 623 entitandene orthodox-chriſftliche
Streitihrift war, die den Kaiſer Heraclius zum Einſchreiten gegen einen
beidnifchen Geheimbund in Konjtantinopel, der feine Hoffnungen auf bie
Perſer jegte, bejtimmen jollte. Die Echrift iſt etwas weitihweifig, und ganz
einwandfrei erſcheinen uns die Argumente des Verfaſſers nicht.
In ber Revue des études grecques 7, Wr. 27/28 ſetzt &. Schlums
berger jeine Publilation fort: Sceaux byzantins inedits, troisieme
serie, no. 99—145. Aus demjelben Heft notiren wir Wrtitel von C. €-
Ruelle: La clef des songes d’Achmet Abou-Mozar (fragment inedit
et bonnes variantes, aus Manuſkripten der Bibliothöque Nationale: und
von 9. Omont: Fragments d'un manuscrit perdu des 6lements
d’Euclide (au8 dem 10. Jahrhundert, in Venedig).
In der Nouvelle Revue Histor. de droit frangais et etranger 19,1
veröffentlicht 9. Monnier die Fortiegung jeiner Etudes de droit byzantin.
Aus der Acad&mie des inscriptions notiren wir nadträglid noch
einen Artikel von CH. Diehl über eine in Kairuan gefundene lateiniiche
Anichrift aus dem 6. Jahrhundert n. Chr. mit einer Nachbildung der eigen-
händigen Bejtätigungsformel des Kaijers für die Urkunde.
In der Wiener Zeitſchrift für die Nunde des Morgenlandes publizirte
Bd. Meißner: Eine ſyriſche Liſte antiocheniſcher Patriarchen (nebit Über⸗
fepung, nad einer Handjchrift des Brittiihen Muſeums).
Qeue Bäder: G. Lumbroso, 1.Egitto dei Gredäi e dei
Romani. 2. ed. Rom, Loeſcher) — Beaudouin, La limitation des
fonds («de terre dans ses rapports avec le droit «le propriete. (Paris,
Larose.) — Boissier, L’Afrique Romaine, (Paris, Hachette.) —
C. Seed, Geſch. des Untergangs der antiken Welt. Bd. 1 und Anhang
zu Bd. 1. (Berlin, Siemenroty & Worms. Mt. 6.) — 8. Baul, Tie
Vorjtelungen vom Meſſias und vom Gottesreich bei den Synoptikern.
(Bonn, Cohen.) — Krauß, Im Kerfer vor und nad Chriftus. Schatten
und Licht aus dem profanen und kirchlichen Kultur: und Nechtäleben ver⸗
gangener Zeiten. ‚Freiburg i.B., Mohr. 6 M.ı — Knöpfler, Schrörs
und Sdralek, Ktirhengejchichtlihe Studien. 2,2: v. Stychowski, Hierony⸗
mus als Literarhiitorifer. 2, 3: Nlebba, Tie Anthropologie des HL. Irenäus.
Münſter, Schöningh. 4,60 bzw. 440 M. — Reville, Les origines
de l’Episcopat. I. Paris, Leroux.)
170 Notizen und Nachrichten.
„Zur Beitattung Karl's des Großen“ nimmt E. Bauls in der Ztidr.
des Aachener Geſchichtsvereins Bd. 16 noch einmal das Wort, indem er
fih im Wejentlihen der Auffaſſung von Lindner anſchließt (vgl. unjere
Notizen 71,172 u. 371). Aus derjelben Zeitſchrift notiren wir einen
Urtilel von K. Rhoen: Zur Geſchichte der älteren Baudenfmale von
Kornelimünjter (dem 10 km ſüdöſtlich von Aachen gelegenen Flecken. Reſte
aus der römiſchen, der fränfijch-merovingifchen und der Karolingiichen Zeit,
mit Abbildungen des Thurms der alten Pfarrkirche aus der Merovingerzeit
und des Grundrijies der von Ludwig dem Krommen erbauten Kirche).
In den Studi storici 3,2 jegt &. Simonetti feine Mittheilungen
über I diplomi longobardi dell’ archivio arcivescovile di Lucca
(T47— 761) fort. — In den Atti e memorie della R. Deput. di storia
patria per le provincie di Romagna gibt P. Amaducci: XNotizie
storiche su gli antichi conti di Bertinoro (mit Abdrud von 16 Urkunden
aus dem 11. und 12. Jahrhundert).
In den Romaniihen Forſchungen 8, 3 veröffentliht Mar Keuffer
eine faft das ganze Heft füllende Abhandlung: Die StadtsMeger
Kanzleien. An außerordentlich jorgjältiger und eingehender Unterjudjung
behandelt Verfaſſer das Urkundenwejen der Stadt Me von Biſchof Bertram
(1180—1212) an, indem er namentlich den franzöfiiden Dialekt der Lirkfunden
nad) allen Richtungen Hin beſtimmt. Im Anhang drudt er 14 Urkunden
in franzöfiiher Sprade au3 dem 13. und 14. Sahrhundert ab.
Sn der Revue de Philologie francaise et provencale 8, 3'4 vers
öftentliht der Herausgeber 2. Clédat einen Artikel: CEuvres narratives
du moyen-dre (Analyſe mit eingefügten Auszügen in Überfegung von
vier Stüden aus dem 12. Jahrhundert, dem lais de Marie de France ıc.‘.
An der Revue histor. 57, 2 jet 9. Pirenne jeine Publikation:
L'origine des constitutions urbaines au moyen-Age fort. E3 wird
jih empfehlen, mit der Bejprechung zu warten, bis feine Unterjuchungen
abgeſchloſſen vorliegen.
In den Sitzungsberichten der Berliner Akad. der Wiſſenſch. 1895 Kr. 8
gibt W. Wattenbad die „Beichreibung einer Handſchrift mittelalterlicher
Gedichte (Berl. Cor. theol. oct. 1894)” aus der zweiten Hälfte des 12. Jahr⸗
hunderts, die zumeiſt keinen bejonderen Verfaſſern zuzuweiſende Schulpoefie
enthält. Wattenbach theilt größere Abjchnitte und mehrere längere lateiniſche
Gedichte über verjchiedenartige Themata daraus mit.
„Über ein Fragment der Annales Öttenburani im Stifte Melf-
aus dem 12. Jahrhundert beridtet P. Cd. E. Katſchthaler in den
Kleinen Mittheilungen der Mitth. des Inſtituts f. Titerr. Geſchichtsforſchung.
In den Blättern des Vereins für Landeskunde von Niederöſfterreich
18, 9-12 madıt N. Starzer Mittheilung iiber das vor einigen Jahren
172 Notizen und Nachrichten.
Aue Bäder: Grimme, Mohammed. IL (Münfter i. W., Aſchen⸗
dorf. 3,60 M.) — G. Brupp, Kulturgefch. des Mittelalters. IL (Stutt-
gart, Roth. 6,80 M.). — Keutgen, Unterfudhungen über den Urfprung
der beutjchen Stadtverfaflung. (Leipzig, Dunder & Humblot. 5 M.. —
Strakoſch-Graßmann, Geſchichte ber Deutfchen in Ofterreih-lingarn. L
(Wien, Konegen. 12 M.)
Späteres Mittelalter (1250— 1500).
In den Mittheilungen des Inſtituts für öfterreihiiche Geſchichtsforſchung
Bb. 16, Heft 1, ©. 1ff. erörtert C. Rodenberg in einer Unterfuchung
„Zur Beihidte der Idee eines Deutſchen Erbreidhes im
13. Jahrhundert” die Vorausſetzungen, von denen die Bäpite Urban IV.
und Clemens IV., zwei geborene Franzoſen, und nad ihnen auch noch
Gregor X. bei ihrer Stellungnahme zu den deutfchen Königswahlen aus»
gingen — alles Pläne, die in ihrer Gejammtheit jelbjit von der Kurie nur
vorübergehend gehegt wurden. Aber ganz offenbar wollten dieſe Päpite
eine angejtrebte Erbmonarchie befördern, jobald als Gegenleiftung ber Ver⸗
zicht auf die Kaiferkrone erfolgt wäre. Eng verknüpfen fi hiermit ferner
die Fragen nad) dem Wahlrecht der Kurfürjten, der Erweiterung des Kirchen⸗
jtaat® und der päpitlihen Herrihaft im übrigen Stalien. Weil wir jchledht
hierüber unterrichtet jind, iſt allerdings jede Phaje, die ſich erfennen oder
vermuthen läßt, beadhtenswerth, und bei dem verwidelten Wechjel der Situa-
tionen ijt Rodenberg’8 genaue und vorfichtige Erörterung des Quellen:
beitandes werthvoll. Im einzelnen werden freilich aud) andere Bermuthungen
möglich jein. J.S.
Ebenda S. Y7 ji. unterfuht Wilhelm Erben nochmald das ältere
öjterreihifhe Rationar, über das bereits N. Dopſch, Mitth. 14, 449 fi.
gehandelt Hatte. Durch genaueren Bergleid mit dem erhaltenen jüngeren
Rativnar komnit Erben mit Notwendigleit zu dem abweidhenden Reſultaät,
da in dem älteren eine einheitliche, urjprüngliche, der Regierungszeit
Otkar's LU. angebörende Aufzeichnung nicht vorliegt. Vielmehr müſſen
beide auf eine Urform aus der Babenberger Zeit zurüdgehen, bie eine zu⸗
fünftige Edition aus ihnen ohne allzugroße Schwierigkeiten wiederberitellen
fan. J.S.
In derjelben Beitfchrift S. 1285. weiſt Heinrih I tto im Anſchluß an
Ficker's frühere Ausführungen genauer nad, daß die Verzichtleiſtung
Alfons’ von Qajtilien vor dem 28. Juli 1275 jtattgefunden haben
muß, an welhem Tag ihm der Papit den cajtiliichen Zehnt verlieh, und
daß eine Verbriefung des VBerzichts vermuthlich nicht erfolgt ift, da es ſich
jormell um Unterwerfung unter den püpjtliden Schiedsſpruch in Sachen des
Thronitreit3 handelte, obwohl immerhin eine Ztelle der Vita Gregorii X.
dem entgegen zu jtehen jcheint. J. 8ð .
Notizen und Nachrichten. 175
en einer Zählung ber Bevölkerung Roms vom Ende d. J.
fang 1527 veröffentliht D. Gnoli aus dem Batik. Arch. in
lella R. Societä Romana di Storia Patria (XVII, 3, 4)
jelben ſtets der Name des Familienvorftandes und die Anzahl
en Samilienglieder angegeben, ald Summe ergibt ſich etwas
Renicen.
Römiihen Quartalſchrift (1894, 3. 4) bringt EHjes aus dem
d eine Dentſchrift des Diego Lopez Zuiiga (Gegner des
3. 1530 zum Abdrud, in welder der Verfajier die Abhaltung
inen Konzils für unzmwedmäßig erflärt, ſich dagegen mehr Er—
Belänpfung Luther's und jeiner Anhänger durch Provinziale
dem Borjige päpitfiher Legaten verjpricht.
srechendes Lebensbild entwirft N. Baulus (Katholit, 1894,
3) von dem Prediger und Biſchof Michael Helding, ber
531 Reltor der Domſchule in Mainz, 1537 Weihbiſchof
of von Merjeburg, 8 Präfident des Kammergerichts
561 als Vorſibender des Reichshofraths in Wien jtarb. Er
5 in den 40er und 50er Jahren an den Verhandlungen und
rädhen mit den Proteitanten thätigen Antheil genommen und
: eine bedeutende Rolle gejpielt.
n tatholiſchen Standpunft au jhildert und beurtheilt E. Goerigk
1895, Febr., 1. Urtitel) Jobann Bugenhagen und die
ıng Ponmerns.
Zeitjchrift des Aachener Gejchichtävereind XVI, 1894 publigirt
dv einige dem Düſſeldorfer Staatsardive entnonmene Alten=
hichte des Aachener Kirdenjtreites im 16. Jahrhundert.
nthalten Verhandlungen zwiſchen dem Kaijer Ferdinand, dem
Jülich und dem Rathe der Stadt Yaden; die Daritellung
tzend beweijen ji, dah der Streit im Wejentlihen als poli—
men iſt und nicht in ausſchließlich kirchlichen Gegenfägen jeinen
fenthalt des Hubertus Languetus in Straßburg (1567
idmet A. Holländer eine Meine Studie in d. Ziſchr. f. d.
rrheins N, 1. Am intereſſanteſten jind die Berichte Languet's
holomäusnadt in Paris, die er als Wortführer einer Ge-
c protejtantijchen Stände miterlebte. Neues über den Verlauf
en bringt er allerdings nicht.
Jahrgang (1894) des Jahrbuchs der Wejellihait für die Ge—
Zroteſtantismus in ſterreich enthält ein jehr mannigfaltiges
uellen und Daritellungen) vornehmlih zur Geſchichte der
rmationin denditerreihiidhen Kronländern, worauf
114 Notizen und Nachrichten.
beruhenden Aufjage® werben zwei Protokolle aus den Jahren 1899 und
1400 abgedrudt. J.8.
Ruysbroeck and the Mystics with selections from Ruys
broeck. By Maurice Maeterlinck. Translated by Jane T. Stoddart
(London, llodder and Stoughton. 1894. 153 ©. 3Sh.6p.) S. 1—121
gibt eine Überjegung von M. Daeterlind’3 Einleitung zu jeiner Über
jegung von Ruyabroed’3 Noces Spirituelles (Bruxelles 1891), welde
eine recht anjprechende, allerdingd vom Standpunkt einer rüdhaltslojen
Bewunderung für die Leiſtungen der mittelalterlihden Myſtik aus gejchriebene
Daritellung der myitiihen Anſchauungen Ruysbroed’8 enthält. Auf S. 122
big 153 iſt eine Auswahl von Stellen aus verjchiedenen Schriften bes
niederländiihen Myſtikers beigefügt.
P. Norrenberg, Tie hl. Irmgardis von Südteln (Bonn.
Hanſiein 1804. 64 S. M. 1.) (Publikationen aus der rheiniſchen Geſchichte Ar. 9).
Die Schrift iſt aus dem Nachlaß des kürzlih ala Pfarrer von Süchteln
($treis Kempen) gejtorbenen Verfajjerd herausgegeben, der ſich durd eine
Reihe von Beiträgen zur nieberrheiniihen Lofalgefhichte befannt gemadıt
hatte. Sie enthält außer einem Nekrologe des Verfaſſers eingehende Unter-
juchungen über die Abjtammung der Heiligen, die für die Genealogie
des älteren Lützelburger Grafenhauſes von Intereſſe find, eine
Geſchichte der Verehrung der Beiligen, eine llberficht über die Irmgardid-
Riteratur, die Terte der lateinifchen und deutſchen Irmgardis-Legende und
den Bericht über die Erhebung ihrer Reliquien im Kölner Dom vom
Jahre 1844.
Menue Büder: Delaborde, Jean de Joinville et les seigneurs
de Joinville. (Paris, Impr. nat.) — Coville, Les Etats de Nor
mandie.. au 14. siecle. Paris, Impr. nat.) — Pisko, Sfanderbeg.
Wien, Frick. 4,80 M. — Erslev, Repertor. dipl. regni Danici medi-
aevalis. 1,2 13271350. iKopenhagen, Wad.)
Reformation und Gegenreformation (1500-1648).
Im Jahrbuch d. Bei. f. d. Geſch. d. Proteſt. in Öſterreich (1896, 1)
behandelt KR. zronine Luther's Beziehungen zu Böhmen und zwar
in dieſem erjten Aufjage jpeziell zu den Utraquijten. Neues Material wırd
dafür nicht beigebradht, die Schilderung beruht im Wejentlichen auf Luther's
Brieien. Die direkten Beziehungen zu den Utraquiſten finden ihr Ende
mit dem Abjall von Luther's früherem PVertrauten Gallus Cahera (1524,
auf den ausführlid, eingegangen wird.
In derjelben geitſchrift weiſt 6. Buchwald an einzelnen Beifpielen
auf die Bedeutung des NSittenberger Urdinirtenbudes von 1537
bis 1560 für die Neiormationsgeichichte Titerreihs bin.
176 Notizen und Nachrichten.
Bearbeiter diejer Verhältniſſe hiermit vermwiejen fein mögen. Auch bie dem
Schlußheft beigegebene Bibliographie über die einfchlägige Literatur des
Jahres 1893 dürfte Manchem willlommen jein.
Eine werthvolle Bereicherung unjerer Kenntnis von der Entwidlung
des Ständethums und ihrer Wechſelwirkung mit den wirthichaftichen In⸗
terejjen gibt die auf eingehenden ardivaliihen Forſchungen berubende Arbeit
Arthur Kern's: Der „Neue Grenzzoll“ in Sciefin. Seine Ber
gründung und Entwidlung 1556—1624 (Berliner Tijjertation 1892). Als
König Ferdinand I. Schlefien 1526 an jein Haus brachte, waren die Gefälle aus
dDiejem großen reichen Lande für den Herridyer nur noch gering. Bor allem
der Türkenkrieg zwang ihn an die Erfchliegung neuer Yinanzquellen zu denen.
Anfänglich jind die Stände auf's Heftigite gegen jeinen 1556 durchgeſetzten
Grenzzoll, ſchließlich erlahmt ihr Widerftand, und der Kampf gegen ben
Srenzzoll wird ein Kampf um den Grenzzoll. Bisher Hatte der ſchleſiſche
Adel Zollfreiheit genojjien. Das Reformationsdekret Kaifer Rudolf 1.
v. 3. 1600, welches bedeutende Tariferhöhungen feitjepte und den bisherigen
Stüdzoll vielfah in einen Werthzoll umjegte, hob dieſes Vorrecht auf.
Zunächſt allfeitiger Widerftand dagegen. Die jchleiiihe Kaufmannicait
wird dadurd) gewonnen, daß für den Handelsverkehr der jremden Kaufleute
zwei= big dreifach höhere Zolljüge eingeführt wurden, aber die Stände als
Vertreter der landwirthichaftlihen Kreiſe widerjprehen um jo heftiger, da
durch die Unterdrüdung der ausländiſchen Handelsfonfurren, der Landmann
vollftändig dem einheimijchen Kaufmann preisgegeben werde Im Anfang
des 17. Jahrhunderts nahm das jtändiihe Element wie in Teutichland
jo aud in Schleſien einen jtegreihen Anlauf, jo dab es jchien, die Stünde
wiirden ihre Obmacht darthun. Der Dreikigjährige Krieg brachte das Gegen:
theil. Tie ſiegreiche Monardie wirft das Ständewejen nieder und vermag
jet ihre Geſetzgebung den Wünſchen des jchlejtichen Handelsſtandes ent»
iprehend zu ändern; die Edilte von 1623, 1624 und 1638 vermehren die
Gegenſtände des Zolls, erhöhen die Zulljäpe und tragen den Wünfchen der
einheimiſchen Kaufmannſchaft darin Rechnung, daß der Ausfuhrzoll für
jremde Kaufleute verdoppelt, für die Juden verdreifacht wird. ık.
In der Ytidır. f. d. Geſch. d. Oberrheins (N. F X, D drudt EHrouit
drei Aftenjtüde bezw. Rechnungsauszüge ab, die einen Einblid in den Stand
der furpfälzifchen Zinanzen, Ipezicll der Nammereinkünjte am Anfang bes
17. Jahrhunderts gejtatten. .
Unter den Gründen, die zur grojen engliiden Revolution
führten, jpielen neben den diplomatijchen und kirchlichen Verhältniſſen die
Oppoſition eines „zwar noch unvollkommenen, aber ehrgeizigen Parlamen⸗
tarismus“ und die Unterhohlung des Throns durch die gerichtlichen Streitig:
keiten und Sandale eine wichtige Wolle. So weit dieje beiden Geſichte—
punkte für die Jahre IE O3—1019 in Betracht kommen, hat jie Sayous
178 Notizen und Nachrichten.
Reue Bäder: Lavisse-Rambaud, Histoire generale IV.
(1492—1559.) (Paris, A. Colin; Xeipzig, Brodhaus.) — Wierzbows-
kiego, Jaköb Uchanski arcybiskup Gnieznienski (1502—1581). (War:
ihau, Kowalewskiego. — Schriften des Vereins für Reformationsgeſchichte
Nr. 46'47: Boſſert, Das Interim in Würtemberg. Nr. 48: Sperl,
Pfalzgraf Philipp Ludwig vor Neuburg, fein Sohn Wolfgang Wilhelm und
die Sefuiten. (Halle, Niemeyer.) — Curti, Carlo Emanuele I. (Milano,
Tip. Bernardoni di C. Rebeschini E. C.). — Corpus constit. Daniae:
Secher, Forordninger, Recesser etc. 1558—1660. IV,1. 2. (Kopen⸗
bagen, Sad.) — Valois, Inventaire des arrets du conseil d’Etat pour
le regne de Henri IV. Il. (Paris, Impr. nationale.) — M. Ritter,
Deutihe Gefchichte 1555— 1648. II. (1586— 1648). Stuttgart, Cotta.
6 M.) — Briefe u. Alten 3. Geſch. d. Dreikigjähr. Krieges. VL (1608%..
Bearb. von F. Stievee (Münden, Rieger.) — Bifhoff und Shmibt,
Teitichrift zur 250jähr. YZubelfeier des pegnefiichen Blumenordend. Nürn⸗
berg, Schrag.:
1648—1789.
Die Hülfstruppen, die der Große Kurfürft von Brandenburg 1663 zur
faijerlihen Armee gegen die Türken entjandte, nahmen ihren Weg ebenjo
wie im folgenden Sahre den Rückweg durch Schleſien. Dieje beiden Durch—
märjhhe, die zu mannigfadhen Reibereien zwiſchen den Truppen und der
Bevöllerung bezw. den Behörden Schlejiend jührten, da dieje leßteren an
gutem Willen jehr viel und die Brandenburger an Manneszucht auch manches
zu wünſchen übrig ließen, jchildert 8. Wutke jo eingehend wie möglich in
einem Aufjag im 29. Bande (Zahrg. 1895; der Ztichr. d. Vereins für Geſch.
u. Alterthum Schleſiens.
Walther Ribbeck veröfjfentlicht im 52. Band der Ztſchr. f. vaterl.
weſtfäliſche Geſch. u. Alterthumsk. (Münſter 1894) den Briefwechſel des
Münſterſchen Domherrn und Dompropſtes Johann Rodger Torck vornehmlich
mit dem Biſchof von Paderborn Ferdinand v. Fürſtenberg in den Jahren
1665 1678. Ta die auswärtige Rolitit des Biſchofs Chriſtoph Bern—
hard von Galen darin die Hauptrolle ſpielt, ſo hat der Herausgeber
Veranlaſſung genommen, die vielverſchlungenen Wandlungen derſelben in
einer ausführlichen Darſtellung klar zu legen. Auch zur Geſchichte des
Großen Kurfürſten von Brandenburg enthalten die Briefe manche Notiz.
Ein ungenannter, äußerſt gelehrter Forſcher iſt durch Die Beſprechung
des verfehlten Buches von Torrens, History of cabinets: from the
Union with Scotland to the Acquisition of Canada. London 18%
angeregt worden, in der Kılinburgch Review, Jan. 18%, fur; und vor:
treitlih die Entwidlung in der eugliſchen Politik von der perjönlidyen
und der Kabinetsregierung zum parlantentariihen Negime darzuftellen.
180 Notizen und Nachrichten.
verdienen in der Mehrzahl nicht die hohe Werthſchätzung, bie Frensdorff ihnen
beilegt. Uber die daran angefnüpften Erörterungen über die religiöfe
Stellung und bie Kirchenpolitik Friedrich Wilhelm's find vorzüglich, fie find
mit da8 Beite, was bisher darüber gefchrieben worden ijt. O.K.
Swanomius bat in feiner Arbeit „Die Bernihtung des ſtändiſchen
Einfluffes und die Reorganifation ber Verwaltung in Oſt preußen durch
Sriedbrih Wilhelm I“ Abth. 1 (Sonderabdrud aus ber Jubiläums⸗
fohrift für die Albertus-Univerfität 1894. Königsberg, Hartung’she Bud»
druderei. 42 ©.) auf Schmoller’8 bekannten Aufſatz weiterbauend gut und
richtig die Punkte dargeftellt, von denen Friedrich Wilhelm's Reform in
Dftpreußen ausging. Er führt feine dankenswerthen Forſchungen zunächſft
bi8 zum Tode Waldburg’8 (1721). Der Tod des Grafen bildet allerbings
feinen Abjchnitt in der inneren Geſchichte Oſtpreußens. Die Abhandlung
fonnte, ſoweit fie fih mit den Ständen jelbjt befaßt, trog allem Fleiß und
Scharfſinn die Forfhung nicht endgültig beichließen, da dem Berfafler nur
die Königsberger Alten zu Gebote jtanden. Die durchaus noch ſtändiſch
gefinnte Regierung der Provinz wurde von ber Berliner Gentralitelle in
allen wichtigen Angelegenheiten nur jo weit in's Vertrauen gezogen, als
es unumgänglid war. Um ein Beijpiel anzuführen: Die Huldigung
Friedrich Wilhelm's ift durchaus nicht fo leicht von Statten gegangen, wie
man allgemein annimmt. gen und Graf Mlerander Dohna mußten erft
mübjelige und jchwierige Verhandlungen mit den Ständen pflegen, ehe dieſe
fih berbeiließen, ohne vorhergehende Erledigung ihrer Gravamina zu
Buldigen. Die Alten darüber werden in den Acta Borussica, Behörben-
organijation Bd. 2, veröffentliht werden. in Theil davon ift bereits in
den „Aufzeichnungen über die Vergangenheit der Familie Dohna.“ Theil 3
benutzt worden. O. K.
M. Grunwald's „Beiträge zur Charakteriſtik Friedrich's
des Großen“ iau8 den Staats- und Stadtarchiv zu Breslau; betreffen
Verwaltung und Jujtizwejen, Bejchleunigung des Prozeßverfahrens, Sicherung
des religiöſen Friedens, befonders auch ;die Fürſorge des Königs für den
Bauernſtand. Deutſche Revue, April 1895.
Eine Anzeige des 1. Bandes von Koſer's „König Friedrich der Große“.
der „Politiſchen Korreſpondenz“ des Königs und des Generalſtabswerks über
bie jchlefiichen Itriege in der Edinburgh Review :Aprilbeft), unter dem Titel
„Alter Zrig“, geitaltet fih zu einer leſenswerthen Studie über bie erjten
Negierungsjahre des Königs.
liber die Bauerngejeggebung unter Friedrich d. Gr. handelt
eine beachtenswerthe Straßburger Difiertation (1895; von Beter Shutia-
toff einem Ruſſen), die, auf Anregung von Profeſſor Knapp entitanden,
deſſen kurze Darjtellung des Gegenjtandes weiter ausführt, wobei der
Bauernſchutz mehr in den Vordergrund gejtellt wird ala bei Knapp. Die
182 Notizen und Nachrichten.
nächſtens erſcheinenden 4. Bande von Chaſſin's Vendee patriote (9. 8.
72, 381), die Sendung der Deputirten Lequinio und Laignelot nad) Roche⸗
fort und der Vendée, mit Mitteilungen aus ungedrydten Memoiren über
die Schandthaten Lequinio's in den Gefängnijien von Fontenay⸗le⸗Peuple.
Vayſſie veröffentlicht zwei Schreiben Napoleon’3 und Lucian's
an Joſeph Bonaparte, deren Originale er in Njaccio im Privatbefig ermittelt
hat. Das Schreiben Napoleon’s, Paris 22. Juni 1792, betrifft Zafayette,
den 20. Juni, die Parteifämpfe in Corjica, Arena, Peraldi, Familien⸗
angelegenheiten. Das höchſt interejjante Schreiben Lucian's, Acclani in
Corfica, 24. Juni 1792, tadelt die zweideutige politifche Haltung Napoleon's.
J'ai toujours demcle, ſchreibt Xucian, dans Napolione une ambition pas
tout & fait egoiste, mais qui surpasse en lui son amour pour le bien
public, je crois bien que dans un Etat libre c’est un homme dangereux.
ll me semble bien penche ü ätre tyran, et je crois qu'il le serait
bien s'il füt Roi et que son nom serait pour la posterit& et pour le
patriote sensible un nom d’horreur. Bon fidy ſelbſt jchreibt Qucian dem
Napoleon damals vorwarf: tu cours apres le pathos): Je me sen» le
courage d’etre tyrannicide, je mourrai un poignard a la main. {Rer.
de Paris, 15. März.‘
Die von Hermant unter dem Titel L'’Egypte en 1798 veröfient«
lichten Wuszüge aud dem Tagebud; des Malers Neboute, der ald Mite
glied der mwilienichaftlichen Kommifjion Napoleon 1798 nad) Agypten
begleitete, geben hauptſächlich eine Schilderung der damaligen Zuſtände diejes
Landes, enthalten aber auch einzelne interejjante Angaben über gejchichtliche
Borgänge, 3. B. den Eindrud der Seeſchlacht von Abukir auf die Zuſchauer
am Lande, die Empörung in Kairo (Oftober 17098 und deren graujame
und verlujtreiche Unterdrückung u. ſ. w. Über Napoleon jelbjt jcheint das
Tagebuh wenig oder nichts zu enthalten. Bemerkenswerth find die Mit»
theilungen Redoute's über die ſchlechte Behandlung der wiſſenſchaftlichen
Mitglieder der Expedition durd) die Tffiziere, weldye den Gelehrten die
Schuld an der wenig beliebten Unternehmung zuichrieben. (Revue bleue,
22. Dezember 1854 big U. März 1845.)
Tie Rev. des deux Mondes (15. März, 1. April u. 15. Wai) veröffentlicht
aus A. Sorel's 5. Bande den Abjchnitt de Léohen a Campo-Formio.
In einer jehr umſichtigen und einleuchtenden Unterſuchung über den
Bruch des Friedens von Amiens jtelt W. Ekedahl feit, dab die
fommerzielle und foloniale Politik Napoleon's, verbunden mit der Aus
Dehnung der franzöſiſchen Madıt auf dent Feſtland, England zur Erneuerung
des Krieges genöthigt hat. Ter Streit um Malta war wichtig, aber keines⸗
wegs enticheidend, das Aufſehen über die Veröffentlichung des Berichtes
Sebajtiani'8 diente nur als Vorwand. (The principal causes of the
184 Notizen und Nachrichten.
Unter dem Titel „Xrrfahrten und Abenteuer eines mittels
ſtaatlichen Diplomaten. Gin Lebend- und Kufturbild aus den Zeiten
um 1800* (Leipzig, Hirzel. 1894. 435 5.) fhildert der Freiherr Ludwig
v. Ompteda das Leben Friedrich's v. Ompteda, der, 1772 geboren,
nad) wechſelvollen Scidjalen in kurbraunſchweigiſchen und weſtfäliſchen
Tienjten, im Jahre 1819 ala fol. hannoverſcher Gefandter in Rom gejtorben
iſt. Sein Name wurde einjt viel genannt bei Gelegenheit des flandafdjen
Prozeſſes gegen die Königin Karoline von England (1820), die er auf
ihren Reifen in Stalien zu beobadten hatte, um ihrem Gemahl die zur
glüdlihen Durchführung eines Scheidungsverfahrens nöthigen Beweife zu
verichaffen. Der VBerfafler, der vor kurzen in der Biographie Chriſtian's
v. Ompteda ein fo interejiante® Buch geliefert hat, hat es auch hier an
erniten Forſchungen nicht fehlen lajjen und aus fyamilienpapieren wie aus
den Archiven zu Berlin und Hannover mandjes Wifjendwerthe über jeinen
Helden zuſammengebracht. Dies ijt bejonder8 der Darſtellung der weit
jälüichen Zeit zu gute gelommen, wo Ompteda in Darmitadt, Frankfurt
a. M. bei Dalberg) und in Wien Gejandter war, ſowie der Erzählung
jeiner eigenartigen Beziehungen zu Karoline von England und der uns
erfreulichen Ymwijchenjälle, die ihm in der Ausführung jeine® Auftrages
begegneten. Eine „geſchichtliche Quelle“, wie der Verfaſſer jelbit erfennt, it
die Arbeit darum nicht geworden; wohl aber ein nidyt uninterefjantes
„Leſebuch“ für Anfpruchsfoje, die an den bunten Wechfel einer Erzählung,
die bald am Reichstag in Negensburg, bald im alten Hannover, am Hofe
Jerome's und in der Villa Karoline's jpielt, ihr Gefallen finden werden.
Der von TH. Wiedemann veröffentlihte Briefwechſel Ranke's
mit Bettina v. Arnim entjtammt den Jahren 1827—29, der Zeit von
Ranke's erjier großer Neije, über die er aus Wien und Rom in feiner
duntaligen jo perjünlichen und lebendigen Echreibweije berichtet. Bettina's
Briefe, in denen jich nad) ihren eigenen Worten ihr Geiſt wie ein „Epiel«
rägchen“ tummelt, beſprechen gejellihaftlihe Ereignitje in Berlin, Varnhagen
und Rahel u. dal. Der Briefwechjel zeigt ein nahes und herzliches Wer:
hältnis, das aber, ſchnell wie es entitanden, aud; wieder vergangen ill.
Deutſche Revuc, April 1895.)
G. Monod ſchildert, ausführlicher als in feiner kürzlich Bier beiprocdhenen
Abhandlung H. 3. 74, 376, die Wirkſamkeit Michelet’8 an der Ecole
normale und zeigt unter Benupung von nachgeſchriebenen Vorlefungen
den einheitlichen Gang in der geijiigen Entwidhung Michelet's, dem ber
Abjall vom katholiſchen Royalismus zum Nadilaliemus mehrfach vor»
geworfen it. Monod bält jene Jahre (1827—38) für Michelet's bejte Zeit,
die damals entitandenen Werke für jeine beiten. (Revuc des deux Mondes,
15. Dezember 184.)
In der Revue (les deux Mondes (1. März 1895) madt Graf
Benedetti Mittheilung von jeinen Erlebniijen als Diplomat in Konftan-
186 Notizen und Nachrichten.
ſchrift 1892 nebſt einem Zujapartifel: Die Beurtheilung der öſterreichiſchen
und preußiſchen Politif im Sybel’fhen Werke. Reval 1893), gibt
zwei anſprechende Vorträge und zwei in der Form jehr mohlmwollend
gehaltene, in der Sade ſtark polemiſche Artikel gegen H. v. Sybel. Tie
erhobenen Vorwürfe beruhen vielfach, wie 3. B. der gegen die Auffajlung
der preußischen Februar-Forderungen, der gegen die Tarjtellung der Gajteiner
Stonvention, überhaupt der ſchleswig-holſteinſchen Frage in Einzelheiten wie
in ihrer Ausgejtaltung zu einer deutjchen Angelegenheit auf einer Bertens
nung ſtaatsrechtlicher Begriffe und vülferrechtlihen Verkehrs. Sie grup-
piren jih um die Behauptung, day Sybel troß ſeines redlihen Willens
es nicht veritanden babe, die öfterreihiihe Politik gerecht zu beurtbeilen.
So ernfthaft diefer Vorwurf zu behandeln wäre, jo fehlt hier der Anlap.
Denn die Begründung, daß nämlich jedes nähere Eingehen, jedes Ber:
ſtändnis für den großen Schmerz jehle, den es Literreic) bereiten mußte,
auf feine hergebrachte Stellung zu verzichten, beruht auf einem methodijchen
Fehler. Die Beurtheilung der öſterreichiſchen Politik war eine weſentliche
Aufgabe der Sybel'ſchen Tarjtellung, nicht aber die Erörterung der Gefühle,
welche ſterreich hatte, als die Konjequenzen diejer Volitit durch Preußen
gezogen wurden Andere Yejer werden ſich daher die angebliche Lücke jelbft
ergänzt haben. E. B.
R.Leonow, Geheime Dokumente der ruſſiſchen TCrient-Rolitil
1882— 1890. Nach dem in Sofia erjhienenen ruſſiſchen Original herauss
gegeben (Berlin, S. Cronbach. 1893. Seit der Mitte des vorigen Jahrzehnts
hat faun ein Ereignis jo bedeutend auf die europäiſche Lage eingewirkt,
wie die mit einem Thronwechſel verbundene Verdrängung des ruſſiſchen
Einfluſſes aus Bulgarien. Eine Altenpublifation hierüber wird daher nicht
nur dag Intereſſe des Molitifers erweden, jondern auch das Auge des
zukünftigen Hiſtorikers auf ſich ziehen. Nun iſt 1892 eine ſolche in Sofia
erſchienen, die auf dag Prädikat „authentiih” Anſpruch erhebt, und von dieſer
ijt durd) Levnow cine deutſche Ausgabe bejorgt worden, welde, indem tie
die von den BVorjipenden der Sobranje, den Bürgermeijter Petkow von
Sofia, in bulgariiher Sprache geſchriebene Borrede als eine parteiiſche,
und die in ruſſiſcher Sprade von dem rujjiihen Konſulats-Dragoman
Jakobſohn als eine nicht genügend orientirte hijtorifche Einleitung fort
fäht und beide durch eine Sammlung hiſtoriſcher Taten wie eine ganz kurze
Erinnerung an die fejtitehenden Thatjachen erjept, doc) für die 241 — 3.
im Ausznge — mitgetheilten Aftenjtüde vollen Glauben verlangt. Mit
volljter Zicherheit läßt Jich darüber nod) nicht urtheilen. Nur fo viel er
jahren wir, daß der Herausgeber der rujjiihen Ausgabe die Alten für echt
ertlärt, daB der genannte Jafobjohn 181 von Rußland wegen Entwendung
von Tohimenten verfolgt ijt, daß er mad der Abberufung der ruffiichen
Konſuln von 1886 bis 1889 in Rujtichuf und jpäter in Bukareſt bequeme
Gelegenheit gebabt Habe, Abſchriiten aus den jonjt nicht unbeaufjichtigten
188 Notizen und Nachrichten.
bient. Hier hätten archivaliihe Studien eintreten müfjen, an welchen Ber:
fajjer vorübergeht. In diefen Abjchnitten bietet das Buch nicht, was der
Titel jagt. Auch Dispoſition und Anordnung find bier mangelhaft, vieles
nit zur Sache Gehörige eingejhoben, wie lüdenhafte Verzeichniſſe germa⸗
nijher und römiſcher Bauten, von römiſchen Kaftellen, alten Begräbnis⸗
jtätten. Recht mangelhaft ift ein beigegebenes Berzeichnid von Welstümern.
Einer nicht immer glüdlihen Neigung zu etymologijchen Spielereien läßt ber
Berfafjer bei jeder Gelegenheit die Zügel fchießen; wir begegnen überall den
ungeheuerlichften Berfuhen zur Erklärung von Orts⸗ und Flurnamen im
Taunus, die meiſtens bejjer unterblieben wären. Beigegeben ijt eine Sarte
des behandelten Gebietd.
Das 15. Hejt der Beiträge zur Geichichte von Stadt und Etift Eſſen
(herausgegeben vom Hilft. Verein in Eſſen 1894) enthält zwei Heine Artifel
von Arens über dad Wappen des Stift und der Stadt Eſſen jowie eine
jehr ſummariſche überſicht über die -Verfafjung des Stift® aus der Feder
desjelben Berfajierg, die er als Einleitung einen Abdrud de Landesgrund⸗
vergleih8 vom 14. September 1794 vorausſchickt. Zwei weitere Artifel von
Grevel und Humann beſchäftigen ſich mit der Baugeichichte Eſſens, ber
legte, verhältnismäßig beite von Dr. Ferd. Schröder bringt Beiträge
zum eben der Abtijjiin Meina von Oberftein (1489—1521). Aus dem
Sahreöbericht gebt hervor, daB das hiftoriiche Intereſſe in Ejien kein jehr
reges zu jein jcheint. Der Zuſammenhang zwiſchen der modernen Induſtrie⸗
jtadt und dem alten Stiftöfleden iſt wahrjcheinlich nur jehr locker. Kohlen⸗
ihächte und Fabrikſchlote jind fchlechte Wegweijer zur Vergangenheit.
In dem Pförtner Stammbucde 1543—1893 (Berlin, Weidmann.
564 5.) bietet Dr. Mar Hoffmann, Überlehrer an der Landesichule Porta,
ein auf gründfichiter Quellenforſchung beruhendes Verzeihnis ſämmtlicher
Zöglinge jener altberühmten Anſtalt von ihrer Gründung big zu ihrer 350 jähr.
Stiftungsfeier im vergangenen Jahre. Tas Berzeihnis umfaßt nicht weniger
ale 12079 Nummern, und wenn fid) daher der Herausgeber bemüht bat,
bie für das Leben der einzelnen Zöglinge wichtigen Nachrichten und Daten,
joweit er irgend konnte, genau zu ermitteln, jo verdient jein Fleiß bie
höchſte Anerkennung. v. Exloffstein.
$. Biermann, der bewährte Forſcher auf dem Webiete der Geſchichte
ſterreichs-Schleſien, hat’ eine zweite Auflage feiner 1863 zuerjt erfchienenen,
feit zwanzig Jahren bereits vergrifienen „Geſchichte des Herzog»
thums Teſchen“ (Teſchen 1894, VIIL 301 2.) veröffentliht. Auf
Grund der zahlreichen Yublitationen Wrünhagen’s und Markgraf's und
nocdhmaliger Forſchung im Breslauer Staatsard)iv hat er die meiſten Par⸗
tieen einer durchgreifenden Neubcarbeitung unterworjen. Tiejelbe tft ber
jonder& der ältejten Geſchichte zu Gute gekommen: doch hätte gerade bier
die neuere hiſtoriſche Literatur von polnijcher Seite einige Berücſichtigung
1% Notizen und Nachrichten.
Jena, Sicher. 15 M. — Frhr. v. Uslar-Gleihen, Geſch. ber Grafen
von Binzenburg. (Hannover, Meyer.) — Nehlſen, Dithmarſcher Gefchichte
(Hamburg, Berlagsanitalt. 5 M.)
Bermifdtes.
Bom 26. Zuli 6i8 3. Augujt d. 3. wird in London der jedhite
internationale Geographenkongreß tagen, zu dem audh aus
Deutſchland zahlreiche Betheiligung in Ausjicht ſteht.
Die Göttinger philoſ. Fakultät bat folgende (langathmige) neue Benele-
ide Breisaufgabe für das Jahr 1898 ausgefchrieben: Apollodori
chronicorum reliquiae colligantur, eimendentur, illustrentur. Jubemus
ipsum librum restitui, quoad hoc fieri potest, artem poäöticam, elo-
cutionem, figuras dicendi explicari, consilium et studia grammatici,
rationes chronologicas examinari. Optamus, ut definiatur, a quibus
chroniva lecta sint, quantam apud posteros auctoritatem habuerint;
sed in fidem rerum narratarum inquiri non expectamus. Bemwerbung®
ichriften find in lateinijcher Sprache zum 31. Auguſt 1897 an die pbilofophiiche
Safultät zu Göttingen einzujenden. 1. Preis 1700 M., 2. Preis 680 M.
Der Vorſtand der Gejellichaft für Rheiniſche Geſchichtskunde (Borfigender:
Stadtardivar Dr. Hanjen, Köln‘ madt bekannt, daß die Yrift für Die
Preisaufgabe der Meviljen-Stiftung: „Uriprung und Entwidlung ber Vers
waltungsbezirfe (inter) in einem oder mehreren größeren Territorien ber
Rheinprovinz bis zum 17. Jahrhundert“, big zum 31. Januar 1897 vers
längert worden ijt.
Ter „Deutihbund“ in Berlin erläßt ein Preisausjchreiben für eine
„Geſchichte des deutfhen Volkes“. Kinzureihen it zunächſt nur
die Bearbeitung zweier Abjchnitte: Zeit der Hanjablüte und der oitbeutichen
Kolonifation, und geitalter Friedrich's des Großen. Einlieferungsfriit bis
zu Bismard’s Weburtstag, 1. April 1896, Preis 1000 M. und nad Abſchluß
und Bequtahtung des dann zu vollendenden Ganzen weitere 2000 M.
Zirkulare und Ausfunft dur den Bundeswart Dr. Friedrich Lange in Berlin
und den zweiten Schriftwart: Karl Techentin, Berlin SW., Bimmerftr. 7.
Am 12. Februar ſiarb zu Münden der Stonjervator der dortigen
ägpptologijwen Sammlungen, Franz Joſef Lauth, im 73. Lebensjahr
‚geb. am 18. Februar 1822 zu Arzheim in der Rheinpfalz,.. Seine Schriften
gebören zumeiji der ägyptiichen Alterthumskunde an; befannt find nament«
lich jeine Unterfuchungen über Manetho und den Turiner Rönigspapyrus
München 1869.
An Hannover jtarb am 18. Februar der dortige Staatdardjivar und
Seh. Archivrath Karl Eduard Guſtav Janide, geb. am 1. Januar
1529 zu Magdeburg, der ji namentlich um die mittelalterliche Geſchicht⸗
192 Notizen und Nachrichten.
Am 22. Februar ftarb zu Paris im Ulter von 87 Jahren der pro»
teitantifche Theologe und Kirchenhiftoriter Buaur, u. a. Berfafler einer
Geſchichte der franzöfiihen Proteitanten.
In London ſtarb am 5. März der berühmte Archäologe und Eprad-
foriher Sir Henry Rawlinſon im 85. Lebensjahre (geb. 1810). Ur:
ſprünglich Militär und Diplomat, benugte Rawlinſon jeinen dienftlichen
Aufenthalt in Perfien zu ſprachlichen und archäologiſchen Studien, und von
feinen Abklatſchen und Entzifferungen der altperjiihen und aſſyriſch⸗babylo⸗
niſchen Keilinjchriften Datirt eine neue Epoche ber Keilſchriftforſchung. Sein
großes Hauptwerk find The cuneiform inscriptions of Western Asia in
4 Bänden, 1861—10.
Am 11. Mär ftarb in Mailand der italieniihe Geſchichtſchreiber
Ceſare Santu im 88. Lebensjahre (geb. 8. Dezember 1807 zu Brivio in
der Lombardei), Berfaffer der befannteften Weltgeichichte in ttafienijcher
Sprade (in 35 Bänden, 1835 begonnen, in katholiſcher Auffafjung gefchrieben .
Er Hat außerdem zahfreiche Heinere hiſtoriſche und literarhiſtoriſche Arbeiten
veröffentlicht und auch als Dichter fih einen angejehenen Namen erworben.
Über Viktor Duruy veröfientliht E. Laviſſe in der Revue de
Paris vom 15. Februar und 1. Mär, Erinnerungen aus intimer Kennmis.
Entgegnung.
Zu der Kritik in Bd. 74, 347 dieſer Zeitſchrift bemerkt der Unterzeichnete
zur Steuer der Wahrheit Folgendes:
Tie beiden vom Ref. getroffenen „Artitel* B. 3. Heft 94 und Beilage
zur Allgem. Ztg. 1894 Nr. 250 enthalten feine Wiederholungen, jondern
bringen im ®egentheile die betr. Rejultate in erjter Form, ebenjo die
Arbeit über den „Drachenfels“.
Neujtadt a. d. H., 20. März 1845.
Dr. C. Mehlis,
tgl. Gymnaſiallehrer, Borjtand des Alterthunsvereins zu Dürfdeim, ausw.
Sekretär des B. v. A. i. RH. ıc.
194 N. Pöhlmann,
Die jentimentale Idylle diejed Naturzuftandes beruhte in
doppelter Hinſicht auf falfchen Vorausſetzungen: Einmal auf
einer ganz unhiftorischen Anficht von der Sugendlichkeit der Nation
und dann auf übertriebenen Vorjtellungen von der dfonomilchen
Gleichheit primitiver Gejellichaftszuftände. Welch’ ungemefjene
Beiträume mögen verjtrichen gewejen jein zwijchen jener Urzeit,
in der die Hellenen aus dem Mutterjchoße der indogermaniichen
Völferfamilte ich losgelöſt hatten, und der Befiedlung ihrer
hiſtoriſchen Wohnſitze am Mittelmeer! Die Hellenen in Hellas
waren von Anfang an nicht® weniger als ein Volf, das gewiſſer⸗
maßen eben erſt aus der Hand der Natur hervorgegangen, wie
jih da3 die nationale Sage von dem Urhellenen Deufalion vor
jtellte; — fie hatten vielmehr bereit3 eine lange Vergangenheit
hinter ji). Andrerſeits mag man fich die jozialdöfonomijchen
Zuſtände des älteiten Hellas noch jo wenig entwidelt denfen, eine
Verwirklichung des Gleichheitsideals, wie es der Lehre vom Natur
zuftande vorjchiwebte, würde man ſelbſt hier nicht gefunden Haben.
So enge auch damals noch das Gemeinfchaftsleben inner
halb des Stammes: oder Sippenverbanded geweſen jein mag;
jobald einmal ein Sondereigen an der Fahrhabe, an den Herden:
thieren der Weiden, an Geräth und Hausrath, an Schmud und
Waffen anerfannt wurde — und dies war befanntlich fchon in
der indogernanijchen Urzeit der Fall!) —, war auch die Mög
lichkeit gegeben, dag der Einzelne die Stopfzahl feines Viehes
beliebig vermehrte und ſich dadurch an Wohlitand über bie
Genojjen erhob, während andrerjeit3 das wechjelvolle Schidjal,
welchem das lebende Kapital des Hirten unterworfen ift, bie
Sorglojigfeit, mit der der Naturmenich dem Yugenblide lebt
und die Anjammlung genügender VBorräthe für Menic und Thier
vernacdhläjjigt, nur zu leicht den Wohlhabenden zum Bettler
machen fonnte.?)
») Bgl. die Überficht über die Terminologie für Eigentum, Beſiß,
Reichthum in den indogermanifchen Sprachen bei Schrader, Linguiſtiſch⸗
hiſtoriſche Forſchungen zur Handelägeidichte und Waarenfunde 1, 59 ff.
2) Vgl. 3.8. die Beobachtungen Middendori’s über die Romaden bei
derghanathals, in den Memviren der Petersburger Akademie 1881 S. 885 fi.
Aus dem helleniſchen Mittelalter. 195
Mit diejer natürlichen Tendenz zur Entwicklung jozialer
Ungleichheit verband ſich aber jchon frühzeitig ein zweites, im
derjelben Richtung wirfendes Moment: die Möglichkeit, fremde
Arbeit zur Steigerung der wirthjchaftlichen Kraft des Einzelnen
und zu perjönfichen Dienten nugbar zu machen. Wenn die
Griechen jpäter vielfach geglaubt haben, daß es bei ihnen in
ältejter Zeit feine Unfreien gegeben habe!), jo überjehen fie, daß
ſich die Unbelanntjchaft mit der Sklaverei nur unter den aller-
primitivften Lebensverhältniffen, bei Jäger- und Fijchervölfern,
findet, weil hier eben an eine entſprechende Verwerthung der
unfreien Arbeit in der Megel nicht zu denfen ift. Dagegen ent
wicelt ſchon die Viehzucht und noch mehr der Aderbau das
Bedürfnis nach dienenden Arbeitskräften, welches auf niedrigen
Wirthſchaftsſtufen am beften durch unfreie Menjchen befriedigt
werden fonnte.?) Beſonders den Aderbau überläßt ein noch
halb nomadijches, nur widerwillig zur Bodenbejtellung fich ber
quemendes Volt, wie es die älteften Hellenen allem Anfcheine
nad) waren, am liebjten Anderen, Frauen, Greifen und Knechten.
Und es iſt imjofern wohl begründet, wenn der Prophet von dem
Pfluge gejagt hat, daß, wo mur dies Werkzeug hingedrungen
fei, es jtetS auch die Knechtichaft mit fich geführt habe. War
‚aber einmal das Bedürfnis nach unfreier Arbeit erwacht, jo ergab
ich feine Befriedigung von ſelbſt auf mannigfadhem Wege: vor
allem durch Noth und Gewalt. Die durch den Verluſt der
Verarmten, die in Kampf und Fehde Unterlegenen fanden
eben durch die Knechtichaft die Rettung ihres Daſeins. An die
Stelle der urſprünglichen Sitte, den befiegten Feind zu erfchlagen
oder den Göttern zu opfern, trat immer allgemeiner die Vers
tnechtung, welche die Arbeitskraft des Beſiegten dem Sieger
Daß dieje Herrjchaft über unfreie Arbeitskräfte die Ent
widlung der Ungleichheit unter den Freien jelbft fördern mußte,
M) Bgl. 3. B. Herodot 6, 137; Pherefrat. bei Athenäus 6, 630. Da-
gegen Philohoros in Macrob. Saturnal. 1, 10.
5) Daber führt Mommien, R. ©. 1%, 17 die Stlaverei als rechtliche
Inftitution mit gutem Grund bis in die indogermanifche Urzeit zuriid.
13*
1% N. Pöhlmann,
leuchtet ein. Beſonders werden die Führer des Volkes, die
Bejchlechtd: und Stanmeshäuptlinge in der Lage geweſen fein,
ſich dieſes Mitteld zur Mehrung ihres Beſitzes und ihres An:
\ehen® zu bedienen. Wohl mochte jeder freie Stammesgenofie
jelbit jenen ſich gleichitehend dünfen, thatfächlich ift doch gewiß
ſchon diefer Zeit die Erfenntnis nicht erfpart geblieben, daß un-
gleicher Beſitz ungleiche Macht bedeutet.
Werden wir annehmen dürfen, daß ein ſolches Vol, wenn
es nun zu voller Seßhaftigfeit und zur endgültigen Vertheilung
bes nationalen Bodens überging, diefe Theilung auf den Fuße
vollfommener Gleichheit durchgeführt hat?
Darüber kann ja allerdings fein Zweifel bejtehen, daß, was
die große Mafje der ‘Freien betrifft, die den einzelnen Familien
oder Individuen zugemwiejenen Zandantheile durchichnittlic) von
annähernder Gleichheit gewejen find. Die Bezeichnung der Hufen
als “Arooı, welche unverkennbar auf eine Theilung durch's Los
hinweiſt, nöthigt zu der Annahme, daß diejelben urſprünglich
ein gewiſſes Normalmaß des Landeigenthums darftellten, welches
etwa der Zeiftungsjähigfeit und den Bedürfniffen der Durd»
ſchnittsfamilie entſprochen haben wird.!) Allein das jchliekt
keineswegs aus, daß Einzelne, und zwar nicht nur die Häupt⸗
linge, fondern auch Andere, welche die Mafje an Belig und
Anjehen überragten, einen bevorzugten Antheil erhielten. Wenn
in der Ilias die Sitte erwähnt wird, verdiente Helden von
Geite der Gejammtheit in ähnlicher Weije, wie den Fürften mit
reichlihem LZandbefit, mit einem r&uevos auszujtatten, jo wurzelt
diefer Brauch offenbar in uralter Gewohnheit des Volkes.?)
Es wird bei den Hellenen nicht ander® geweſen fein, als bei
den Germanen der taciteiichen Zeit, die den Grund und Boden
ebenfall® „nach der jozialen Werthſchätzung“ (secundum digna-
tionem, Tac. Germ. 26) getheilt haben. Noch weniger it
natürlich zu bezweifeln, daß bei den jpäteren Landtheilungen,
1) Aus den Angaben über den Ertrag der fpartiatifhen Landloſe fchliekt
E. Meyer (G. d. A. 2, 297), daß diefelben ungefähr die Größe einer deutichen
Hufe (30-40 Morgen) gehabt hätten.
2) 9, 578 fi.; 20, 184.
Aus dem helleniſchen Mittelalter. 197
den legten Wanderungen und Umficdlungen, durch welche
gejchichtliche Hellas jeine Gejtalt erhielt, der Verſchiedenheit
Inſehens, des Bejiges, der Macht Rechnung getragen wurde.
Mit dem definitiven Abſchluß der Landtheilung umd der
ildung des Privateigenthums am Grund und Boden begann
aber der angebeutete Entwidlungsprozeh der Ungleichheit
Unfreiheit in der Geſellſchaft mit erneuter und vermehrter
t feine Wirkjamfeit zu erweiſen. Sowie der Boden zum
athum ward, wurde er auch alsbald von jener Bewegung
fien, welche das Güterleben beherrſcht und durd) die Art
Weiſe, wie fie den Übergang des Eigenthums aus einer
> im die andere vermittelt, die urfprüngliche Verteilung
firzerer oder längerer Zeit wejentlich umzugejtalten vermag.
einmal die Möglichkeit gegeben, durch Erbſchaft, Vertrag,
it u. j. w. mehrere Hufen in Einer Hand zu vereinigen, jo
felbſt die weitgehendfte Gleichheit in Bälde durchbrochen
- Sa e3 fonnte vielfach nicht ausbleiben, dab ſich im
e der Zeit durch die Vermehrung der urfprünglich nur aus—
isweiſe vorhandenen größeren Bejigungen eine höhere wirth—
tliche Klaſſe über den einfachen Hufenbefigern erhob.')
Dazu kamen die tiejgreifenden Wirkungen, welche das Wachs-⸗
t der Bevölferung auf die Vertheilung der Güter zur Folge
Der Beſitzer eines Angos, der mehrere Söhne hatte,
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Lage der Familie mußte ſich daher nothwendig ver-
(, jo lange nicht etwa die Möglichkeit beftand, aus
oder Odland den Beitand der Hufe zu vermehren,
ie Nachkommenjchaft, für welche diejelbe nicht mehr aus—
, neuen Kulturboden zu gewinnen. Daß aber dieje Quelle
rbes in vielen Landichaften ſchon in ziemlich
it zu verfiegen begann, zeigen die Schilderungen des
ei Epos, die ganz aus den Empfindungen einer Zeit
8 irt find, in welcher der innere Ausbau des Landes
9 Bgl. bie geiftvolle Schilderung diejes Prozefies bei Lorenz v. Stein,
Entwidlung der Staatswiſſenſchaft bei den Griechen. Cipumgsber. ber
er Alad: (phil-hift. 81.) 1879 ©. 255 ff.
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198 R. Pöhlmann,
im Weſentlichen vollendet war und für welche die landſchaftliche
Phyſiognomie bereits durch das — Unland und Wald weit
zurückdrängende — Kulturland wohlgepflegter Fruchtgärten und
Ackerfluren entſcheidend beſtimmt wurde.) Wenn — wie die
Kyprien beweijen?) — die Verdichtung der Bevölkerung ſchon im
7. Zahrhundert ala förmliche Übervölferung empfunden wurde,
jo müſſen damal3 die Zeiten, wo es noch anbaufähige Mark
gründe oder herrenlofeg® Land genug gab, um den Nahrungs
jpielraum der Bevdlferung ihrem Wachsthum entiprechend zu
erweitern, längit der Vergangenheit angehört haben.?)
Ein bedeutiamed Symptom dieſer wirthichaftlichen Thatſache
jind die Siedlungsverhältniffe derjenigen Landichaften, welche das
Epos jchildert. Während im germanijchen Mittelalter die Großen
des Volkes ihre Herrenhöfe und Burgen mit Vorliebe in um
bewohnten und erjt durch Rodung zu gewinnenden Gegenden
aufbauten, jehen wir bereit3 in der Welt des hellenifchen Epos
die Edlen vielfach) im Mittelpunft des Gaues zulammenwohnen‘).
Die zahlreichen homerifchen roAeıg und sıroAledoa, welche „die
Edlen jchirmen“®), mochten meiſt nur Eleine befejtigte Orte von
wejenlich agrarifchem Charakter jein, fie bezeugen aber immerhin
1) ©. meine Abh. über die Feldgemeinſchaft bei Homer. Ztſchr. f.
Sozial- u. Wirthſchaftsgeſch. 1, 34 fi.
2) Sie führen die in der Ilias erwähnte Jovdn des Zeus auf die weile
Abſicht des Gottes zurüd, die Erde vom Drude der Übervölferung zu
befreien! (our dero xorgyiooas ardoar naußestopa yalar).
5 Wenn wir auf der Inſel Cypern die Möglichkeit und das Recht der
freien Rodung und Befigergreifung nod in biftorijher Zeit finden, fo ift das
eine lofale Ausnahme, die für die allgemeine Auffaſſung der helleniſchen
Volkswirthſchaft nicht in Betradyt fommt. Eratoſthenes (bei Strabo 14, 684),
der ung davon Sunde gibt, hat übrigens felbjt bemerkt, daß bier die Offue-
pation von dland zu freiem Eigenthum erit dann zugelafen wurde, als
man in anderer Weiſe der undurchdringlichen Waldwildnis der Inſel nicht
Herr werden konnte (ws de or LEsvixovv inurgewas Tois Bovklonsvoss ui
Örvauerows Exxonter xai Eye idiuxentov xai areir, try diaxadagdeisar yıw.
*), In der Odyſſee ericheint e& bereit? ald eine Ausnahme, daß der alte
Laertes ftändig &n’ ayoor vooyı noAros wohnt und nie nad der Stadt
tommt. Od. 11, 187; 24, 212.
8) apıori.wr, oi Te atolis9ga Hrorra Ilias 9, 396.
200 R. Pöhlmann,
Aber auch das vermochte nicht zu Hindern, daß zulegt eine-
Klaſſe von Freien heranwuchs, die entweder zu wenig bejaßen, um
ihre Arbeitäfraft auf der eigenen Scholle genügend zu verwerthen,
oder die überhaupt fein Stüd Land mehr ihr Eigen nennen
fonnten. Eine Entwidlung, die dann ihrerjeit3 wieder ein neues
Moment der Unfreiheit in ihrem Schoße barg. Denn in einer
auf der Naturalwirthichaft beruhenden Gejellichaftsordnung, im
welcher der Grundbeſitz die unentbehrliche Worausfegung einer
jelbftändigen Erijtenz bildete, war der Landloſe nothiwendig zugleich
ein abhängiger Mann. Er mußte fich einem fremden Willen
unterwerfen, indem er jich entweder als Lohnarbeiter (Thete) bei
einen Grundbejiger verdang, oder — im günjtigeren Fall —
von demfelben gegen Grundzins und Dienfte Land zur Bebauung
erhielt. So mehrten fich neben den Höfen der größeren Befiger
die Hütten der abhängigen Leute, der Häusler, Kathſaſſen, Inſten
(oix&es!), zelaraı, zıgvorseiaran?). Und diefe Abhängigkeit
verhältniffe nahmen ganz naturgemäß in der Regel einen dauernden
Charakter an. Bei der durch die Naturalmwirtbichaft bedingten
Unbeweglichkeit aller Verhältniffe mit ihren unvermeidlichen Be
Ihränfungen der Freizügigkeit, die durch die Stleinheit der Terri⸗
torien und die Unficherheit eines unentwidelten Rechtslebens noch
vermehrt wurden, war eine nur auf die Verwendung der Arbeit?
fraft angewieſene Exiſtenz eine viel zu ungewiffe, al® daß ber
befigloje Freie nicht jelbit das Bedürfnis empfunden haben follte,
in einem berrichaftlichen Verband eine dauernde Sicherung feines
Dajeind- zu ſuchen. Selbit in den fortgejchritteneren Zeiten,
ı) Im Stadtredit von Gortyn passim, wo der Ausdruck allerdings
für Hörige gebraudt wird; aber er ift gewiß ebenjo aud) für freie Häusler
gebraucht worden, wie dad Wort nelaras und neoonelaras, weides daneben
ebenfalls für Hörige vortommt (Theopomp bei Athen. 6, 271).
2) Die antiten Erklärungen des Wortes: Errei ro nelas dyyvs ’ olor
&yyıora da neviaw ngocıorres und die andere: oi apa Tois aÄnciov deya-
Gouevos xad Iires GPhotius s. v.) treffen den Kern der Sache nicht ganz.
Es ift vielmehr auszugehen von der Verbindung der Behaufungen biefer ab-
hängigen Leute mit dem berrichaftlihen Gute. Allerdings ijt dann das Wort,
ebenjo wie oixers, ganz allgemein für dienende Leute überhaupt gebraucht
worden.
202 ° N. Pöhlmann,
wie der vaterlandsloje Beifafje, der, mißachtet!) und gelegentlich
auch ſchnöder Behandlung ausgeſetzt, in derſelben dienenden
Stellung jein Leben jriftete, wie er? Und wie fonnte es da
andrerjeit8 ausbleiben, daß diefe Klaſſe dDienender Leute, zumal
wenn die Abhängigkeit jich durch Generationen vererbt hatte,
vielfach auch eine Minderung ihres echtes erfuhr, daB das
natürliche Bejtreben der Herren, ihre freien Gutsinſaſſen ebenjo
bleibend an den Boden zu feſſeln, wie die Unfreien, mehr oder
minder erfolgreich war?
Der Verlauf diejer Entwidlung entzieht fich allerding® unjerer
Kenntnis, allein jie ift ung deswegen faum weniger gewiß. Denn
fie erjcheint al3 der nothwendige Ausdrud jene allgemeinen
Geſetzes geichichtlicher Entwidlung, vermöge dejjen die nriprünglid
wirthichaftlichen Klaſſen — ohne eine genügende Gegenwirkung
der Staatögewalt — noch immer zu Rechtsklaſſen geworden find.
Die KHlafjenbildung bleibt nicht bei der Erzeugung wirthſchaft⸗
liher Klaſſen jtehen, jondern enthält ſtets zugleich Die weitere
Tendenz, aus dem wirtbichaftlichen Unterſchiede zulegt einen
rechtlichen zu machen. In einer Zeit, in der das dfonomijche
Bedürfnis nach perjönlichen Dienjten und nach Arbeitsfräften in
der Produftion, insbejondere in der Bodenproduftion, am beften
durch unfreie Menjchen befriedigt werden konnte und wo andrer:
ſeits die ftaatliche Rechtsordnung noch lange nicht jo feſt gefügt
war, daß auch der, welcher zu ſchwach war, ſich jelbft zu jchügen,
mit Sicherheit auf den Schuß der Gejammtheit hätte rechnen
dürfen, in einer folchen Zeit mußte der wirthichaftlich Abhängige
und Unfreie vielfach auch rechtlich) unfrei werden.
Wurde doch diefer Prozeß durch Sitte und Necht geradezu
gefördert! In ſolchen Zeiten der Frübfultur, denen uneingejchräntter
Egoismus auf der einen Seite, Mißachtung der Perjönlichkeit auf
der andern ihr Gepräge gibt, hat das Hecht eine unbegrenzt
dispofitive Natur. Wie die Germanen der taciteifchen und einer
noch jpäteren Zeit, fonnte in Althellas 3. B. der Schuldner Leib
1) atiurtos ustaracırs! Il. 9, 648; 16,59. Dem Dichter erfcheint
das Schichſal der landlojen Feldarbeiter ala der Gipfel menſchlichen Eiende'
Alias 21,42 fi. Od. 11, 489.
204 N. Pöhlmann,
thum die Grundherrfchaft. Eine Thatiache von weittragenditer Be
deutung für das geſammte joziale und politiiche Leben des Volkes!
Bis dahin Hatte die Gleichförmigfeit des Beſitzes und eine
gewiffe Gleichheit des Beſitzmaßes bei der großen Menge der freien
Volksgenoſſen eine Ähnlichkeit der Verhältniffe der Gefinnungen
und der Intereſſen zur Folge gehabt, welche eine eigentliche
Standesbildung nicht hatte auffommen laſſen. Wenn auch die
Unterfchiede von Reich und Arm, von Vornehm und Gering nidt
fehlten, jo waren fie doch zu vereinzelt geweſen, als daß fie ein
wirkſames Ferment fozialer Gliederung hätten abgeben können.
Das änderte fich, als aus der zunehmenden Zahl dienender und
zinspflichtiger Zandarbeiter einerjeit8 und größerer Grundbefiger
andrerfeitö zwei Gejellichaftsklaffen neben der Maſſe der gemeinen
Freien erwuchjen, von denen die eine unter das Niveau der
gemeinen Freiheit herabſank, die andere weit über dasjelbe empor:
itieg. Die wirthichaftliche Überlegenheit mußte ja im Laufe der
Zeit aud) in ſozialer und politischer Hinficht zur Geltung fommen.
Wie ganz anders gejtaltete fich jetzt das Verhältnis der freien
Volksgenoſſen unter einander, jeitdem den einfachen Hufnern und
den kleinen Stellenbefigern, die im Schweiße ihres Angeficht® mit
eigener Hand den Boden bearbeiteten, eine fraftvol aufitrebende
Klaſſe gegenüberjtand, der ihr Bei es geitattete, arbeitslos von
den Erträgniffen dienender Leute zu leben, ſich in freier Muße
dem Waidwerf und der Waffenübung, den Angelegenheiten der
Gemeinjchaft zu widmen! 8 konnte nicht ausbleiben, daß das
Bewußtſein einer höheren Lebensthätigfeit, einer Durch Diele
gefteigerten perjönlichen Befähigung, insbejondere größerer Wehr:
haftigfeit, das Gefühl der im Beſitze liegenden fozialen Macht
und endlich die Vererblichfeit al’ diefer wirthichaftlicden und
gejellichaftlichen Vorzüge von Gejchlecht zu Geichlecht eine ftetig
fi) erweiternde Kluft zwilchen dieſer Klaffe und der großen
Menge der Freien erzeugte. So entiprang aus der Ehre und
Auszeichnung, die ererbter Befig verleiht!), eine neue Standesform,
1) Aus dem 0ABw Te nAortp Te urtungenew (Il. 16, 696) oder
xexncYas (24, 535,. Vgl. Odyſſ. 14, 205: 05 Tor’ Eri Konrsacs Isos ws riste
Örup oABp Ts nÄoitw Te.
206 N. Pöhlmann,
entitanden, waren für den Eleinen Dann um fo verhängnisvoller,
als in einer Zeit unentwidelten ftaatlichen Rechtsſchutzes Alles
auf die perfönliche Wehrfähigfeit anfam, und der Schwache, der
Perjon und Beſitz nicht jelbft zu verteidigen vermochte, nur zu
oft rettungslos die Beute des Mächtigen wurde. Daß da —
ganz ähnlich wie im germanifchen Mittelalter — viele freie
Volksgenoſſen fich der Bürde und den Gefahren des freien Standes
entzogen und fich unter den Schuß eines Mächtigen ftellten, kann
faum zweifelhaft jein.!)
Auch bat gewiß bier, wie dort, oft genug unmittelbarer
Zwang, rohe Gewalt mitgewirkt, den kleineren Freien beſitz⸗ oder
rechtlo8 zu machen. Noch im homeriſchen Epos reflektiren ſich
die Zuftände einer Epoche, in der man um der Sicherheit willen
allgemein in Waffen ging.) Man denfe an die privatrechtliche
Auffafjung des Strafreht3 und die bedeutjame Rolle, welche
im älteren Hellas die Blutrache ald allgemein anerfanntes Rechts
mittel geipielt Hat, an die Stlagen des Epos über die Schuß
lojigfeit der des Vaters beraubten Waijen, dic ftet in Gefahr
jeien, durch Andere von dem ererbten Grund und Boden ver
drängt zu werden?), wenn ihnen feine Helfer zur Seite jtänden*),
in3bejondere feine Blutsverwandten, „welchen der Mann im
Streite vertraut, wie heftiger Kampf ſich erhebe“?); — man
denfe an die wilde Raub- und Fehdeluſt der alten Zeit, welche
eine jtetige Gefahr für Freiheit und Eigenthum bildete.) alt
1) Auch E. Meyer a. a. O. S. 305 iſt der Anſicht, dab weſentlich auf
diejem Wege ein großer Theil der Xandbevölferung unfrei oder wenigitend
politiich rvechtlo8 und vom Adel abhängig geworden ijt.
») Thutyd 1, 5,3.
3), Ilias 22, 489 fieht es Penelope als unabwendbare Folge des Todes
Heltor’3 voraus, dat ihrem Sohne ailoı anorgiocorsıs aporpas.
4) p un akdos aoaantngs; imow. Od. 4, 164.
5) Ebenda 16, 114.
°% Man denfe nur an die Piraterie, die aud) Fürſten nicht verſchmähten
(ZI. 11,28), und an den nicht jelten in großem Stil betriebenen Viehraub,
Boriacia (a.a. D. 11, 672). Vgl. die Daritellung auf dem Schild Achiu's
(18, 520 ff.), ſowie Odyſſ. 21, 15 (Biehraub der Meſſenier in Sthata.
300 Schafe mit den Hirten!), I. 11,670. Biehraub der Epeer gegen die
Aus dem helleniſchen Mittelalter. 207
‚noch den Hellenen Homer's Raub jo wenig als eine Schande,
der Auf, ein großer Räuber zu fein, ein Anrecht auf Ehre
bei den Zeitgenoffen und auf Nachruhm bei dem Sänger gab!
Den Ahn des Odyſſeus, Autolykos, preift das Epos, daß er
— we ſei umter den Menſchen durch Diebsjinn
und Hinterlift, die Gabe eines gnädigen Gottes!!) — Wo eine
jolche Freiheit der Vergewaltigung herrjchte und das Necht des
Stärferen jo mannigfaltige Gelegenheit jand, ſich mit Erfolg zu
bethätigen, da hat jich die Anfammlung größeren Bodenbejiges
ohne Zweifel oft genug auf dem Wege der Gewalt vollzogen,
ebenjo wie die Vermehrung der unfreien Arbeitskräfte, die zum
Theil geradezu als Zwed der zahllofen Fehden und Naubzüge
eiſcheint.)
Am intenſivſten aber hat wohl in dieſer Richtung gewirkt
jenes mächtige Ringen der Stämme um Sandgewinn, welches
* Bevölferungen aus der Heimath trieb, ganze Landſchaften
I
Theil der unterworfenen Sanbesbevölferung in ihrem Senat
lich rechtlichen Untertdanenverhäftnis begnügten, jo ift doch jtets
auch eim mehr oder minder großer Bruchtheil des Grund oder
Bodens den alten Eigenthümern entzogen und — ſoweit man
fie auf ihrer Scholle lieg — der Erobererflafje ein von dem
der Unterworfenen verichiedenes höheres Recht auf diefen Grund»
. 23, 827, wo Odyſſeus die charatteriſtiſche Üuherung thut: und
5 & won unmarnges ümeppiahoı zurinıguv nohku uev avris &yo Aniasouaı.
1) ©. 19,395.
*) 2». 1,397 jagt Telemadj:
dyaw oinoo üvaf Fan Nueregon
M ui ducer ol: wor iniscaro Fios 'Odvaoeis.
Bot. Juias De Auami Ayılleis kissaro. Ddyfi. 17, 441:
Eui® udn moihois win dröneanon d3& yalıh
'rois ävayov Zooüs aplow doyütsodu dväymm.
208 N. Pöhlmenn,
befig eingeräumt wurden. Aus den Scharen der Sieger er
wuchs fo ein Herrenitand, das von ihnen eingezogene Land
wurde unfrei und jeine Bebauer in ein Verhältnid der Hörig-
feit, wenn nicht der Sklaverei herabgedrüdt. —
Aus Solch’ verjchiedenartigen Motiven erklärt es ſich, dab
in der hellenischen Welt ſchon in jehr früher Zeit die überwiegend
mit Aderjflaven oder Hörigen wirthichaftende Grundherridait
eine große Ausdehnung gewonnen hat. Allerdings nicht überall,
wie ja auch die gefchilderten ftändebildenden Momente keineswegs
ſämmtlich überall und nicht immer in gleich intenfiver Weiſe
wirffam gewejen find. Die Mannigfaltigfeit der helleniſchen
Zandesnatur, die Verjchiedenartigfeit der für die Entwidlung des
Volkslebens maßgebenden geographiichen Berhältniffe hat aud)
den Prozeß der Slafjenbildung auf das Stärkſte beeinflußt.
Große und raſche Fortichritte Hat derjelbe natürlich befonders
da gemacht, wo der reichere Fruchtboden ausgedehnterer Fluß—⸗
niederungen oder die günjtigere Verkehrslage der Entwidlung der
Produktion und damit der Anfammlung des Bejites, der Organi⸗
lation größerer Wirthichaften förderlich war. Während ſich an
der verfehrsärmeren Weſtküſte und in den abgefchloffenen Hoch
thälern, auf dem fargeren Boden und den WVeidetriften der
Gebirgsfantone, in Akarnanien, Htolien, Lokris, Phocis u. a.
in den Hochlandichaften des Peloponnes die foziale Gleichheit
eines einfachen Hirten» und Bauernlebens in weitgehendem lm:
fang erhielt und die Differenzirung der Gejelljchaft in der Regel
über ein GroßbauernthHum faum hinauskam, zeigen ſich und um
jo jchroffere joziale Gegenjäge in denjenigen Landfchaften, die
wie 3. B. die Oſtküſte und das Foloniale Hellad vom Strome
der Kultur, wie von der allgemeinen gejchichtlicden Bewegung
überhaupt am ftärfiten berührt wurden, die zum großen Theil
auch das Geſchick der Eroberung erfahren hatten. Hier finden
wir das platte Land auf meite Streden hin nicht mehr von
Ssreien bebaut, fondern von den an die Scholle gefſeſſelten
Hörigen des herrichenden Standes, z. B. in Theljalien?), in
) Die Peneſten die „Arbeiter“ (v. homer. nevsodas m novsis) oder
die „armen Leute” in mittelalterlihem Einn? Aus dem Kamen Osesa-
Im R. Pöhlmann,
m Na genannten Thatſachen des ſozialen Lebens zahlreicher
Janddaiten mehr oder minder klar vor Augen liegen!), und
NE Ic andererjeitd gewiffermaßen mit Zapidarfchrift eingezeichnet
Ya? ım den Boden ded Landes. In den Gräbern und den
womnmentulen liberreiten ihrer Wohnftätten hat die alte Landes
naferung der dem ägäiſchen Meere zugewendeten Kultur⸗ und
Stumieite von Hellad von dem jüdlichen Peloponnes bis nad)
Tdenſalien hin unjchätbare Zeugen ihres Dafeins hinterlaffen, welche
ars einen Blick in eine Kulturwelt thun lafien, deren Schöpfungen
nur unter der Vorausſetzung bedeutender Klaſſenunterſchiede und
einer weitgedichenen Konzentrirung des Beſitzes erflärlich werden.
Sin rohes Naturvolf zu den Arbeitzleiftungen und zu der Ge
stteung zu erziehen, wie wir fie in der myfenijchen Kulturperiode
finden, wäre ohne eine jtarfe ariftofratiiche Ungleichheit der
Sütervertheilung, dies unentbehrliche Inftrument alles technifchen
und geiltigen Fortſchrittes, unmöglich geweſen.
Wie hoch müſſen ſich vor Allem die zur Königsgewalt er:
jtarften Führer des Volks über die Maſſe der Gemeinfreien erhoben
Repülterung auf dem Lande zerjtreut wohnte” (Hift. Ztichr. a. a. O. ©. 78),
jo reicht diefe Beobadjtung, wie Nieje felbft zugeben muß, für die Erflärung
der lofalen Erſcheinungen nit aus. Wenn z. B. nad) Riefe die jpartaniiche
Delotie nur die natürliche Folge der jtraffen Bereinigung aller Bürger in der
Stadt jein joll, wie erflärt fi) die anologe Hörigkeit in andern Staaten,
wo der Synoikismos nicht entjernt fo fonfequent war? Der Sag: „Weil
die Spartaner in der Stadt leben müfjen, muß die ländliche Bevölkerung
deren Unterhalt beſorgen“, — fordert nur die frage heraus: Warum dieſes
Müſſen, diefer Zwang? Und die wahriheinlichite Antwort auf diefe Frage
bleibt doch immer die, daB eben das durch Unterwerfung geichaffene Herr-
ihaitöverhältnis einer Minderheit gegenüber einer zahlreichen abhängigen
Bevölkerung dad Motiv für die lokale Konzentrirung der gefammten Herren:
Hajie war, daB alfo nicht erit diefe „Tür das Verhältnis der Heloten be
ftimmend wurde“.
) Natürlich it die Hörigkeit und Aderjflaverei von Anfang an noch
viel verbreiteter gemwejen, als unjer lüdenhajte® Quellenmaterial erfennen
läßt. So können z. B. die mit veräcdtlihen Namen bezeichneten Bauern
Korinths (die xewogaroı Heſych. 2, 555), Epidaurod’ die xoristodes Blut.
Qu. er. 1), Megaras ꝛc. urjprünglic ſehr wohl Hörige geweſen fein, ohne
daß wir dad aus den Angaben der Quellen mit voller Sicherheit zu erfennen
vernidgen. "
Sn R. Pöhlmann,
EU Zedellt. die Mauern von Tiryns an Großartigkeit mit
Ne Wevamiden verglichen hat.!) Sindet ſich doch fchon bei
Net eine Parallele zwifchen dem Reichthum des böotifchen
oorenos und dem des ägpptiichen Thebens.*) Ja, wir dürfen
N Rualogie ohne Zweifel noch weiter verfolgen und die Ver:
“rag ausjprechen, daß auch die jozialöfonomiichen Grund
RR eier Kulturblüte des öftlichen Hellas in mancher Hinficht
FR den ägpptifch-orientalifche Vorbilder erinnert haben werden.
Nxx ipiegelt jih in den monumentalen Schöpfungen jener älteren
Natura die fchroffite joziale Ungleichheit wieder, ein harter
Drud. der große Volksmaſſen als Werkzeug für Die Befriedigung
N Vrunkſucht Weniger verbrauchte. Wer wollte bezweifeln,
dak auch der Glanz des althellenifchen Fürſtenthums als das
Symptom einer Herrichaft über bedeutende wirthichaftliche jowohl,
wit ſoziale Kräfte zu betrachten ift? Die fürftlichen Erbauer
der Paläſte von Tiryns und Mykenä, die uns fo lebhaft an
Mm Bauten der alten Königsftädte erinnern, mochten hinſichtlich
Ss äußeren Deachtbereiches noch fo tief unter den Herrſchern
des Oſtens jtehen, ihre Stellung innerhalb des Volkes jelbft
mochte eine wejentlic) andere jein, injofern wenigitens beitand
nermig eine Analogie, als dem jachlichen Herrichaftsrecht, welches
dieje Fürften und Herren über beträchtliche Theile des Grund
und Bodens beſaßen, nothwendig ein nicht minder umfafjendes
perjönliches Herrichaftsrecht entiprochen haben muß.
Diejer Schluß ergibt jid) aus der einfachen Erwägung, daß
auch damals noch das Leben ji) durchaus im Rahmen der
Naturalwirthichaft bewegte. Wenngleich die Funde eine bedeutende
Anhäufung edler Metalle in einzelnen Händen bezeugen, jo war
Doch der Verkehr noch lange nicht zum Gebrauch eines eigent-
lien Geldes jortgejchritten; ein Beweis dafür, daß die jelbftändige
Vroduftivfraft des Kapitals nur unvollkommen entwidelt, Grund»
bejig und menschliche Arbeitskraft noch immer faſt die einzigen
Güterquellen waren. In einer Zeit aber, wo Ürbeit md
1) Nadı dem Borgange des Pauſanias Vörpfeld bei Schliemann,
Tiryns S. 202.
7) Ilias 9, 381.
214 R. Pöhlmann,
Man vergegenwärtige ſich nur den wahrhaft verjchiwenderi-
ſchen Verbraud von Menichenkräften, dem diejelben ihr Dajein
verdanfen! Die Mauern der Burg bei Kopai haben eine Dide
von 5—7 Metern!), die Niefenblöde des Burgmauer von Tiryns
zeigen mehrfach eine Höhe von 1—1,50 m und eine Länge von
2,90—3,20 m, während ihre Ziefe auf 1,20— 1,50 m geſchãtzt
wird. Einen jolchen roh zugerichteten Block, deſſen Gewicht
12—13000 kg betragen mag, auf dem engen und Hoch gelegenen
Bauplag fluchtgerecht zu verjegen, war nach dem Urtheil eines
modernen Architekten?) nur mit einem großen Arbeiterheere mög»
id. Welch einen Aufwand von technischen Hülfsmitteln und
von Menjchenfräften muß es ferner gefoftet haben, den gewaltigen
Monolithen, der im Palaſt von Tiryns den Boden der Bade
ftube bildet und das folofjale Gewicht von 20000 kg befigt,
beranzufchaffen und auf folder Höhe zu verjegen!?) Endlich
die monumentalen Behaujungen der Todten! Die gewaltigen
Stuppelgewölbe felbjt, wie die einzelnen Bautheile, 3. B. die Pforte
des argiviichen Stuppelgrabes am Heräon mit ihrem 7000 kg
Ihweren Deditein, und der ungeheure, jauber behauene Innen
jtein der Oberjchivelle des jogen. Schaghaujes des Atreus mit
feinem Gewicht von 122000 kg, eine Steinmafie von 9 m
Länge, 3m Tiefe und Im Dide! Welch ein Verbrauch von
Arbeitskraft, bis dieje gewaltige Mafje auf allen Seiten bearbeitet,
auf ihren hohen Standort gebradht und auf ihrer Unterlage
fiher verjegt war!*)
Es erweckt eine unrichtige Vorftelung, wenn neuerdings
die Reaktion gegen die Bewunderung der baulichen Schöpfungen
von Myfenä und Tiryns zu der Behauptung geführt hat, daB
die „aus Holz und Lehm gebauten Königspaläfte mit verhältnis
mäßig jehr geringen Kojten herzuftellen waren“, und daß jelbft
der Bau des größten Stuppelgrabes „feinen höheren Aufwand
erforderte, als der Bau eines doriſchen Steintempel8 mittlerer
1) Rolling in dem Reiſehdb. für Briechenland (2) S. 1%.
2) Adler bei Schliemann a.a. DO. S. XIV.
3) Adler a. a. C. S. XXIV.
4) Bgl. das techniſche Urtheil des Architetten Adler a. a. ©. S. XLII.
216 N. Pöhlmann,
vermochten.. Und noch mehr, al3 der Burgenbau, bei dem doc)
immerhin ein öffentliches Intereffe mitwirfte, geben jolche Kunde
die Grabesdome, in denen recht eigentlich die Machtitellung ihrer
Erbauer zum Ausdrud kommt und die daher einer jpäteren
Beit, mit ihren anders gearteten jtaatlichen Verhältniffen, durch
aus fremd find.
Allerdingd darf man den ftummen Zeugen nicht mehr Auf
Schlüffe abzwingen wollen, als es der Natur der Dinge nad)
möglich ift. Die Steine find vieldeutig! Und man fann daher
in den Rückſchlüſſen auf die politiiche und joziale Phyfiognomie
der Entitehungszeit der Denkmäler nicht vorjichtig genug jein.
Wie verjchiedenartig find 3. B. die modernen Urtheile über die
Palaftbauten des mykeniſchen Königthums! In Schliemann’s
Biographie heißt es von der Palaftanlage zu Tiryns: „Dieje
Aufeinanderfolge von Thoren gemahnt an die Lebensweiſe eines
Fürjten, der wie ein Sultan abgejchieden von feinem Volke
lebt und erjt nach Überwindung der verjchiedenen Stufen von
Wächtern und Hofchargen erreichbar ift*.!) Dagegen befteht nach
E. Meyers Anficht das Charakteriftiiche des mykeniſchen Palajtes
gerade darin, daß er eben nicht, wie „orientaliiche Königsichlöffer“,
„wie ein moderner Sultanzpalaft von der Außenwelt vollitändig
abgeſchloſſen ift*. Er „Öffnet fich der Außenwelt, iſt dem
Bufammenleben des Herrjcher mit den Häuptern feines Volkes
bejtimmt und aus dem Bauernhof erwachjen“.?)
Seit ſteht allerdings das Eine: von einer großen Einheite
(ichfeit und Überlegenheit der Herrſchermacht zeugen die myfenifchen
Denkmäler; und es ift fchwer begreiflih, wie die an fi) wohl
berechtigte Sfepfis gegen die hergebracdhten Anjchauungen von
der helleniichen Vorzeit nicht einmal das mehr zugeben will, daß
man das alte Königthum als Monarchie auffaßt“. ®)
1) ©. 8l.
NG. d. U. 2, 165.
2) So Nieſe (Gött. Gel. Anz. 1894 ©. 899) in der Recenfion von
Beloch's Griechiſcher Geſchichte. Nieſe bezeichnet es geradezu als einen Grund⸗
fehler der hiſtoriſchen Anſchauungsweiſe Beloch's, daß für dieſen das alt⸗
helleniſche Königthum eine Monardie iſt.
Aus dem Helenifchen Mittelafter. e a7
tig ift an diefem Standpunkt nur jo viel, daß man
dieſem Königthum der myteniſchen Epoche und der
wiftofratijchen Entwicdlungsphaje des helleniſchen Staats:
ine allzu ſcharfe Scheidelinie ziehen darf. Denn jchon
che Monarchie zeigt unverkennbar eine ſtarle Beimifchung
tcher Elemente. Die Denkmäler geben nicht bloß Kunde
= des Fürften, ſondern aud von dem Dafein
Derren, die an wirthſchaftlichen Machtmitteln zwar hinter
üdftanden, aber das Niveau einer gemeinfreien Exiſtenz
Beträchtliches ten. Ich nenne die Grabkammern
kia, die Stuppelgräber bei Volo in Theffalten, bei Pharis
em und bei Menidi (Adarnä) in Attika, jowie die Felſen-
# Spata in Attifa , die fich durch ihren Reichthum an
achen und jonftigen Kunſterzeugniſſen als Bejtattungs-
tachtliebender Geſchlechter erweijen. Es tritt uns im
enfmälern eine Ariftofratie entgegen, die eine bedeutende
ftliche Kraft repräjentirte; und da dieje Kraft in einem
der Naturalwirthiaft nur in größerem Grundbefig
konnte, jo find fie zugleich Symptome einer Entwidelung,
reits eine weite luft zwiichen Bauer und Edelmann
t hatte. —
+ Bild, welches ſich jo, wenn auch nur in einzelnen
enden Zügen von der jozialen Phyfiognomie der fort
aften helleniichen Kulturlandſchaften gegen Ende des
aufends v. Chr. zeichnen ließ, wird uns übrigens noch
&, wenn wir die allgemeinen wirthichaftstheoretijchen
Igerungen aus den Monumenten durch bie pofitiven
Hjachen ergänzen, welche die ältejten Titerarijchen Zeug
Epen, für die ſozialgeſchichtliche Erkenntnis des helle
Nittelalters darbieten. Denn wenn auch das Epos um
derte jünger ift, als die „myfeniichen“ Denfmäler, jo
doch die gejellihaftlichen und jtaatlihen Zuftände, die
sa Poefie refleftiren, in wichtigen Grundelementen,
mpfenijchen Kulturperiode überein.*)
le id mich auch nicht entichließen, die muteniihe Epoche
von den Zeiten der „Somerifhen“ Kultur zu untericeiden, mie
213 R. Pöhlmann,
Auch im Liede hat fich die Kunde von einem Fürftenthnm
erhalten, welches, wie das myfenijche, fich durch eine bedeutende
Konzentrirung wirthichaftlicher Machtmittel auszeichnete. Ab-
geiehen von freiwilligen und unfreiwilligen Abgaben und Leiftungen
nes Volfes, die nach Außerungen, wie Od. 1, 392 f., den Neid;
thum des Fürſten beträchtlich mehren halfen, erjcheint derſelbe
regelmäßig im Belige eines Krongutes (rEuevos), deſſen Werth
und Umfang wiederholt gepriejen wird. !) Auch wird das Fürſten⸗
thum als die höchſte Gewalt im Staate überall in der Lage
gewejen fein, mehr oder minder umfafjende Rechte an dem im
Befig der Gejammtheit gebliebenen Lande zur Geltung zu bringen,
an den weiten Streden der Wald: und Weideländereien, wofür
wir an den audgedehnten Weiderevieren des Fürſten von Ithafa
noch ein Beiſpiel befigen. Ia, wir begegnen in den pen
wenigſtens einzelnen Fürſten, die über ganze Diftrikte jammt
der darauf amlälligen — allem Anjcheine nad) unterjocdhten —
dies 3. B. E. Meyer tyut, obwohl er felbft zugibt, wie „lebendig“ die
mpfenifche Kultur in Kleinaſien nachgewirtt hat (G. d. A. 2,2917.) Ih
rechne im Gegenjap zu ihm aud) die mpfeniihe Epoche zum griechiſchen
Mittelalter, indem ich — wie Lampredt in jeiner deutihen Geſchichte —
unter „Mittelalter“ dasjenige Zeitalter nationaler Entwidlung veritebe,
weiches von den Untängen feßhaften Aderbaues bis auf jene Zeit reicht, in
der die Geldwirthicaft zur Ebenbürtigteit oder zum Übergewicht ber geld-
wirthſchaftlichen Entwicklung gegenüber den vorhandenen agrarifhen Wirth⸗
ihaftsmädten und zu einer vorher unbelannten Bewegungsfreiheit der
Sndividuen führt. —
Wie P. Sauer, Grundfragen der Homer-Kritit S. 171, mit Recht bemertt,
iit es ſchon deshalb unmöglih, mit E. Meyer einen fo ſcharfen Einſchnin
zu madıen, weil der Verſuch E. Meyer's, das Leben der mylenijchen Epoche
zu icildern, in reihem Maße Elemente verwerthet, die erſt das (Epos une
darbietet. „Beide Berioden berühren jich eben vielfadh, und die Quellen, aus
denen unjere Kenntnis gejichöpjt wird — Denkmäler und Kleinfunde auf der
einen Seite, Homer's Erzählungen auf der andern —, ergänzen fi in jo
erwwünjchter Weije, daB wir gar nicht anders können, als berüber und hinüber:
greiten, um die ältere Stufe ded Daſeins durd) die jüngere und dieſe wieder
durd jene uns anjchaulid) zu machen“ Dies fchließt übrigens nidyt aus,
day auch Unterſchiede vorhanden jind, die man forgjältig zu beachten hat!
1) Il. 40, 194 heißt e& Foyer adar, 12, 313 und Cd. 17,299 ueye,
I. 12, 314 sas0ı.
=
Ki
er Ä
Br
. 7, 113 3.8. wo den 1
Pflanzungen des Alfinoos nur eine Größe
‚geichrieben wird, joll Hier unter yüng ein Adermaß v
zu verſtehen jein, was in der That alle W
ſich hat; umd im einer allerdings viel
Sandvermefjungen zurüchführenden agrarifchen
Heracleensis) erjcheint jogar ein yöng, der
®
2
die Jliasſtelle an — und warum ſollte nic
dasjelbe Maß zu Grunde liegen können, wie
1) Freilich ift diefer Mindeftbetrag ein ſeht beicheibener!
xorröyvor würde demgemäß einer alten deutſchen Hufe (80
haben. Der würde
Völlig unmöglid ift der von Guiraud (La propriete
5:64 f.) beredinete Minimalwerth von 3,15 ha. 2
Hultjch a. a. D. S. 41. 668.
226 R. Pöhlmann,
atheniſchen Demokratie zum Opfer fielen, das eingezogene Land
hinreichte, um mindeſtens 2000 Bauernſtellen zu errichten);
und dabei blieb noch ein wahrſcheinlich beträchtliches Stück als
Zempelgut und Staatsdomäne unvertheilt.?)
Die gefchilderten Fortichritte der großen Güterwirthſchaft
haben ferner einen jehr bedeutfamen architektoniſchen Ausdrud
gefunden in der umfaffenden, jchon bei Homer bezeugten Um⸗
bildung des ländlichen Bauſtiles, in welcher fich der Prozeß der
arijtofratiichen Klaſſenbildung in ähnlicher Weije widerjpiegelt, wie
die jozialpolitifche Machtitellung des alten Stammfürftentyums
in dem mykeniſchen Burgen und Paläftebau. Neben dem alten
Bauernhaufe, welches die ganze Wirthichaft, Wohnung, Stallung
und Scheune unter Einem Dache vereinigte®), ericheinen jet ftattliche
Herrenhöfe, die einen ganzen Sompler von Wohn⸗ und Wirth
Ihajtsgebäuden darftellten und auf denen die ländliche Okonomie
von dem Herrenhauſe mehr und mehr fich abtrennte und auf eigenen
Vorwerken fonzentrirte. Während im Bauernhaufe Herr und
Geſinde unter Einem Dache patriarchalifch zufammenmwohnten, fehen
wir bier die dienenden Leute in FEleineren Nebenwohnungen
untergebracht und in völlig gefonderter Wirthichaft, wie und
die 3. B. in der Odyſſee, in der Schilderung des Landgutes
des Laẽërtes, anjchaulich entgegentritt.*) Die Räume bed
Wohnhauſes ſelbſt dehnen fi) aus, Danf der umfaffenden
Verwendung des neuen, dem Often entlehnten architeftonijchen
1) Die Zahl gibt der hier gut unterrichtete Älian V. H. 6,1. Weniger
glaubwürdig ift die Zahl 4000 bei Herodot 5, 77; vgl. Kirchhoff, Abh. d.
Berl. Al. 1873 ©. 18.
2) Wahricheinlih mindeftens ein Zehntel; vgl. Thuk. 8, 50, wonad in
Les bos von 3000 Loſen 300 den Göttern vorbehalten blieben.
2) ber dies altgriechiſche Bauernhaus, deſſen getreues Abbild das von
Galen geſchilderte pergameniſche und das altſächſiſche Bauernhaus iſt, vgl.
Niſſen, Pompejaniſche Studien ©. 600 f.
*) 24,205 ff.: ... raya Ö’ aygor ixorro
xa,.0y Anegtao TETiyuEvor...
4Ia vi olxos Er, nepi Ö6 aAlaıor Fee uTT,
er TO G1TEoxorro xal iSavor TdE iavor
Öuimes arazaaioı, Toi ol Yika Koyasovro.
228 Rt. Pohlmann,
die Vichzucht beanjpruchte!), wie er denn in der That im &ehege
des Eumäus no Pla Hat für vier andere Hirten und eimen
Auffeher (duryg oradumv).?) Ebenfo zeugen die genannten
homeriſchen Schilderungen der Erntearbeiten?) von einem ftarten
Aufwand an Arbeitäfräften und einer ziemlich fortgeichrittenen
Arbeitsgliederung.
In derjelben Richtung wirkte ferner das für Die antite
Volkswirthſchaft überhaupt charakteriftiiche, aber natürlich in
älterer Zeit am jhärfiten ausgeprägte Beitreben, die Befriedigungs⸗
mittel der Bedürfniffe des Hauſes möglichit in der eigenen Wirth
Ihaft zu erzeugen. Wenn ſich aud) bereit in der Zeit des Epos
eine Reihe von Handwerfen und Gewerbsbetrieben von der Haus
wirtbichaft abgeldft und zu Nahrungsgemwerben des Marktes ent-
widelt hatten *), jo hatten fie doch für die regelmäßigen Bedürfnifie
des eigentlichen Haushalts noch feine Bedeutung gemonnen.
Wir befinden uns hier noch in ber Periode der geichloflenen
Hauswirthichaft, der Difenwirthichaft, wie fie Rodbertus genannt
hat, die fich eben dadurch fennzeichnet, daß fich der ganze Kreis
lauf der Wirthichaft von der Produktion bis zur Konjumtion im
geichlofjenen Kreife des Haufes vollzieht. Die dem regelmäßigen
Konjumtionsbedarf der Hausangehörigen dienenden Produkte
ı) 14, 21; 20, 185.
2) 14, 24; 17,186. Die Zahl 4 ijt allerdingd ſchablonenhaft gebraudtt,
wie Il. 18, 578 beweiit, wo (in der Scildbeichreibung) eine Rinderherbe
ebenjalls mit 4 Hirten erfcheint. Uber die Dichtung muß ſich doch bei Dielen
Zahlen innerhalb der Grenzen der Wahrſcheinlichkeit halten, wie fie eben durch
die thatfächlichen Verhältniffe des Wirthſchaftslebens beftimmt wurden.
>) Il. 11,67 ff.; 18, 542. 5560 ff.
* Wobei ich allerdings die Yrage aufwerfen möchte, ob nicht etwa die
bei Homer genannten Handwerker: der Schmied, der Zimmermann, der
Lederarbeiter, Bogner ꝛc., die gleich dem Arzt, dem Boten, Ausrufer (Herold!)
und Sänger uld druoeoyol bezeichnet werden, urfprünglid nur Gemeinde
funftionäre geweſen find, wie unjere Torfhirten oder die gewerblichen Arbeiter
der indiihen Dorfgemeinihaft, die auch al Demiurgen in biefem Sinne für
Alle arbeiten und dafür von Allen emährt werden. Die Entwidiung der
Demiurgen zu einem freien Nahrungägewerbe des Marktes wäre dann er
ald eine zweite Phaje in der Geſchichte des gewerblichen Berufftandes an»
aufeben. -
230 R. Pöhlmann,
den ländlichen Höfen ſelbſt geübt worden, desgleichen — ueben
der handwerksmäßigen Herjtellung befjerer Arbeiten — die Ber
arbeitung des Leders zu Schuhwerk u. f. w.!), wie ſich denn noch
der heſiodeiſche Bauer die filzgefütterten Winterichuhe von Rinde
leder, den Mantel von Bocksleder jelbit angefertigt bat.) Aud)
die Gefäße für den Hausbedarf und für die Bergung des
Wein: und Dlertrage3 werden auf Beligungen, auf denen fi
Thonerde vorfand, vielfa von den eigenen Arbeitskräften ber-
geitellt worden jein, ebenjo wie das Baumaterial für die Wohn-
und Wirthichaftsgebäude, bei deren Errichtung wir ebenfalls die
Leute der Grundherrſchaft mitwirken jehen.?)
Dieje geſchloſſene Hausmwirthichaft fegte bei umfafjenderem
Belig eine ziemliche Arbeitögliederung voraus, zumal als jeit der
Berührung mit dem Orient die Bedürfniffe jich zu erweitern und
zu verfeinern begannen. Die Spezialifirung der Arbeit aber und
die Befriedigung erweiterter Bedürfniffe ließ fi um fo leichter
ermöglichen, je zahlreicher die Arbeitskräfte waren, die dem olxo:
zur Verfügung ftanden.*) Und zwar mußten dieje Arbeitäfräfte
dauernd mit dem Hauje verbunden, d. h. fie mußten wo möglich
Sklaven oder Hörige jein. Nur jo konnte man einzelne techniſche
Verrichtungen, wie das Mahlen des Getreides, die Belorgung
des Viehes, die Beitellung des Aders, das Weben, Spinnen u. ſ. w.,
Einzelnen für ihr ganzes Leben übertragen und fie für Diejen
Dienit beſonders ausbilden.
Daher zeichnet fich die Homeriiche Gutswirthſchaft, ähnlich
wie die germanijch-mittelalterlihe, durch ein auffallendes llber-
gewicht unfreier Hausdiener aus. Die Organe der autonomen
Wirthichaft des urzos, die vixeraı, find wefentlich Unfreie, auf
denen eben damals fajt die ganze Arbeit des Haufes laftete. Neben
1, Od. 4, 24.
) W. u T. 2.540 f.
>) Tas jtattlihe Gehöfte des Eumäus 3. 8. iſt von den Sklaven jelbit
erbaut 14,5.
*) Dies verfennen alle diejenigen, die ſich — wie Vüchſenſchüß (Veitg
und Erwerb im griechiſchen Altertum‘, Guiraud u. A. — keine Mare Bor:
jtelung von der wirthichaftlihen Autonomie des olxos gebildet haben. Bgl.
dagegen Bücher a. a. C. S. 2275.
232 R. Pöhlmann,
unfreien Organe des olxog führten, welche wenigitens einem Theile
derfelben die Möglichkeit jozialen Aufiteigens gewährte. Durch
die Entwidlung des gartenmäßigen Anbaue® und durch Die
Erweiterung der Bedürfnifje des Herrenhofes war die Wirthſchaft
de3 olxog vielfach zu einer Differenzirung der Produkte fort
geichritten, welche e8 wünfchenswerth machte, bei gewiſſen Spezial-
fulturen an die Stelle des Eigenbetriebes mit Sklaven und Lohn⸗
arbeitern eine Betriebsforn zu jegen, weldje den Arbeiter an dem
Gedeihen der Pflanzungen perfönlich intereflirte und dadurch
deren Ergiebigfeit fteigerte. Damit hängt e8 offenbar zujammen,
daß wir neben den auf dem SHerrenhofe wohnenden Unfreien
auch behaufte Unfreie (servi casati nach mittelalterlicdem Rechts
ausdrud, finden, denen bejtimmte Theile des Herrenlandes zu
jelbftändiger Bewirtgichaftung überlaffen waren; wie 3. B. dem
Sklaven Dolios, der mit jeiner zahlreichen Familie einen Weinberg
bewirthichaftete.!) Eine Erjcheinung, die genau fo im germanijchen
Mittelalter wiederfehrt, wo es auch gerade die gartenmäßigen
Kulturen find, die vineae dominicae, die in diefer Weile an
unfreie Snechte übertragen wurden. Leider gibt das Epos feine
Auskunft über die Bedingungen der Übertragung Allein diefelben
find gewiß feine anderen geweſen, al3 unter den ganz analogen
mittelalterlichen Verhältniſſen. Um das Intereſſe des Kolonen
an dem ebenjo bedeutenden, wie leicht zeritörbaren Kapital zu
verbürgen, welches die perennirenden Stulturpflanzen, WBeinftöde,
Ol- und Feigenbäume, jowie die Hülfsanlagen, Terrajjen, Pfähle,
Gehege u. |. w. repräfentirten, wurde der Ertrag zwiſchen Herr
und Kolon getheilt. Es iſt das Syſtem des Theilbaues), wie .
e3 ſich in einem naturalwirtbfchaftlichen Zeitalter von jelbit
ergab und uns daher auch in Hellas gleich in den Anfängen der
beglaubigten Gefchichte entgegentritt, jo 3. ®. bei den Theilbauern
oder „Sechstlern“ (#xr/uogo:)?) des attifchen Grundadels und
7) Odyff. 4, 736: vgl. 24, 387.
®) ber die Bedeutung ber Weintultur für die Entwidlung bes Theil⸗
baues vgl. Inama⸗Sternegg, D. Wirthſchaftsgeſch. 1, 366, und Lamprecht,
D. Wirthſchaftsleben 1 (2), 907 fi.
2) So genannt ofienbar deöwegen, weil fie ein Sechſtel (nicht fünf
GSedjftel!) des Ertrage® an den Grundherrn abgaben, wie ſchon Ariftoteles
234 R. Pöhlmann,
ſich der Kulturmenſch der Neuzeit nur ſchwer eine rechte Vor⸗
ftellung machen fann.') Die Selbftgenügfamfeit des olxos ift
jo jehr Princip der ganzen Wirthichaft, daß ſich — und
Perſonen fürſtlichen Standes gelegentlich zu gewö
arbeit herbeiliegen, ja in ſolcher Selbithülfe eine gewifje Genug:
thuung fanden. So ſehen wir in der Jlias einen Sohn des
Troerfürjten bejchäftigt, junge Baumzweige abzujchneiden, um
ich jelbft einen Wagenftuhl zu flechten °); ein anderer, Paris,
hat ſich — allerdings unter Mitwirkung Eundiger Bauleute — jeine
Wohnung jelder erbaut.*) Die Freier auf Ithafa, die dod) über
ein zahlreiches Dienftperjonal verfügen*), jehen wir Arbeiten, wie
das Abhäuten von Thieren und fonjtige Vorbereitungen zum
Mahlen perjönlich übernehmen.) Die Stiere, auf deren Häute,
fie beim Spiele vor dem Haufe lagern, haben fie jelbjt gejchlachtet.")
Etwas ganz gewöhnliches ift ferner die Betheiligung an landwirth⸗
ſchaftlichen Gefchäften, z. B. an der Beaufjichtigung der Herben.”)
Der greife Fürjt Laertes ift in allen Zweigen der Gartenbeftel-
lung woblerfahren, wenn auch natürlich die Art und Weife, wie
er ſich's auf jeinem Ländlichen Hofe jauer werden läßt, in jeiner —
bejonderen Lage begründet ift.®) Diejelbe landwirthſchaftliche —
Kenntnis darf Odyfjeus ohne weiters bei den ftolzen Edelleuten —
vorausjegen, die ihm die Gattin umwerben. Allen Ernjtes S
fordert er in der Freierverſammlung den, der ihm jeine Bettler —
rolle vorgeworfen, zum Wetttampf in der Arbeit des Schnitters —
Bal. 8. Bücher aa. O. ©. 18.
vJi 21,37.
9) a... 6,314.
+) Im Gefolge derer von Dulichion erſcheinen ſechs Diener Od. 16, 248, —
die von Ithata bringen zwei fertige Köche mit (a. a. D. 258).
>) 2,300. 323; 17,182; vgl. aud 7,5 von den Brüdern Naufitans, —
welche die Maulthiere ausipannten, mit denen fie von der Wäſche zurüdtam, — =
und jelbjt die Gewänder in's Haus trugen.
°) 1,108,
N) &o finden wir Il. 5, 313 Anchiſes bei den Herden, 20,188 Ineas, —“
11,106 die Söhne des Priamos (auf dem da), 6, 421 die fieben Brüder —
der Andromace.
”) 24, 244 fi.
R R. Pöhlmann, Aus dem helleniſchen Mittelalter.
Searkung ihrer Stellung in Staat und Geſellſchaft zu gewinnen
"XI.
Nenn ſelbſt in dem Sdealbild, welches das Epos von der
ssererlichen Welt entwirft, das wirthſchaftliche Moment fo ſtark
eroortritt, wie viel mehr muß dies noch in der Wirklichkeit der
U gewejen fein! Jedenfalls war es der energijchen Arbeit an
der Entwidelung und Steigerung der wirtbichaftliden Kräfte
gang wejentlich mitzuverdanfen, daß die Edelhöfe eine jo hervor
wugende Bedeutung für das gefammte nationale Leben gewannen.
Durch fie wurde der Adel befähigt, die lebendigen Kräfte der
Rution überhaupt in feinen Dienft zu ziehen, wie und das be
ſonders deutlich in der Entwidlung der Volksepik entgegentritt,
die ja aufs Engſte mit dem hHerrichenden Stande verwuchs,
überall fein Leben, fein Empfinden, feine Sitte widerjpiegelt.!)
Auch Hier zeigt fich derjelbe als eine fiegreich aufftrebende,
zur Überwindung aller anderen jozialen Faktoren berufene Macht.
Während auf feinem Dajein der volle Sonnenglanz der
bomerifchen Dichtung ruht, ift von freien Bauern nirgends die
Rede. In den Gleichnifjen, auf dem AchilleusSchilde u. ſ. mw.
überall nur große Herden, große Landbeſitzer! Ebenſo liegt die
an ergreifenden Momenten ohne Zweifel reiche Geichichte des
Untergange® der ©emeinfreiheit, auf deren Trümmern fich bie
ritterlihe Welt des Epos erhob, völlig im Dunkeln. Genug,
wenn es gelingt, diefen tragischen Prozeß wenigitens in feinem
allgemeinen Verlauf und in feiner geichichtlichen Notwendigfeit
zu verjtehen!
1) S. meinen Auffag: Zur gefhichtlihen Beurtheilung Homer’s in
diejer Zeitfchrift 73, 396 ff.
238 P. Bailleu,
waren in Preußen nationale Interejfen und nationale Empfins
dungen emporgefommen, die mit denen im Weiche noch jich ber
rührten, keineswegs zufammenfielen. Sein nationale Interefle
fnüpfte fich jegt an einen Krieg, bei dem nicht Deutichland und
Frankreich um die Rheingrenze, jondern Ofterreih und Frankreich
um den Befig Belgiens zu kämpfen jchienen. Preußens territoriale
Intereſſen wiejen eher nad) Oſten, wo die augenfcheinliche Ber:
jegung der polnifchen Republif die volle Kraft des preußiſchen
Staates in Anjpruch zu nehmen drohte. Im Volke, wie in der
Armee, bei Deiniftern und Generalen gab es eine Unzufriedenheit,
die bei dem ungünftigen Verlauf des Krieges und infolge ber
Streitigfeiten mit Ofterreich ſich zu einer fait allgemeinen’ Miß—
ſtimmung und zu dem lauten Auf nach Frieden fteigerte.
In dem SKabinetöminifterium Preußens, dem die Führung
der auswärtigen Angelegenheiten oblag, fanden diefe Stimmungen
und Anfichten einen entichloffenen Vertreter in dem Freiherrn
v. Alvensleben; er hatte das Bündnis mit Ofterreich von Anfang
an befämpft und pflegte feiner Abneigung gegen die fortgefegte
Theilnahme an dem Kriege mit Frankreich bei jeder Gelegenheit
rüdhaltlofen Ausdrud zu geben. Won feinen beiden Kollegen
war der Träger der friderizianiichen Tradition, der alte Graf
Ssindenftein, wenn auch mit größerer Zurüdhaltung, im Weſent⸗
lichen doch derjelben Überzeugung, und jelbjt Graf Haugwitz, der
als Freund Ofterreichs in dag Minifterium eingetreten war, bes
gann allmählich die Verbindung mit der Koalition zu verurtheilen
und die Beendigung des Strieges herbeizuwünſchen. Auch der
Staatsmann, der, ohne dem Kabinetsminifterium anzugehören,
in den Fragen der auswärtigen Politif oft von enticheidendem
Einfluß war, aud) Marquis Lucchefini hätte Preußen gern aus
den Verwidlungen im Weften gelöjt gefehen, um im Often mit
deſto jtärferem Nachdrud eingreifen zu können. Vollends im
Generaldireftorium rief Alles nach Frieden, nicht bloß, wie natür-
li, Struenjee, Werder, Blumenthal, die Finanzminijter, die aus
ihren Kaſſen alles Geld mehr und mehr jchwinden ſahen; felbft
ein Mann wie Woellner hat wiederholt jeine Stimme für Be
endigung des Strieges erhoben.
240 P. Ballleu,
Anderen jeines Volfes. Eine Trennung von dem Reiche und
von Djterreich, dem cr durch Verträge verpflichtet war, wider
ſprach jeinem Ehrgefühl; der Gedanfe an ein Abkommen mit den
„Königsmördern“ vollends war ihm widerwärtig.
Zu diejen fich befämpfenden Stimmungen und Anfichten,
in deren Widerftreit jich der Krieg ſchwächlich fortbewegte, traten
nun im Frühjahr 1794 noch andere Momente hinzu, die gegen Die
Fortjegung des Krieges am Rhein mit voller Schwere ind Ge
wicht fielen und deren Einwirkung ſich auch der König nicht
ganz entziehen fonnte. Sn Polen brach ein Aufftand aus, der
die Mobilifirung eines preußiichen SHeered von 40000 Dann
nothwendig machte, dejjen Oberbefehl der König jelbit, nicht
ohne Widerftreben, übernahın. Damit wurde dem Krieg am
Rhein vollends jeder vorwärts drängende Impuls entzogen; es
tauchte jelbit Ichon der Vorſchlag auf, die 20000 Dann Hülie
truppen, die Preußen auf Grund des Wllianzvertraged den
Ofterreichern zur Verfügung gejtellt hatte, nad) dem Dften zurüd-
zunehmen. Ein andere® Moment von größter Wichtigkeit war
die Finanzlage Preußens. Sie ift in ihrer Bedeutung für die
Vorgeihichte des Friedens von Baſel noch wenig gewürdigt ')
und darf Deshalb hier etwas ausführlicher behandelt werben.
Schon im Sanuar 1793 hatten zuerft in Frankfurt a. M.,
dann in Berlin zwilchen Struenjee, Blumenthal und SHeinig,
unter Zuziehung von Woellner und Schulendburg, Berathungen
jtattgefunden, um die Höhe der Ausgaben für den Krieg feſti⸗
zuitelen und die Mittel zu ihrer Aufbringung zu erwägen.
Dean berechnete, daß der Krieg bisher etwa 13 Millionen ge
foitet habe, daß für das laufende Jahr etwa 18 Millionen er:
forderlich) jeien, weldye durd) die vorhandenen Beſtände gebedt
werden fünnten, hielt e8 aber gleichwohl für rathſam, nad) außer
ordentlichen Hüljsquellen rechtzeitig jich umzufehen. Blumenthal
empjahl eine Anleihe bei der furmärfiichen Landichaft, Die gern
dazu bereit gemwejen wäre; Struenſee, der das einheimijche Geld
) Am meiften, fo viel ich jehe, von Philippſon, Geſchichte des preukifchen
Staatsweſens, Bd. 2, 3. Kap.
242 P. Bailleu,
Sahren des fiebenjährigen Krieges nic erhört war, trat fchon
1793 ein: es fam, namentlih in Schlefien, zu Unruhen unter
Bauern, Webern und Handwerlern, bei denen die Regierung
bald übermäßige Strenge, bald unzeitige Nachſicht zeigte.
In diefer Nothlage machte es fich als ein ernfter Übelſtand
geltend, daß ein wirkliches Finanzminijterium in Preußen nicht
beitand. Der Minifter, der das Zoll und Acciſeweſen ver:
waltete und auch die Anleihen vermittelte, Struenjee, war nicht
der Dann, jolcher Schwierigfeiten Herr zu werden. Bei aller
jeiner gründlichen wiſſenſchaftlichen Bildung in Staats und
Volkswirthſchaft, entbehrte er der drängenden Lage gegenüber
thatkräftiger Entſchloſſenheit ebenjo wie jchöpferijcher und urſprüng⸗
liher Gedanfen. Ein vortrefflicher Bankier, jobald es fih um
fleine Geldoperationen oder um Anleihen von wenigen Millionen
handelte, verjagte er völlig, wo es galt, für die Aufgaben einer
neuen Seit neue Hülfsquellen aufzufinden. Der Gedanke an
neue Steuern, vollends an Papiergeld, erichredte ihn. Schon
im Juli 1793 verzweifelte er daran, für die Fortſetzung dee
Krieges im nächſten Jahre mehr als einige Millionen durch An»
leihen herbeijchaffen zu können; unter lebhaften Klagen über die
Noth des Staates wiederholte er nur immer von neuem jeinen
dringenden Wunſch nad) Frieden und nad) Rüdfehr des Königs
und der Truppen, die allein wieder alles gut machen könnten.!)
Nicht glüdlicher oder ergebnisreicher waren die Erwägungen,
die gleichzeitig im Schoße des Kabinetäminiiteriums über bie
Mittel zur Fortfegung des Krieges angejtelt wurden. Graf
Hangwitz fchrieb feinen Kollegen, „er werde die Vorjehung jegnen“,
wenn man feinen dritten Feldzug zu führen braudhe; aber mit
einem Hinweis auf die Verträge mit England-Holland und Djter-
reich und beſonders mit Rußland über Polen meinte er jeufzend,
der König werde fich der jerneren Theilnahme am Kriege nicht
jüglich entziehen fünnen. Sein Kollege Alvensleben wollte gar
nichts dabet finden, wenn man jich einfach) vom Kriege zurüd-
ziehe; von Literreic), jagte er, jei nichts zu fürchten, und gegen
1) Struenjee an den König, 5. u. 26. Juli 1793.
244 B. Bailleu,
freundlichjt zu danken; über die Vorfchläge zur Herbeiichaffung
von Geldmitteln ging er mit einigen höflichen Wendungen hin-
weg, ohne fie weiter in Erörterung zu ziehen.!)
So blieb nichts übrig, als wiederum zu auswärtigen An⸗
leihen jeine Zuflucht zu nehmen. Zunächſt genehmigte der König
eine abermalige Anleigde in Frankfurt (7. Oftober 1793); es
wurde ein Mißerfolg, nur die erſte Diillion wurde raſch ge
zeichnet, langjam ging noch eine zweite ein, dann, bei der un-
günftigen Wendung des Krieges und aus anderen Urſachen,
hörten die Zahlungen gänzlih auf. Noch geringeren Erfolg
hatte die Ausschreibung einer Anleihe in Holland (4. März
1794): es wurden zwei Millionen gezeichnet, aber jelbjt davon
nur eine gezahlt. Ebenſo mißlangen auch alle Verſuche, von
Dfterreich und dem deutfchen Reiche Geld oder wenigitens Ber-
pflegung der im Felde jtehenden preußijchen Truppen zu erlangen.
Andrerjeitd wurde die Dedung der laufenden Heeresausgaben
um jo ſchwieriger, al8 auch ſchon Rüdzahlungen auf die im Jahr
zuvor in Frankfurt aufgenommene Anleihe fällig wurden. Die
Verlegenheit ftieg fo hoch, daß der Rückmarſch der preußiichen
Truppen vom Rhein offen angekündigt wurde.
In diejer Noth ergriff König Friedrich Wilhelm II. mit
lebhafter Freude den Vorfchlag Englands, ihm die Fortjegung
des Krieges durch Subfidien möglich zu machen. Am 19. April
wurde im Haag ein Vertrag unterzeichnet, in welchem England außer
einer namhaften Summe für die feldmäßige Inftandjegung der
preußijchen Armee eine monatliche Subfidie von ca. 150 000 Pfund
(300000 Thaler in Gold) vorläufig vom 1. April bis zum
Schluß des Jahres 1794 zuſicherte. Die Fortführung des
Krieged am Rhein war damit freilich zunächſt ermöglicht. Allein,
vom König jelbjt abgejehen, war die Genugthuung über den
ı) Denfichriften und Berichte von Sted 22. Mai u. 16. Juni 1798,
Haugmwig 28. Juni, Alvensleben 30. Juni u. 2. Juli; Konferenz am 15. Juli;
Berichte beider Minifter 29. Juli, Antwort des Königs 12. Auguſt 1798.
Am 16. Juni jchreibt Sted an Haugwig: „Das Ende bed unglüdlichen
Krieged wäre immer eine Wohlthat, welche Dero Minifterium am meißten
verberrlihen würde.“
246 P. Bailleu,
Anſprüche an ihn jtellen und die Schuld jedes Miblingens ihm
aufbürden, nicht zum wenigjten aber auch über jeine eigenen
Offiziere, die „bei der geringften Verlegenheit unter taufend Ber
denfen fleinmüthig werden” und mit Ausnahme Blücher's jede
Entjchloffenheit vermiffen laſſen. Wunderliche Selbittäujchung
des alten Feldmarſchalls! Er ſelbſt war von allen der zug
baftejte, von allen der unentichloffenite. „Wäre es möglich“,
ichrieb er jeinem König, „aus Chagrin zu fterben, jo würde id)
wohl der erfte jein.” Er begnügte fich jegt nicht, in jeinen
Briefen unabläffig auf Frieden zu dringen und ſelbſt um die
Ermädtigung zur vertraulichen Anknüpfung mit den Feinden zu
bitten; mit feiner Genehmigung wurde durch jeinen Adjutanten
Major Meyerind und durch den General Graf Kaldreuth unter
Bermittelung eine Kreuznacher Weinhändlers Namens Schmerz
eine geheime Unterhandlung mit den Feinden eingeleitet, angeb-
lih zur Auswechjelung der franzöfiichen Kriegsgefangenen, die
den Preußen läftig fielen, thatjächlich zur vorfichtigen Anbahnung
einer wirklichen Friedensverhandlung.!) Lebhafte Unterftügung
fand Möllendorff hiebei nicht bloß an dem Minijter Schulenburg,
der in Frankfurt a. M. die Verpflegung der Armee leitete und
jeine frühere Mitwirfung bei den dfterreichiichen Verträgen 1791
und 1792 jegt durch verdoppelten Eifer für den Frieden gut
machen zu wollen jchien; auch die Kabinetsminiſter in Berlin
hatten feinen jehnlicheren Wunſch mehr, als die unerträgliche
Laſt des franzöfischen Krieges endlich abzufchütteln. Am 28. Juli,
eben unter dem Eindrud „verzweifelter“ Berichte Möllendorif's,
beantragten fie bei dem König die Ausfertigung einer Vollmacht
für Hardenberg, der im tiefſten Geheimnis eine Unterhandlung
mit den Franzoſen zunächit über einen Waffenitillitand, dann
aber aud über einen allgemeinen oder bejonderen Frieden an
fnüpfen ſolle. Selbſt Graf Haugwitz, der den Vertrag im Haag
unterzeichnet hatte und dem Gedanfen eines Separatfriedens nod)
wideritrebte, Ichrieb doch: „Frieden müſſen wir haben und auf
) Zur Ergänzung der früheren Darjtellungen von Sybel, Hanke,
Sorel u. X. vgl. jept die Attenftüde in den Papiers de Barthelemy,
Bd. 4 u. 5.
248 P. Bailleu,
am Rhein bei jeinen Truppen, mit denen er „Gutes und Bdies
zu theilen“ für jeine Pflicht Hielt, jelbit wieder Alles in's rechte
Geleis bringen zu fönnen.
Aber der langjame Verlauf des polnischen Feldzugs ent-
jprach mit nichten den Erwartungen des Königs. Unter den Ent»
behrungen in dem verwüſteten Yande, den Mangel an anregender
Gejellicyaft, den Verdrießlichkeiten aller Art, litten dag freubloje
Gemüt und die ohnehin erjchütterte Gejundheit des Königs, und
in dem Anfchwellen feiner Füße zeigten ſich jchon die Anfänge
der Krankheit, die ihn wenige Jahre jpäter hinwegraffen jollte.
Es mag damit zujammenhängen, daß er den Entichluß zu dem
Sturm auf Warſchan nicht faſſen konnte und fich zur Aufhebung
der Belagerung entichied, dem unrühmlichen Rüdzug aus der
Champagne einen gleich ruhmlojen Rüdzug aus Polen hinzu⸗
fügend. Den König traf diefe neue Enttäufchung ſchwer, und
es jcheint, als ob die Vorftellungen Luccheſini's, der bei dem
Marih von Warſchau nach Breslau beitändig um ihn war,
jegt wenigitend vorübergehend größeren Erfolg hatten al8 vorher.
Der König ſelbſt veranlapte, daß zur Verſtärkung der Truppen
in Polen Ufterreih um das vertragsmäßige Hülfscorps von
20000 Dann angegangen wurde; er war aud) nicht mehr da-
gegen, daß im Falle einer Ablehnung die gleiche Zahl preußifcher
Truppen vom Rhein abberufen werde. Luccheſini jelbjt erwartete
bereit3 nach dem Rhein gefandt zu werden, um dort Mittel und
Wege für den allmählichen Rüdtritt Preußens von der Koalition,
oder wenigitens für einen Waffenftillitand vorzubereiten. Aber
jolche Gedanken entiprangen nur vorübergehenden Anwandlungen
einer trübjelig hypochondriſchen Stimmung: in Breslau ange
langt, wurde der König in Kurzem wieder anderer Anſicht.
wollte von Frieden und Waffenſtillſtand nicht? mehr hören umd
ſchickte Quckhefini auf feinen Poſten nach Wien.?)
ı) Die beſte Schilderung der Stimmung des Königs bei dem Rückzug
von Warſchau gibt Qucchefini in einem Briefe an feine israu: Pouvons-nous
redresser ces fautes? Oui. Le voulons-nous? Cosi, Cosi. Y r&ussi-
rons-nous avec nos demi-volont6s? Je le souhaite beaucoup et l’espäre
un peu moins. En renoncant & la guerre de France, tout est redresse
250 P. Bailleu,
erforderlich wären. Dem König fchien die hiernach verfügbare
Summe um jo mehr hinreichend, als das Überfriegstollegium
ihm verjicherte, daß man mit noch nicht 6 Millionen alle Koften
des Krieges bis zum Jahresſchluß werde beitreiten fünnen. Er
verfügte darauf fofort, daB die Magazine für den Feldzug de
Sahres 1795 in Stand gejegt würden, was Manjtein mit Mühe
auf die zwei Monate Januar und Februar einjchränfte Cs
war vergeblich, daß der Verwalter des Staatsſchatzes, Blumen
thal, den Möllendorff ausdrüdlich dazu aufgefordert hatte, unter
lebhaftem Appell an jein „wohlthätiges® Herz“ in den eindring
lihiten Worten ihn abermals bejchwor, „an dem Frieden zu
denfen“ (2. Okt.). Ungleich willkommener flangen dem König
die Nachrichten aus dem Weiten, wo eine Anzahl von Reich“
jtänden ſich zu jelbjtändigen Anftrengungen aufzuraffen jchienen
und durch ihre Vertreter in Wilhelmsbad über einen neuen
Fürſtenbund und die Aufitellung einer Landmiliz beriethen. Dem
Zandgrafen von Heflen-Kaffel, einem der eifrigiten Förderer dieſer
Beitrebungen, ließ der König durch Hardenberg in Worten wärmiter
Anerfennung feine freudige Theilnahme verfichern. Auch Rady
richten anderer Art, aus Frankfurt, wo er 1!s Jahre früher jo
glüdliche Tage verlebt hatte, haben, wie es fcheint, das Verlangen
- des Königs nach dem Rhein gejteigert. Von der Abberufung
der 20000 Dann war nicht mehr die Rede: vielmehr flog bald
die Kunde durch das Reich, dak König Friedrich Wilhelm jelbit
wieder an den Rhein fommen und den Oberbefehl über jeine
Truppen übernehmen werde.
Eben indem aber die friegerijchen Neigungen des Königs in
neuer Stärke erwachten, traten im Weiten wie im Oſten Ereig⸗
nifje ein, welche jeine liebiten Wünjche vernichtend durchfreuzten.
Zunächſt geſchah, was die Miniſter in Berlin ſchon immer be
fürchtet hatten und was nad) der Lage der Dinge am Rhein
nichts ausbleiben fonnte: am 5. Oktober lief aus London ein
Bericht des preußiichen Gejandten Jacobi ein, nach welchem Pitt
unter lagen über die mangelhafte Erfüllung de Haager Ber
trages durd) Preußen die bevorjtehende Sufpendirung der Sub
fidien in Ausſicht geftellt Hatte. Am nächiten Tage kam aus
252 P. Bailleu,
England, meinte, daß man allerdings, auch wenn die Hülfs⸗
gelder weiter gezahlt würden, wohl 15 oder 20000 Mann werde
abberufen müſſen, begnügte fich aber vorläufig, den Feldmarſchall
Möllendorff zu ermächtigen, bei dem Zurückweichen der Ofterreicher
auch jeincrjeit3 über den Rhein zurüdzugehen (8. Oft.).
Die Kabinetsminifter, erfreut über die Genehmigung der
vorgeſchlagenen Erklärung an die Engländer, bemerften doch jehr
wohl die zögernde Unentfchloffenheit des Königs, und Alvens⸗
leben insbejondere drang bei feinen Kollegen auf neue energijche
Borftellungen. Ein zweiter Bericht Jacobi's mit der amtlichen
Erklärung Pitt's, daß das englifche Miniſterium die Zahlung
von Subfidien an Preußen nicht länger verantworten fönne,
gab dazu einen willflommenen Anlaß. Am 9. Oftober trugen
die Minifter dem König noch einmal die Qage der Dinge vor,
die allen Zweifel ausjchliegende Erklärung Pitt's, das unaufhalt-
ſame Zurückweichen der Ofterreicher, die eben an der Roer eine
neue Niederlage erlitten hatten, die Gefährdung der Stellung
der preußiichen Truppen; fie |prachen ihre Erwartung aus, daß
der König dem Feldmarſchall nunmehr beitimmte Weifung geben
werde, fich mit allen jeinen Truppen auf das preußifche Gebiet
zurüdzuziehen.*)
Es ijt zweifelhaft, ob das Minijterium diesmal mehr Erfolg
gehabt Hätte, wenn nicht der Mann, deſſen Hand bei allen
großen Wandlungen der preußiſchen Politik unter König Friedrich
Wilhelm II. fo bejtimmend eingegriffen hat, wenn nicht Biſchoff⸗
werder mit jeinem mächtigen Einfluß ihm zu Hülfe gefommen
wäre. In den eriten Jahren der Regierung war fein Einfluß
auf den König, der in dem General den vom Orden der Rojen-
freuzer ıhm bejtimmten Führer und Berather verehrte, ichlechthin
enticheidend gemwejen; im Jahre 1793 war infolge feiner Ber-
beiratung mit der Gräfin Pinto eine Entfremdung eingetreten,
und der Oberſt Manjtein, den Haugwitz unterjtüßte, hatte ihn
zeitweije au8 der unit des Königs verdrängen fünnen. Schon
— — — —— —
1) Berichte Sacobi’8 vom 26. und 30. September, Denfichriften und
Aufzeichnungen der Kabinetdminifter vom 7. u. 9., Schreiben ded Könige an
die Minifter und an Möllendorii vom 8. Oktober.
254 P. Baillen,
jeine Gejundheit zerjtört, feine Willenskraft gebrochen hatten und
ihn gerade jegt ſchmerzhaft heimjuchten, war er vor dem Drängen
aller jeiner Rathgeber zurüdgewichen und hatte mit innerlichem
Widerjtreben jene Befehle über den Rüdmarjch feiner Truppen
erlafien. So unbeftimmt fie waren, fie ſchienen ihm immer noch
zu weit zu gehen. „Gott weiß,“ jo jchrieb er an die vertraute
Freundin, der er jeine Sorgen rückhaltlos auszuſchütten pflegte,
„Gott weiß, wie nahe mir der Rüdzug geht und wie er mir
zuwider iſt.“ Der Freiherr v. Alvensleben, der in feiner Ungeduld
über dies zögernde Widerjtreben des König! in einer umfang-
reihen Denkfchrift abermals die Unmöglichkeit der Fortſetzung
des Krieges und die dringende Nothivendigfeit des Friedensſchluſſes
vorgeitellt Hatte, erfuhr eine ernite Abweiſung. „Ich werde
mic) wohl hüten“, antwortete ihm der König, „bei einer Unten
handlung mit der Nationalverfammlung voranzugehen; durch
einen jolchen Schritt würde ich Vertrauen und Achtung in Europa
einbüßen, es wäre eine meinem Charafter widerjprechende Nieder
trächtigfeit (bassesse), und ich verleugne alle Diejenigen, die jich
unteritehen, meinen Namen bei Berhandlungen mit der Ber
jammlung zu gebrauchen“ (20. Oftober). Sorgfältig, zu nicht
geringem Verdruſſe jeiner Miniiter, pflegte er trog des Vertrags
brucche® die Beziehungen zu den Seemächten und ließ immer
wieder andeuten, daß er einer Verjtändigung über das ein«
getretene Zerwürfnis mit England keineswegs abgeneigt ſei. Als
vollends nad) der Niederlage Kosciuszko's bei Maciowice (10. Oft.),
weldye eine rajche Beendigung der polnischen Unruhen in Ausjicht
jtellte, die Vertreter der Seemächte in Berlin mit neuen Anträgen
erichienen, zeigte der König die bedenflichite Neigung darauf eins
zugehen, und e3 bedurfte der ganzen Gerchidlichfeit der Miniſter,
ihn wenigiten® bei der SSorderung feitzuhalten, daB vor allen
weiteren Berhandlungen England erjt die rüdjtändigen Subjidien
auszuzahlen habe.
Gemächlich zogen inzwijchen die preußiichen Truppen über
den Rhein, wenig beläjtigt von den in adhtungsvoller Entfernung
vorjichtig Folgenden Feinden; langjam rüjtete ſich Hohenlohe mit
dem Hülfscorps zum Abmarſch nad) dem Diten, wo fi) der Krieg
256 P. Baillen,
Möglichkeit des Friedens in Verbindung mit der Beichügung bes
deutichen Reiches und einer großartigen Stellung überhaupt
eröffneten.
Schon am 13. Oftober hatte Struenjee abermals die Aujs
merfjamfeit des Königs auf die wachſende Finanznoth gelenkt,
indem er zugleich die Lage als jo verzweifelt darftellte, daß er
den König bat, aus dem Staatsrath eine Kommiljion zu bilden,
welche die in der Nothlage erforderliden Maßnahmen berathen
und dem Könige Vorjchläge machen könne. Der König ging
jogleih darauf ein: eigenhändig ernannte er zu Mitgliedern
der Kommilfion, neben Struenjee, für das Generaldireftorium
Werder, für das Juſtizminiſterium Goldbed, für das auswärtige
Miniiterium Alvensleben, für die Militärverwaltung General
major Geujau. Die — bisher ganz unbelannten — Berathungen
diefer Kommilfion und ihre Ergebnifje find für die Borgefchichte
der Bafeler Verhandlung, mehr noch für die Beurtheilung der
damaligen Lage des preußiichen Staated überhaupt, von jolcher
Bedeutung, dab wir ihnen hier eine eingehendere Würdigung
widmen Dürfen.?)
Die Kommilfion begann ihre Verhandlungen am 16. Oftober
mit einer Prüfung der Bedürfniffe und Mittel für den Reft des
Sahres 1794. Was fich dabei herausjtellte, war wenig erfreulich,
aber doch nicht geradezu hoffnungslos. Zur Dedung der außer
ordentlichen Kriegsbedürfnijfe, die auf nahe an 6 Millionen an
geichlagen waren (j. S. 250), verfügte man noch über 4,6 Millionen,
zu denen Struenjee durch verjchiedene Kleine Finanzmaßregeln
nod 200000 Thaler beichaffen zu fönnen hoffte. Den dann
bleibenden Fehlbetrag von etwa 1 Million dachte man theils durch
eine Anleihe in Frankfurt, theild, auf Geuſau's Anregung, durch
Eriparniffe in der Militärverwaltung aufbringen zu können, fo
daß für die Fortjegung des Krieges bis Ende 1794 immerhin
Dedung vorhanden fchien. Nachdem man hierüber dem Könige
vorläufig Bericht eritattet (18. Oft.), ging man an die ungleich
1) ad) den Manualakten der Kommilfion, die zwar feine Protofolle,
aber die gemeinfamen Berichte an den König in verichiedenen Entwürfen und
zahlreiche Gutachten der einzelnen Mitglieder enthalten.
258 P. Baillen,
Grunditeuer erhöht würde, was in dei meilten Provinzen nur
die Bejiger adeliger Güter :treffen könnte. Überhaupt aber wollte
er, daß jeder „Befiger eines adeligen Dominii zur Kontribution
gezogen werde“. Man könne in der Mark die Ritterpferdauflage
verdoppeln, in Schlefien und Preußen von der beitehenden Steuer
einen Donatsbetrag außerordentlich erheben. Der Bauernitand
müfje jedenfall verichont bleiben. Für die Städte empfahl er
eine Erhöhung der Acciſe (unter Ausichluß von Brot, Bier,
Branntwein und Fleiſch), deren Ertrag er auf etiva 278000 Thaler
berechnete. Diefe Vorjchläge ftießen bei allen Mitgliedern der
Kommiſſion auf den lebhafteften Widerſpruch. Bon den Natural
lieferungen erwartete bet der jchlechten Ernte niemand etwas,
ebenjo wenig von einer freiwilligen patriotiichen Kriegsſteuer.
Die Erhöhung der beftehenden Steuern überhaupt befämpfte
Werder mit dem Hinweis auf das unausbleibliche „Geſchrei der
Nation”, namentlich des „größeren und reicheren Theiles“; gegen
die ſtärkere Heranziehung des Adels erinnerte er an deſſen Brivi-
fegien und Aſſekuranz; mindeitens, wandte er ein, müßten die
Stände gehört werden, die fi dann vielleicht jogar noch zu
größeren Opfern verltchen würden. Den entichiedeniten Gegner
aber fand Struenjce in Alvengleben.
Alvensleben warf Struenjee vor, daß er jeit feinem
Eintritt in dag Minifterium nur auf eine Gelegenheit warte,
den Adel der Steuerpflicht zu unterwerfen. Sehr eingehend erw
örterte er die Schwierigkeiten einer Aufhebung der Steuervor
rechte des Adels, die Verwirrung bei Erbtheilungen, Lehnsab⸗
findungen, Auszahlung des Kanons, die Gefährdung der land-
ihaftlichen Kreditſyſteme; er erwartete geradezu den Bankrott
zahlreicher adliger ;zamilien. Denn der preußifche Adel, betonte
er, jei arm, da er jeine Söhne in der Armee bi8 zum Kapitän
erhalten müfje; erſt möge man die Offiziere fo bezahlen, daß
fie von ihrem Solde leben fünnten, dann würde der Adel Steuern
zahlen. Für den Thron und die privilegirten Stände Frank⸗
reichs habe der König den Krieg angefangen; follte er nun
Preußens bevorredhtigte Stände ebenſo drüden, wie der Konvent
die Privilegirten gedrüdt, die Bankiers aber geichont habe?
262 B. Bailleu,
auf denen der alte preußiiche Staat bisher geruht hatte, Militär
und Finanzen, zu zerbrödeln begannen und den Staat mit der
Laſt feiner neuen Aufgaben nicht mehr zu tragen vermochten.
Sehr begreiflih nun, daß die Kommilfion, die das Ergebnis
ihrer Vorfchläge im günftigften Falle auf einige Millionen an-
ſchlug, dem König ihren Bericht ſelbſt ald „niederjchlagend“ be:
zeichnet hat. Site ging aber noch weiter: fie meinte, daß bei Aus
führung ihrer Vorſchläge fich wahrjcheinlich noch mehr Schwierig-
feiten berausjtellen würden, als man jett ohnehin vorausſehe;
ſie hielt fich deshalb verpflichtet, mit um fo größerer Entjchieden-
beit den König um Wiederheritellung des Friedens vor allem
im Weiten zu bitten, wo die Fortſetzung des Krieged ganz un⸗
möglic) geworben jei. Die Worte der Kommiſſion find in mehr
als einer Hinficht merfwürdig genug, um bier vollitändig wieder:
holt zu werden. Sie lauten: „Unjer patriotifcher Wunjch, der
ji) mit unverrüdter Treue und Aufopferung gegen Ew. K. M.
verbindet, geht dahin, daß Höchitdiejelben dem Staat und den
bis jegt jo glücklichen Unterthanen den zur allgemeinen Wohlfahrt
und Glüdfeligfeit jo notwendigen Frieden unter zweckmäßigen
Bedingungen je cher je lieber zu verjchaffen geruhen mögen.
Wir find überzeugt, daß Ew. K. M. Höchſtſelbſt nicht? jehnlicher
wünſchen, al3 die Wiederherjtellung von Frieden und Ruhe und
verhoffen daher in tieffter Unterthänigfeit, daß Ew. 8. M. es
ung nicht als eine Einmilchung in fremde ung nicht zufommende
Geſchäfte anjehen werden, wenn wir Höchjtdenenjelben die Ber
jicherung geben, daß der Wunſch nach Frieden und äußerer jo
wohl als innerer Ruhe der allgemeine und berrichende Wunſch
des ganzen Volkes ift, das Ew. 8. M. mit wahrer Treue er
geben iſt und Höchftdiejelben mit verdoppelter Treue verehren
wird, wenn Höchitdiejelben bald diefen Lieblingswunſch der Nation
in Erfüllung bringen fönnen. Wir müfjen nach der ftrengiten
Wahrheit hiebei bemerken, daß vorzüglich) die Nation gegen den
tranzöfiichen Krieg gejtimmt ift und daß jie weit eher einige
außerordentliche Laſten zu übernehmen bereit fein wird, wenn
bloß davon die Rede wäre, die polniihen Unruhen zu
dämpfen.“
264 B. Baillen,
Am 21. Oftober Hatte der Prinz von Berlin aus gebeten,
dem König jeine Aufwartung machen zu dürfen; Friedrich
Wilhelm Iud ihn nach Potsdam, wo am 25. in Sansjouci eine
Zujammentunft ftattfand. Was zwiſchen beiden dort beſprochen
wurde, darüber fehlt es Leider an zuverläjjigen Nachrichten: nur
vermuthen können wir, daß die Lage des Staates, die Notk
wendigfeit und Möglichkeit eines Friedensſchluſſes mit Frankreich
erörtert wurde. Es jcheint ſelbſt, daß der Prinz bereits den
Grafen Golg, den jpäteren Friedensgeſandten in Bafel, als
Unterhändler vorgejchlagen hat. Gewiß ijt, daß der Prinz nur
wenige Tage jpäter, am 29. Oftober, durch Vermittelung
Struenjee’3, dem König eine Denkichrift Üüberfandte, in welder
er die Anfnäpfung einer geheimen Verhandlung mit Frankreich
in Bern empfahl, zunädit um zu erfahren, ob Frankreich den
Frieden wolle und ob es Preußen als Vermittler mindejtens für
das Deutiche Reich und für Holland zulaffen werde. Als Grund»
lagen der weiteren Verhandlung bezeichnete der Prinz: Die
Schonung der weitfäliichen Provinzen Preußens, Anerkennung
der Erwerbungen in Bolen, Sicherung Baierns gegen Dfterreich.
Zum Unterhändler empfahl er, ohne den Grafen Golg zu nennen,
aber deutlih) auf ihn hinweijend, einen Mann, der in den Ge
ihäften erfahren ſei, gut franzöfiich verjtehe und bereits einige
Zeit in Frankreich gelebt habe.)
Diefem Eingreifen de Prinzen Heinrich ift für die Ent
ſchließung des Königs zur Anfnüpfung mit Frankreich damals
wie jpäter immer eine enticheidende Bedeutung beigemefien
worden *); wie denn auch der König ſelbſt durch Äußerungen
und Verhalten, in diefen Tagen wenigitene, dem Prinzen für
werder beftätigt auch der öſterreichiſche Geſandte in Berlin, Fürit Reuß;
Beriht vom 4. Februar 1795 bei Beißberg 5, 97.
1) Schriftwechſel des Prinzen Heinri mit dem König und Struenſee,
und Denfichrift vom 29. Oftober im Kgl. Haudardiv. Mertwürdig, dab im
der Dentichrift die Zufammentunft in Sansjouci mit feinem Worte berührt wirt.
”) Am 1. November fchreibt Struenfee an Prinz Heinrih: „Em. Königl
Hoheit Haben in diefer äußerſt delifaten Sade die Bahn gebrochen und zuerſt
den feiten Entſchluß bewirkt, dem Krieg am Rhein wo möglid ein Ende
zu machen.”
266 P. Bailleu,
fönne“ (19. Oft). Es waren die geheimen Verhandlungen mit
Frankreich, die Möllendorff jegt dem König zu enthüllen dachte.
Meyerint Hat jpäter in Bajel mit großer Genugthuung
erzählt, wie gnädig der König ihn in Potsdam empfangen —
wahrjcheinlich bereit? am 24. Oftober —, wie freundlich er jeine
Mittheilungen auch über Schmerz, „der das Eid gebrochen“,
aufgenommen habe. ZThatfächlich hatte feine Sendung in doppelter
Hinfiht vollen Erfolg. Noch am 25. Oktober erließ der König
den Befehl an Möllendorff, zwar die 20000 Mann unter Hohen»
lohe nun „unverzüglih* abmarjchiren zu laſſen, die übrigen
Truppen aber am rechten Rheinufer vorläufig feitzuhalten. Neben
den politiichen und militärischen Gründen, die Möllendorff hiefür
geltend gemacht hatte, wirkte auf den König, jo jcheint es, auch
die ihm nahe gelegte Beſorgnis, daß fonft nichts Die Dfterreicher
Clerfayt’3 verhindern fönne, eines Tages in Baiern einzurüden.
Noh an demfelben Tage, oder unmittelbar darauf, fiel bie
Enticheidung auch in der Frage der franzdfischen Verhandlung.)
Meyerind hatte dem König nicht nur verfichert, daß die Franzoſen
jelbft eine. Verhandlung über Auswechjelung der Gefangenen
wünjchten und dafür die Schonung der preußifchen Provinzen
am Rhein in Ausſicht ftellten; er betheuerte auch, daB das
ganze Reich aus der Hand des Königs den Frieden zu erhalten
verlange, daß insbejondere Kurmainz dazu in aller Form die
Anregung geben werde. In der That Hatte Kurfürit Karl
Friedrich, auf Dalberg's Anrathen, eben in Regensburg beantragt:
da es fich zwijchen dem Neiche und Frankreich doch hauptſächlich
um den weftfäliichen ‘Frieden handele, jo möge man Schweden,
y Bur Chronologie: Am 24. Oktober war Meyerind in Rotödam
(nad) Zinzendorf's Bericht bei Haflel, Kurſachſen und der Bafeler Friede,
Neues Archiv f. ſächſ. Geſchichte 12, 204 erft am 25.); am 26. Prinz Heinrich
in Potsdam, Befehl zum Berbleiben der Truppen am Rhein, Manſtein
benachrichtigt Luccheſini von Meyerind’d Ankunft, der Verhandlung über
Gefangenenauswechſelung und der Möglichleit einer preußiſchen Vermittelung
für das Reich; 26. Bericht der Finanzkommiſſion; 27. Schreiben des Königs
an Haugmwig über die Eendung Weyerind’3 nad Bafel; 28. Haugmwig in
Potsdam (Sybel 3*, 274); 29. Dentichrift des Prinzen Heinrich. Am
2. Nov. war Meyerind wieder in Frankfurt a. M. (Tagebuch Harbenberg’s).
268 P. Baillen,
jeine Entjihlieguug wurde die Ausſicht auf einen allgemeinen
oder wenigſtens deutichen Frieden, bei dem er jelbit die eriehnte
Rolle des Friedenzfüriten jpielen zu können fich Ichmeichelte.
So viel wir fehen!), baute jich dem König die Friedensaktion,
zu der er jest fchritt, in drei Stufen auf. Zunächſt die vor
bereitende Unterhandlung durch Meyerind, der die Bereitwilligkeit
Frankreichs zum Frieden ermitteln, gleichjam den Boden prüfen
jollte, welcher die preußijche zsriedenspolitif tragen würde. Dann
eine preußiich- franzöfiiche TFriedensverhandlung in aller Form,
wofür der König ſchon damals den Grafen Golg in Ausſicht
nahm. Endlich ein Friedenskongreß nicht bloß für das Ddeutiche
Reich, jondern womöglich für alle friegführenden Mächte, unter
Bermittelung Preußens und unter Theilnahme Luccheſini's, irgendwo
in der Nähe des Rheins, wohin der König dann Doch noch jelbit
zu fommen dachte. Ich wicderhole: e3 war zweifellos nur die
lodende Ausſicht auf dies legte und höchite Ziel, die den König
zu dem eriten Schritt der Annäherung an Frankreich beitimmte,
dasjelbe Ziel, das der preußifchen Bolitit noch ein volles Jahr
lang, bis in den Herbit 1795, vorfchweben follte. Und man age
nicht, Daß es jo ganz chimäriſch geweien wäre. Auf das Reich
beichräntt, hätte eine preußiſche Friedenspolitif, bei der wachjenden
Friedensſehnſucht in Deutichland wie in Frankreich, unter ziel⸗
bewußter und cnergiicher Führung wohl Ausjiht auf Erfolg
haben fünnen. König Friedrih Wilhelm freilich, als fühle er,
daß jeine Kräfte ihn vor Erreichung des Zieles verlaffen würden,
hat gleid) damals die glänzenden und ihn bezaubernden Ausſichten
auf jein großartiges Friedensamt zweifelnd jelbjt als „Luftjchlöfier“
(chäteaux en Espagne) bezeichnet.
Zunädjt geichah, was der König angeordnet, in ‘Formen,
dic dem perjönlichen Charakter diefer ganzen Politif und der
) Der König an Haugwig, 27. Oktober (in deſſen Nadlab); Manjtein
an Luccheſini, 25. u. 30. Oktober. Wir würden über die Anfichten und
Abjichten des Königs zuperläffiger unterrichtet fein, wenn defien eigenhänbiges
Schreiben an Luccheſini (une longue lettre raisonnee) vom 3. und 4. Ron.
erhalten wäre; immerhin lajien ſich aus Luccheſini's noch vorhandener Ant⸗
wort Rückſchlüſſe auf den Inhalt jenes Schreibens ziehen.
270 P. Bailleu,
würden? Andrerſeits, wenn man die Neutralität auf das rechts
rheinifche Deutjchland beichränfte, würde man nicht Damit die
Abtretung der überrheiniichen Lande für den künftigen Frieden
in Ausſicht ftellen und fich bei Kaiſer und Reich dadurch mik-
liebig machen? Unter verdrießlichen Klagen über „die vielen
Hinderniſſe, die fich feinen beiten und heilſamſten Abfichten hindernd
in den Weg jtellten“ '), hielt e8 der König eben deshalb für noth
wendig, auf alle Möglichkeiten ſich finanziell vorzubereiten. Er
genehmigte die Anträge der Finanzkommiſſion auf Ausschreibung
einer inländischen Anleihe und Prägung von Kreuzern und
Groſchen (S. 260), und gab den Auftrag, bei dem Landgrafen
von Heſſen-Kaſſel wegen eines Darlehns anzufragen.
Eine neue Steigerung erfuhr dieſe friegeriihe Stimmung
des Königs noch durch die Wendung der Dinge in Polen, die
jeinen Rathgebern fo oft zu friedlichen Mahnungen Anlaß gegeben
hatten. Eben Hatte der König die Vorjchläge jeiner Minifter und
Generale gebilligt, wonach Preußen bei den Verhandlungen über
die Theilung Polens den Anſpruch auf die Weichjelgrenze und
bejonders auf die Palatinate Krakau und Sendontir gegen Oſter⸗
reich unnachgiebig feſthalten jolle?), als in Potsdam ein Major
Suworow's eintraf mit der Nachricht, daß Warſchau von den
Ruſſen mit ſtürmender Hand erobert ſei. Erleichtert athmete der
König auf. Vergeſſen war, daß er eben Forderungen in Polen
erhob, welche die Gefahr eines Bruches mit Rußland und Oſter—
reich in fich fchloffen. Wozu brauchte er noch Truppen in Often?
Ohne langes Bejinnen, aus eigenjtem Antriebe, jandte er an das
bei Fulda angelangte Corps Hohenlohe’8 einen Feldjäger mit dem
Bejehle ab, jogleih Halt zu machen, und an Möllendorff die
Weiſung, dieje Truppen wieder am Rhein in Luartier zu legen
i; Denkſchriften des Prinzen vom 2. und 6., Schreiben des Könige vom
11. November. Die im 5. Bande von Ranke's Hardenberg nach undatirten
Kopien veröffentlichten Denficriften des Prinzen haben in den Originalen
folgende Daten: S. 49 (Expos6 sur la guerre et la paix) 1. Febr 17%;
S. 56 (Projet d’instruction) 21. November 1794; S. 72 (Projet d’instruc-
tion pour le comte de Goltz) 26. Januar 17%.
2) VBgl. Sybel 34, 276.
Riteraturberidt.
La loi de l'histoire, constitution scientifique de l'histoire. Par
J. Strada. Paris, Felix Alcan. 1894. 246 ©.
Das vorliegende Buch ift ein Theil des philofophifchen Syſtems,
da3 der Bf. in zahlreichen, zum Theil umfafienden Werfen feit Jahr⸗
zehnten niedergelegt Hat; er nennt feine Philoſophie die des „methos
diſchen Imperſonalismus“ und erwartet von ihrem Durddringen das
Heil Frankreich und der ganzen Welt. ef. ift es nicht gelungen,
fih die grundlegenden Werke Strada’3 zu verfchaffen, Robert Flint
erwähnt den Autor und fein Syſtem in feiner Historical philosophy
in France u. f. w. (1893) gar nicht, daher muß ſich die Beurtheilung
auf dag vorliegende Buch an ſich beichränten. Obwohl St. meint,
Augufte Comte weit Hinter jich zu laſſen, fteht feine Geſchichts—
philofophie durchaus auf dem Boden der Comte'ſchen Anſchauung.
Der gefammte Verlauf der Geſchichte ift nach feiner Anficht beitimmt
duch die Art und Weije, wie jich die Menichen zu den umgebenden
konkreten Objelten, den Thatjachen, verhalten. Died Verhalten durch⸗
läuft im Fortgange der Kultur drei Stufen: die des Fideisme, die
des Rationalisme, endlid; die des Impersonalisme methodique,
Auf der erjten ijt die Richtſchnur des Verhaltens (le criterium in-
faillible) der Glaube an die perjönliche Autorität von weltlichen und
geiltlihen Gejeßgebern, Autokraten, Prieitern, Propheten; auf der
zweiten wird in langem Kampfe gegen jened der fubjeltive Verſtand
zum Criterium infaillible gemadt; auf der dritten endlich gelangt
man zu dem wahren Criterium, indem man mit der von St. emt-
dedten wahrhaft wifjenjchaftliden Wetbode des Impersonalisme
überall die unumftößlihen Thatſachen und die Gejege, Die nichts
284 Riteraturberidt.
er liefert aber auf alle Fälle den Beweis, daß Außsftellungen an den
Arbeiten Underer, die v. G. in Recenſionen madte, immer auf umfafien-
den Kenntniſſen und ihm eigenthümlichen Unfichten beruhten, die er fi
durch felbftändige Unterfuchung ſelbſt auf den abgelegenften Gebieten
erarbeitet hatte. Für jeine umfaflende Gelehrfamleit, von der aud
der letzte Band der Heinen Schriften wieder Zeugnis ablegt, gab eb
überhaupt diefe Grenze nidht. Adolf Bauer.
The history of Sicily from the earliest times. By E. A. Froeman.
Vol. IV. Edited from posthumous Mss. with supplements and notes
by A. J. Evans. Oxford, Clarendon Press. 18%. 561 ©.')
Über die Eigenart dieſes Werke habe ich mid) bei Befprechung der
drei eriten Bände (69, 298 ff.) bereit3 geäußert, bier ift vor allem die
erfreuliche Thatjache feitzuftellen, daß die Vermuthung, e8 werde infolge
des Todes des Bf. ein Torfo bleiben, durch den eben erfchienenen Band
und die in Ausficht gejtellten weiteren hinfällig if. Der Schwieger:
john des verewigten Vf., der durch feine numismatifchen Yorfchungen
bekannte U. 3. Evans, hat in defien Nachlaß genügended Material
gefunden, um in dem vorliegenden Bande die Herrichaft des älteren
und jüngeren Dionyfos, die Gejchichte des Dion und Timoleon, ſowie
das Emporfommen und Regiment des Agathokles zufammenzufaflen:
ein nächfter Band ſoll die römische Eroberung der Inſel, ein weiterer
die normanniſche enthalten.
Freeman's hinterlaſſenes Manuffript war jedoch nicht lüdenlos
und enthielt fo gut als feine Anmerkungen; nur die Stellen waren
bezeichnet, an denen der Vf. folhe anzubringen beabfichtigte. €. Hat
die Lüden durch die entjprechenden Abfchnitte aus %.'8 kürzerer Dar
ftelung der Geſchichte Siciliend, die in der Sammlung Story of the
Nations erſchienen ift, außgefüllt und nur an ganz wenigen Stellen
ſich genöthigt gejehen, einen oder mehrere verbindende Süße dem
Texte einzufügen. Dagegen find die zahlreihen Anmerkungen umd
die ald Supplemente bezeichneten Exkurſe faſt ausfchließlich fein Wert.
Bon %. rühren nur die acht ald Appendiced bezeichneten Exkurſe am
Schluſſe ber.
Die Darftellung ift infolge dieſes Verfahren? bald ausführlid),
bald furz, das Wejentlichite allein enthaltend, je nachdem fie aus 5.3
ı) Bon einer deutſchen Überfegung des Wertes durd) Bernhard Lupus
ift foeben der 1. Band (Leipzig, Teubner) erſchienen.
2% Literaturbericht.
Texte und Münzlegenden, während ſie die Inſchriften ausſchließt;
daß die Brauchbarkeit des Buches durch dieſe Trennung des epi⸗
graphiſchen Materials von der übrigen Überlieferung in bedauerlicher
Weiſe beeinträchtigt wird, iſt R. gewiß nicht eutgangen, offenbar find
hier äußere Gründe, vor allem der Umftand, daB Bangemeifter's
Sammlung der germanifhen Anjchriften immer noch außfteht,
mächtiger geweſen, als innere Erwägungen. Un Vollftändigfeit läßt
die Sammlung, abgejehen von der erwähnten Lüde des Planes,
nicht8 Wejentliche8 vermiffen; die Anordnung der einzelnen Stellen
richtet fi) in Abſchnitt 1—12 nad der Zeitfolge der Ereigniffe, in
13 und 15 nad) der chronologiſchen Abfolge der Schriftiteller, in 14
ift jie eine ſachliche: unvermeidliche Inkonſequenzen werben durd
da8 doppelte Regiſter der Autoren und der Gegenftände unſchädlich
gemadt. Zu tadeln ift, daß für die Wiedergabe ber Terte nit
immer die beiten und neueiten Ausgaben zu Grunde gelegt find; fo
fehen 3. B. die beiden Stellen aus Frontin's Strategemenfammlung
6, 17 und 18 (Front. 2, 3, 23 und 2, 11, 7) bei Gundermann ganz
anderd aus al8 bei Dederih, dem R. folgt, und insbefondere ergibt
fih, daß an der zweiten Stelle die Handichriiten nicht Ubiorem,
jondern Cubiorum bieten; aud für Athenäus mußte Kaibel jtatt
Meinefe, für Appian und Herodian Mendelsjohn ftatt Bekker benupt
werden. Unverſtändlich geblieben find mir die Ermägungen, auf
Grund deren R. den griedifhen Schriftjtellen eine lateinifde
Überjegung beigegeben bat: ich glaube, daß denjenigen Benußern de
Buches, die Strabo oder Caſſius Dio nicht im Urtext lefen können,
mit einer Verdeutſchung befjer gedient geweſen wäre.
G. Wissowa.
Geſchichte der chrüitlichelateiniihen Noefie bis zur Mitte des 8. Jahr
bunderts. Bon M. Manitius. Stuttgart, Cotta Nachf. 1891. X, 518 &
Die Beiprehung eined guten Buche? fann man ohne Schaden
ein paar Jahre anftehen lafjen, denn man wird beim häufigen Ge
brauche immer mehr trefflihe Seiten an ihm entdeden und auch als
letzter Rejerent den Leer noch auf verborgene Vorzüge aufmerkſam
machen fünnen. Anders bei einem jchlechten Buche. Hat man de,
wie es mir in diefem Falle begennet iſt, theil® wegen Überhäufung
mit andern Wrbeiten, theild aus Unlujt die übernommene Necenfion
von Jahr zu Jahr hinausgeſchoben, fo fann e8 einem begegnen, daß
man das Bud, fchon gerichtet findet und nur die Gerechtigkeit des
292 Riteraturberidt.
fie aber nicht angefehen zu haben, da er fie ſonſt dod wohl kaum
unter „Allgemeines“ angeführt und den von Burſian benußten cod.
Monac. 6412 saec. X nicht unerwähnt gelafien haben würde; daß
die Bemerkung ©. 294, 5 über den profodijchen Gebrauch von idolum
falſch iſt, Hätte ihm ein Blick in Burſian's Text gezeigt. Bei Dra⸗
contius wird zwar die bahnbrechende Arbeit W. Meyer's über die
Berliner Centones der Laudes dei mehrfach mit gebührendem Lobe
angeführt, aber an der Spitze des Paragraphen werden die Hand⸗
ſchriften in einer Weiſe citirt, die völlige Unbekanntſchaft mit den
Ergebniffen von Meyer's Unterjuchung verräth; denn neben dem
alten Bruxellensis der Laudes dei wird der nad) Meyer's Nachweis
wie alle anderen Handſchriften aus ihm abgefchriebene Urbinad
genannt, zwiſchen beiden ſteht der Vatic. Reg. 508, der nicht bie
Laudes dei fondern da8 andere Gedicht, die Satisfactio, enthalt;
für die Profangedichte wird neuere Literatur, aber nicht die einzige
Handichrift angeführt: es ift völlig unerfindli, melden Nuben eine
fo kopfloſe Handfchriftencitirung ftiften fol. Ähnlich werden die
Handfchriften der beiden getrennt überlieferten Gedichte des Priscian
©. 356 ohne Sonderung aufgeführt, von dem Gedicht de laude
Anastasii imperatoris fehlt die editio princeps von ©. L. Endlicher
(1528), von der die angeführte im Bonner Corpus scriptorum
historiae Byzantinae abhängig ift; von der periegesis die in
E. Müller's Geographi graeci minores 2, 190 ff.; hätte Bf. diefe
eingefehen, fo würde er wohl nicht vergeflen haben zu bemerten,
daß dies Gedicht die Überfegung der erhaltenen griechifchen reoımnax
des Dionyſios ift. G. Wissowa.
Quellen und Forſchungen zur Geſchichte der Abtei Reichenau, heraus
gegeben von der badiichen hiſtoriſchen Kommiſſion. IL: Die Chronik dei
Gallus Ähem, bearbeitet von Karl Brandi. Heidelberg, Winter. 188.
XXVIIL 216 S.
Dem Hift. Zeitichr. 67, 537 befprochenen eriten Theil dieſer
großen Publifation folgt jegt die verjprocdhene Ausgabe der Reichen:
auer Chronik des Gallus Ohem, beforgt von Karl Brandi, demfelben
jungen Hiftorifer, der ſich durch feine Bearbeitung der Reichenauer
Urkundenfälſchungen ein nicht geringes Verdienft erworben hat. Die
jelben Vorzüge, welche jener Arbeit nachzurühmen waren, gelten aud
von diejer: die Edition ift mit großem Aufwand von Sorgfalt und
Akribie bergeitellt, die Unterfuchhung der Handichriften und Quellen
auf breiteiter Grundlage aufgeführt.
294 Literaturberidit.
lihen Plane jollte da8 Urkundenbuch bi8 zum Jahr 1526 geführt
werden, und der Heraudgeber glaubte damals, diefen Stoff in zwei
Bänden unterbringen zu können. Über der 1890 erjchienene zweite
Urkundenband (vgl. H. 3. 72, 127 ff.) reiht nur bis in das Jahr
1400, und bei gleichartiger Weiterführung hätte es, wie der Heraus
geber jebt meint, noch zweier umfangreicher Bände bedurft. So
wird denn die Urfundenpublifation als zu weit führend abgebrochen;
gewißermaßen als Neitlieferung erjcheint in dem vorliegenden Bande,
abgejchen von beiläufig untergebradhten Stüden, noch eine kleine
Urkundenfammlung aus den Jahren 1401—1430.
Die Monumenta, welde der Band vorführt, jind meiſt alte
Belannte; jo die Chronik des Kirfchgarter Mönche, die Lebend
beſchreibungen Burkard's und Edenbert’3 und die verfchiedenen Wormſer
Aufzeichnungen aus dem 13. Jahrhundert. Doch jieht man fie darum
nicht minder gen bier vereinigt, zumal da einige darunter durch
eine Neubearbeitung nur gewinnen konnten. Für die Aufzeichnungen
aus dem 13. Sahrhundert und was fi daran angeichloffen Hat,
war dem Herausgeber die Unterfuhung A. Köſter's (vgl. 9. 3. 64,
489) von Nuten. Den Sammelband, aus weldem Köfter die von
ihm zuerjt genauer geichiedenen bürgerlichen, geijtlihen und diverſen
Notata ableiten will, glaubt B. (S. XXX) gefunden zu haben
in einem 1497 vom Worniſer Stadtichreiber vorgelegten Coder, von
welchem es heißt: „Die alt cronic unjern vorfarn durch die pfaff⸗
heit ubergeben ... derjelben chroniden fein drey einer handtichrifft
des orts, der ein biſchoff ein, das domcapittel die ander und wir
burgermeifter und rate die tritt haben, gleych geitalt, eind gebends,
einer groffe und eins buchſtabens.“ Won Intereſſe ift eg, daß der
Etadtihreiber unter Angabe der Folien Stellen daraus anführt, jo
daß man einigermaßen Einblid gewinnt, wie die verfchiedenen Auf
zeichnungen auf einander folgten. Was der Band an Quellen Neues
bringt, gehört wefentfich den 15., einige8 auch dem erfien Viertel
des 16. Jahrhunderts an. ES find zu nennen die Auszüge ans
Wormjer Rathsbüchern, eine um 1500 verfaßte Denkichrift über die
Verteidigung der Stadt Worms in Kriegsläuften, die Tagebücher des
Bürgermeiſters Reinhart Nolt von 1493 bis 1509 und die Befchreibung
des Einrittd Biſchof Johann’d von Talberg 1483. Die Nolp’jchen
Zagebücdher lagen leider nur in einer mangelhaften, 1714 aus einer
Uffenbach'ſchen Abichrift gefertigten Kopie vor. Der Herausgeber
bat den ſprachlich jtarf entitellten Tert „überall auf die alamannifd
296 Literaturbericht.
Lehrbuch der Kirchengeſchichte. Von W. Möller. 3. Band: Reformation
und Gegenreformation. Unter Benupung des Nachlafles von W. Möller be
arbeitet von Guſtav Kaweran. Freiburg i. Br. n. Leipzig, 3. C. 8. Mo
(B. Siebed). 1894. 440 ©.
Diefer Band umfaßt die Zeit vom Beginn der Reformation biß
zum Jahre 1648, während ein 4. Band die Geſchichte bis zur
Gegenwart fortführen fol. Es war vorauszufehen, daß eine folde
Theilung notwendig werden würde, und diejelbe ijt mit großer Freude
zu begrüßen. Freilich Hat diefe Erweiterung zur Kehrſeite, daß fie
die Ausfichten auf eine allgemeine Verbreitung dieſes vortrefflichen
Lehrbuchs im Kreiſe angehender Theologen vermindert hat. — Nach
den Mlittheilungen des Vorwort haben wir wejentlich Kawerau als
den Verfaſſer dieſes 3. Bandes anzufehen. Scwerlid Hätte man
einen geeigneteren Bearbeiter dieler Periode finden können. Denn
jeine befannte Vertrautheit mit derjelben bat es ermöglicht, daß der
Lejer über den Stand der Forſchung zuverläjlig unterrichtet wird
und ein anſchauliches Befammtbild empfängt. Während der 2. Band
zu mandjerlei Wünſchen in Bezug auf Stoffauswahl und Une
ordnung Anlaß gibt, befriedigt die Lektüre dieſes 3. Bandes jaft
ausnahmslos. Es ijt nur fraglich, ob (vgl. ©. 55 ff.) die Heraus⸗
bebung einer myſtiſch-revolutionären Gruppe neben den ſchwärmeriſch⸗
anabaptijtiichen Kreiſen (5. 57 ff.) auf der einen und der Bauern
revolution (S. 59 ff.) auf der anderen Seite empfehlenswerth ift,
und nicht vielmehr bloß zwei Bewegungen zu unterjcheiden find, die
der Schwarmgeifter und die der Bauern (vgl. die Zerreißung Münzer's
S. 55 und 61). Taß die Heinen Kircyenparteien auf der Grenzſcheide
zwilchen Proteſtantismus und Romanismus von K. unter den Ber
grift „die akatholifchen Gruppen” zufammengefaßt werden (S. 394 ff.),
ift geeignet, irrige Vorſtellungen über die Bejchaffenheit derfelben zu
erzeugen. Denn nur für die Utraquiſten ift die Bezeichnung zutreffend.
Die Waldenjer Itanden zwar urjprüngli auf dem Boden ded mittels
alterlichden Katholizismus, aber wurden, wie der Verfaſſer mit Recht
S. 395 bemerkt, durch die Reformation zu einer evangeliichen Kirche.
Was aber die Wiedertäufer betrifft, jo iſt der Nachweis ihres Fefl-
haltend gewiſſer Stüde der mittelalterlichen Auffajjung vom Staat
und bürgerliden Leben nicht ausreichend, fie als katholiſches Gebilde
zu charalterijiren. Denn erjt der Berührung mit der reformatorijchen
Gedankenwelt verdantten ſie ihre Entitehung und ſtets fühlten fie fi
mehr von der evangeliichen ald von der römischen Kirche angezogen.
298 Literaturbericht.
geholfen hatte (Lanz 1, 385) gepfählt wurde, wie der ſpaniſche Ges
landte in Rom am 25. Mai 1531 dem Kaifer mittheilt (Simancas
Estado leg. 853 fo. 45). Weitere Briefe Balbi's dürften daher nicht
erhalten fein, wie 9. meint (©. 6). Uber der fpanifche Geſchicht⸗
ſchreiber Ocampo bemerft in feinen Aufzeichnungen, daß Unjang 1542
am faiferliden Hoje in Valladolid ein Gejandter des Soft weilte
(Escurial. Cod. II. V. 4 fol. 175), wie damals in Europa der Perſer⸗
ſchah genannt wurde. Und diefe Gefandtfchaft wird die ziweite Sendung
Karl’ (©. 6) veranlaßt haben. Es jcheinen alfo die Beziehungen
Karl's V. zu Perſien nie abgebrochen worden zu fein.
J. Bernays.
Doktor Wenceslauß Lind von Coldig, 1483—1547. Nach ungedrudien
und gedrudten Quellen dargeftellt von Wilhelm Reindell. Criter Theil:
Bis zur reformatoriihen Thätigfeit in Altenburg. Wit Bildnis und einem
Anhang, enthaltend die zugehörigen Documenta Linckiana 1485—1522.
Marburg 1892. 2% S.
Daß der treffliche Auguſtiner Wenceslaus Lind aus Goldip,
der Nadyjolger des Johann von Staupi im Generalvilariat feiner Kon-
gregation, der nachmalige Prediger in Altenburg und Nürnberg, eine
Lebensbejchreibung verdient, wie manche andere Leute zweiten und
dritten Ranges aus jener Zeit fie gefunden haben, wird niemand
beitreiten. Daß ein ſolches biographiiches Denkmal aber zwei Bände
umfafjen müßte, wird außer dem Vf., der die Bedeutung feines Helden
ſtark überfhägt und 3. B. geneigt iſt, in ihm nächſt Luther den
eriten Prediger der Reformationgzeit zu ſehen, ſchwerlich ein Kenner
zu behaupten wagen. Der Bf. hat, was rühmend anerfannt werden
muß, feine Mühen und Koſten gejcheut, um neued archivaliiche
Material zufammenzubringen, ohne dod großen Erfolg gehabt zu
haben. Bon den am Schluß des vorliegenden Bandes abgedrudten
oder verzeichneten Briefen und Dokumenten dürften — vielleicht ab
gefehen von den aus dem Altenburger Archiv ftammenden — Die
meisten fchon befannt oder ſchon von Undern verwerthet worden fein,
und nicht immer hat der Vf. diefen Thatbeftand und die Eitate Anderer,
die ihn zum Abdrud der betreffenden Quellenftellen veranlagt haben,
angegeben (3.8. ©. 255 vgl. mit Th. Kolde, Deutjche Auguftinerkongt.
©. 272, ferner 250 vgl. ebendaf. ©. 356 ꝛc.). Auch die Erwartung,
daß meine Ausführungen über Lind durch die Spezialforfchung weient-
liche Berbejjerungen erfahren würden, bat fich leider nicht erfüllt.
Natürlich feblt es nicht an danfendwerthen Ergänzungen im einzelnen,
300 Riteraturbericht.
Der zweite Aufjag „Sranzöfifche Zejuiten al8 Gallitaner” (S. 59—119)
enthüllt eine Epifode in der Gefchichte der Orden, welche für defien
Stellung zur Kurie außerordentlich charakteriftifch ift. Ludwig XIV.
hatte durch Edikte von 1673 und 1675 dem fogenannten Regalien
recht eine Ausdehnung gegeben, welche jcharfe Protefte Innocenz XL
bervorrief. Aber die franzöfiichen Sefuiten übten als Beichtväter
des König auf Die Befegung der von diefem abhängenden geiftlichen
Stellen einen fo großen Einfluß aus, daß fie der päpitlicden Ent⸗
ſcheidung offene Oppojition entgegenjegten. R. zeigt jodann, mie
die berühmten gallitanifchen Artikel, welche nicht ohne Mitwirkung
des Sefuiten La Chaife zu Stande gefommen waren, in den erften
Sahrzehnten von den franzöfifchen Jefuiten ganz und gar nicht bes
kämpft worden find, fondern geradezu der erſte Anlaß ihres Streites
mit dem General Gonzalez wurden. Ihre von Ludwig XIV. unter
ftügten Emanzipationdbejtrebungen gingen jo weit, daß der Plan,
für Frankreich einen von dem General unabhängigen Vorſteher zu
wählen, ernſtlich betrieben wurde; freilich feheiterte er an der Stand
bajtigfeit Alerander’3 VIII Noch im Jahre 1761 Haben ji 116
Sejuiten feierlich zu den gallifanifchen Kirchenfreiheiten bekannt, doch
ohne dadurd, wie fie hofften, dem Verbot ihred Ordens vorzubeugen.
— Der Berfammlung von Bourgfontaine im Jahre 1621, auf welder
die Häupter der janjentftifchen Partei die Zerſtörung der katholischen
Religion bejchloffen haben jollen, ijt die dritte Studie (S. 120—168)
gewidmet. Daß die ganze Erzählung eine boshafte Erfindung der
Jeſuiten geweſen iſt, Steht feit. Trotzdem wird fie, wie der Bf. höchſt
lehrreich zeigt, biß auf den heutigen Tag wiederholt und hödhitens
ihre Unficherheit zugeitanden. — „Der faliche Arnauld. Eine Illu⸗
jtration des Satzes: der Zwed heiligt die Mittel“ ift Gegenftand der
vierten Unterfuhung (S. 169—195). Mehrere Profefloren oder
Pfarrer in Douai und Yournai, welche in dem Verdachte des Janſe⸗
nismus jtanden, wurden im Jahre 1698 in Hinterliftiger Weiſe mupfti-
fizirt. Durch Briefe, welche Antoine U. unterzeichnet waren und die
Empfänger zu der Meinung bringen mußten, fie feien von Antoine
Arnauld gejchrieben, ließen die Genannten zu einer Korrefpondenz
ji verleiten. Bu fpät erfannten jie, einem Mitglied oder Helferk
belfer der Geſellſchaft Jeſu — die Perfönlichfeit, welche die Sade
einfädelte, ift nie ermittelt worden — ihre vertraulichen Belenntuifle
gemadht zu haben. Es ijt faum befremdlih, daß die Verwerflidäkeit
de3 ganzen Verfahrens von jejuitiiher Seite niemals zugegeben worbes
302 Literaturbericht.
Geſchick führt. Faſt jedes der 21 Kapitel bringt und eine Fülle neuen
Detaild, mandje rücken den gefammten Verlauf in ein neues Lidht, jo
befonders das 17. Intereſſant jind die Mittheilungen über die erften
Projekte zur Theilung der jpanifchen Erbſchaft (S. 328—331 u. fpäter),
beadhtendwerth auch der Nachweis geringer Glaubwürdigkeit, die den
bisher fait maßgebenden Berichten Gremonville’8 über den Kaiſerhof
zulommt. Bor allem aber ift e8 die vom Bf. verfuchte neue und ab»
mweichende Würdigung der Perjönlichleit und Politik Kaifer Leopold's,
die unjere Aufmerkjamteit in Anſpruch nimmt. Jene einfeitig ab«
ſprechende Beurtheilung der öſterreichiſchen Politik, die, durch Droyſen
inaugurirt, lange Beit geherriht hatte, ift zwar ſchon in dem bes
deutenditen neueren Werk über den Zeitraum, in Erdmannddörffer's
Deuticher Gefchichte, aufgegeben worden. Pribram geht noch weiter. An
mehreren Stellen ſucht er einige bisher ftet3 getadelte Entjchließungen
Leopold’8 nicht nur als Ausflüſſe feineg — wie er ſelbſt mehrjad
zugibt — ſchwachen Charakters zu entjchuldigen, fondern geradezu als
Gebote der Stantöflugheit zu rechtfertigen. Die kritifchen Punkte find
hier die Jahre 1668 und 1671, wo Leopold fi) gegenüber dem
franzdfifchen Vorgehen in den Niederlanden, ftatt zum Widerjtande, zu
Verträgen beſtimmen läßt, die ihn zur Neutralität verpflichten und
ihm überdied einen Theil der zmweifello® nur ihm gebührenden Erb⸗
ichaft entziehen. Die Rechtfertigung dieſks Verhaltens iſt Br. nad
meiner Anjicht nicht völlig gelungen. Er bleibt und den Nachweis
icyuldig, warum dasſelbe, was 1673 möglich und Heiljam war, 2 Zahre
früher den Ruin Ofterreich8 hätte herbeiführen müffen. Die veränderte
Lage im Orient, die er ad Grund anführt, ift gewiß zu berücjichtigen,
aber jollte da3 Argument völlig überzeugen, jo mußte e8 deutlicher aus⸗
geführt und mit genaueren thatſächlichen Angaben gejtügt werden. Alles
in allem genommen gewinnt man aus Pr.'s Darjtellung erit vollends
den Eindrud, daß das Ofterreich Leopold's I. vor der Zeit Eugen's von
Savoyen — der Vorwurf trifft ebenjo ſehr und wohl noch mehr die
Minifter, ald den Herrſcher — in der verhängnisvollen Epoche Lud⸗
wig's XIV. weder über die drohende Politit des Gegners, noch über
die zu befolgende eigene Haltung fi flar geweien ijt und Deshalb
jo oft in kritiihen Momenten nur einen halben oder gar feinen Ent-
ſchluß gefunden hat. Literreih war fid, um im Stile der Zeit zu
fprechen, jeiner ratio status nicht bewußt. Der Einzige aber, der vor
dem Prinzen Eugen die gleiche Idee in Wort und Schrift unabläflig
vertreten bat, eben Lijola, er hat — dies ijt der Eindrud, mit bem
Schulweſen. 303
wir von dem Buche ſcheiden — die verdiente Stellung und Beachtung
nicht gefunden, fo da die giftige Bemerkung des Venetianers nur zu
begründet erſcheint, die Fürften glaubten die Treue ihrer Diener
entjprechend zu belohnen, wenn fie den Leichen Weihrauch ftreuten.
Mir fcheint, gerade die Behandlung Liſola's ift das ftärkite Argument
gegen i .
treffend als oſterreichiſchen Landesheren charafterifirt, der ſich erit in
‚weiter Linie auc als Kaifer fühlt. Immerhin hält dieſer Oſterreicher
aud mit vielen bloßen Territorialfürften feiner Zeit den Vergleich
ſchlecht aus.
Daß neben diejer allgemein hiftorifchen Seite des Buches die
perſonlich⸗ biographiſche oft ftärfer zurücktritt, als dem Lejer lieb ift,
liegt in der Natur des Stoffes und des Helden, von dem außer jeiner
diplomatiſchen nur noch Spuren einer regen ſchriſtſtelleriſchen Wirf-
jamfeit befannt find, die bei Pr. gebührend zur Geltung kommt. Der
Mann hat zu wenig Perfönliches an ji, als daf fein Biograph
mehr als das Bild der Gejchäfte bieten könnte. Doc wäre es viele
leicht zu vermeiden gewejen, daß man z. B. im 9. und 10. Kapitel
(vor dem Frieden von Oliva) den Helden auf jo fange aus den Augen
verliert, wie dort geichieht. Der Stil des Bf. iſt nicht immer
, feine Ausdrudsweife mitunter ermüdend; doch wäre es uns
dankbar, deswegen, wie wegen anderen Einzelheiten, den unzweifel-
haften Werth des Buches herabzufegen, das, einen bedeutenden Stoff
in gründliche Verarbeitung darbietend, die Kenntnis einer wichtigen
Epodpe der europäifchen Geſchichte nicht unbeträchtlich vertieit.
Haller.
}
Geſchichte des deutſchen Voltsjhullehrerftandes. Bon Konrad Fiſcher,
Seminarleher. 2 Bde. Hannover, Karl Meyer (G. Prior). 1892/83. VI,
353 u. 458 ©.
Das Buch iſt dem Wunjche des Vf. entiprungen, aus der Be—
trachtung des Entwidlungsganges, den der deutſche Volksſchullehrer⸗
fand genommen, eine Harere und unbejangenere Erkenntnis über die
von den Vollsſchullehrern in der Gegenwart zu erjtrebenden Biele
heranreijen zu lafjen. Als jolde betrachtet 5. die Hebung der Bil
dung des Voltsſchullehrers, die Verbejjerung jeiner Einnahmen und
jeiner gejellichaftlichen Stellung, jowie die Durchführung des aus—
ſchließlich jtaatlihen Charakters der Vollsſchule und einer fachmänni—
ſchen Schulaufficht.
806 Kiteraturberidht.
wird, doch hätte ſich an cerfreulicheren Erfceinungen mehr zufammen
ftellen lajien. Dahin gehört u. a. die Thatſache, daß unter ben von
1772 bi8 1798 in Weftpreußen entftandenen 750 Landſchulen jich 173
auf adeligen Gütern befanden. Daß bäuerliche Gemeinden nicht ges
rade entgegenfommender fich zeigten, als der Adel es zu thun pflegte,
darüber gibt Vf. ausreichende Belege. Aus alledem zieht er den
Schluß, daß die Schule am beiten ald Staatsſchule gedeiht.
Unfer Schlußurtheil über fein Buch geht dahin, daß wir mit
unferer Anzeige deſſen Leſerkreis ermeitern möchten, denn niemand
wird ed ohne mannigfache Belehrung und Anregung aus der Hand
legen: es jtedt tüchtige Arbeit darin, und ed offenbart jich darin ein
redlicher Charakter, der ſich Achtung erwerben muß.
C. Rethwisch.
6. ©. Gervinns’ Leben, von ihm jelbit. 1860. Mit vier Vildnifen
in Stahfftih. Leipzig, Wild. Engelmann. 1893. XVI, 48 S.
Die Selbftbiographie von Gervinus umfaßt nur die Jugendjahre
185 bi etwa 1835, obgleich das legte Kapitel zeitlich etwas darüber
hinausgreift. Der äußere Verlauf des Lebens in diefen dreißig Jahren
ließe jich in wenigen Worten wiedergeben und ijt in der That ohne mıerl-
würdige, erwähnenswerthe Zufälle. Wie es bei der jtarf refleftirenden
Natur von G. nit Wunder nehmen fann, iſt die Betradhtung umd
Beobachtung fait ausjchlieglich auf die innere Entwidlung gerichtet;
die äußeren Ereignijje werden kurz angedeutet, bilden nur die Wende
punfte, erjcheinen meiſt al3 Ergebniffe innerer Erfahrungen und Er⸗
lebniſſe. Deren aber weiß der jcharfe Beobachter jeiner jelbit in Fülle
zu erzählen; eine Kämpfernatur, entwidelt er Geift und Charakter in
hartem Ringen mit jich ſelbſt und ſchonungslos, mit einer faft bis
zur Schroffheit gediehenen Wahrheitäliebe erzählt er dieje ſchweren
Kämpfe, aus denen er jchließlid) Doch als Sieger hervorging.
Das Buch bietet feine leichte, feine behagliche Lektüre; felbft der
Schilderung der Jugendjahre fehlt der fröhlihe Schimmer, in dem
jie jonjt dem rüdblidenden Manne erjcheinen. Mit wenig rende
blidt er auf die Schulzeit zurüd; troß aller Schwärmerei und poetis
ihen Neigung tritt er, unberathen und ungeleitet, in eine Buchhand⸗
lung, nad kurzem Verweilen in ein Waarengeſchäft. Er ſucht ja in
der Selbitichilderung der Lehrjahre in der Kaufmannſchaft nad Mög⸗
(ichfeit auc ihnen gute Seiten für feine Entwidlung abzugewinnen,
fhwingt ih togar zu einem Panegyrifus auf den Kleinhandel auf,
810 Kiteraturbericht.
bat einmal das tiefjinnige Urtheil gefällt: „man muß T. nehmen als
Ganzed, wie er iſt, oder ihn gar nicht nehmen“. Das iſt num
glüdlicherweife faljh: denn man muß ihn nehmen. Aus dem Wege
fann diefem Buche doch feiner von und gehen: bejcheiden wir uns
aljo, und unbefangen an ihm zu erfreuen — denn es iſt das ſchönſte
hiſtoriſche Erbauungsbuch, dad unjer Volk bejigt — und überdies,
nad hundert Seiten hin recht viel aus ihm zu lernen.
Man darf wohl jagen, daß der neue Band der biöher fchönite
von allen ift. Das Augenleiden, unter dejjen dumpfem Drud er ge
jchrieben worden ift — die VBorrede klagt darüber — merkt man ihm
wahrlich nicht an: feine Spur der Erlahmung wird auf dem weiten Wege
fihtbar. Den Gegenjtand bildet die Zeit von 1840 bis 1848; „König
Friedrich Wilhelm IV.“ ift diefes „fünfte Buch“ überfchrieben. Wieder
find die Schäge vornehmlich des Berliner Archivs in weiten Umfange
herangezogen, vielerlei Ergänzungen dem Bf. von danfbaren Lejern
mitgetheilt worden, die Literatur der Zeit in all’ ihren Richtungen
bi3 hinab zu einer Fülle von Zeitungen hat er durchgemadt, all»
mählich beginnen auch feine eigenen Erinnerungen hörbar mitzufpredyen ;
bejonders in den Porträt der Männer, die damals hervortraten und
zum Theile noch heute am Leben jind, erfennt man ſie leiht. Der
Stoff, der dieſem Bande zu runde liegt, ijt außerordentlich groß.
2. bat mit überlegener Herrſchaft ein Kunſtwerk aus ihm gebildet,
wie es jo einheitlich zugleih und lebensvoll jelbit ihm nod
nirgend gelungen iſt. Inſofern iſt der Band, als literariſches
Ganzes, durchaus neu und mit keiner früheren Darſtellung des Zeit⸗
raumes vergleichbar. Sein hiſtoriſcher Inhalt freilich iſt minder
nen. Die entſcheidenden Thatſachen dieſer 8 Jahre kannte man bes
reits vor T. vollſtändiger und genauer als die des vorhergegangenen
Vierteljahrhunderts; eine eigentlich überraſchende Neubegründung
unſerer Kenntnis war bier nicht zu erwarten. Auch in der Geſammt⸗
auffafjung weit T. hier von den beiten feiner Vorgänger nidt
wejentlih ab. Auch jet bleibt die meifterhafte Inappe Überſicht
Sybel's bejtehen. Aber einmal erfährt bei T. jede einzelne Gruppe
von GEreignifjen eine Menge von Bereicherungen, Berichtigungen, Er⸗
Härungen, und vor allem: die Gejamnitheit des deutichen Daſeins der
Beit erſcheint — auch inhaltlid” — hier zuerft in umfaflendem, alljeitig
und voll ausgeführtem Bilde.
Seine leitenden Züge zeichnen ſich fharf ab. Die 40er Jahre
find erfüllt von erregter öÖffentlider Bewegung, fie iind politifch, fte
32 Literaturbericht.
monarchiſchen Gewalt in den Mittelſtaaten“); weiter vorn ſind ſie
ſchon einmal behandelt worden, aber nur inmitten
der „die Parteiung in der Kirche“ ſchildert: dort ſind die Südſtaaten
dem Berichte über den Ultramontanismus, Sachſen dem über ben
Deutfeitatholigismus angereift. Die geifteßs und wirkhfchaftsgeiihte
lichen Kapitel umfafjen natürlich ganz Deutſchland, —
T. von Preußen aus und ſchließt er mit Preußen.
ſandtſchaftsalten find viele
ſtaaten entnommen. Auf der einen Seite iſt nun, und nicht ganz mit
Unrecht, darauf hingewieſen worden, daß ber große Aufſchwung
nationaler Empfindungen, der auch nad) T. dieje Jahre wejentlic 3
harafterifict, Doch, umd befonders in feinen außerpreußifchen Negungen,
nicht jo ausdrücklich und jo eingehend verjolgt wird, wie man es =
gerade im diefem Werfe erwarten möchte. Andrerſeits muß man —
ebenjo ftarf betonen, daß manche Einzelzüge, die in den früheren —
Darftellungen über Gebühr Hervortraten, erſt hier innerhalb einer —
wirklich das Ganze und aud) die realen Gewalten alljeitig beri——
fichtigenden Erzählung ihren richtigen Plah und das ihnen doch mur zu—
tommende Maß von Wichtigkeit angewiejen erhalten; ich denke babe
an die Parteiverſammlungen der ſüdweſtdeutſchen Liberalen. Und wieder
muß man dem unerfreulichen Mipverjtändnis entgegentreten, als lieg
diefer Zurücdrängung früherer einfeitiger Urtheile und liege de
Keitit, die T. an den Mittelftaaten übt, Feindjeligfeit oder Gerng—
ihägung den nichtpreußiſchen Stammen gegenüber zu Grunde. De
niemand umfaßte wohl bisher die Individualität unferer Stämme
mit jeinerent Verftändnis und wärmerer Liebe, als diefer alte Td—
feind des Partikularismus; und bei den Schwaben, die fid, wenn ide
nicht irre, beſonders empfindlid; gezeigt haben, ſcheint mir der AUrg—
wohn am wenigten begründet zu fein. Es iſt von jeher drollig zu
beobachten geweſen, wie in den Necenfionen (und das Vorwort ei
4. Bandes verrät, auch in perjönlichen Zufchriften) der Ton durc
brach, „daß wohl alles Übrige zu billigen, aber die Heimat ee
Todelnden ſchlecht behandelt fei". Der Ref. glaubt fid von diefen
Groll wie von kritiſchem Hodmuthe frei, wenn er num doch LT
undanfbare Amt auf ſich nimmt, in einem raſchen
die der inneren Geſchichte gewidmeten Theile des 5. Bandes hier un
dort eine Frage zu äußern und eine Lüde anzudeuten.
In den Abfehnitten über das Kirchliche Leben nimmt X. fe
rüdhaltlos jeine perfönlihe Stellung — die ſich mit feinem der Parti——
314 Literaturbericht.
auch die neue literariſche Bewegung in ihren internationalen Zuſammen⸗
hang hineingeſtellt werden müßte, wie er hier nur für die bildenden
Künſte konſtatirt wird, die T. als die „weltbürgerlichen“ der von
Natur „nationalen“ Poeſie entgegenſetzen möchte. Und vielleicht
könnte der Realismus jener Tage überhaupt doch noch genauer bes
fchrieben und enger begrenzt werden. 7. ſelber hat wohl in den
vierziger Jahren zuerft eine „realiſtiſche“ Kunſt fennen gelernt, wie
jie eben damal8 emporkam. Aber wie fremd ijt und diefer Realismus,
jelbjt derjenige der Freytag'ſchen Jugenddramen, längſt geworden!
Wie zahm und von wievielen älteren Elementen durchdrungen er in
diefen feinen Anfängen nody war: dieſe rechte literariihe Eigenart
des fünften Jahrzehnts fcheint mir T. nicht ganz mit jener dad Ber
fondere treffenden Kraft plaſtiſcher Charafterijtit herausgearbeitet zu
haben, die ihm fonft überall eigen ift. — Die Mufif findet in dem
Sefammtplan feines Werkes offenbar an fpäterer Stelle ihren Bla.
Eingehend ift (Kap. 6) „Wachsſsthum und Siechthum der Volks⸗
wirthichaft” beſprochen. Für das Wefen von T.’3 Geſchichtſchreibung
it dieſer Abjchnitt vielleicht vor allen bezeichnend. T. will das ges
jammte Leben feines Volkes, aud) das wirthſchaftliche und joziale,
duritellen, aber er geht nicht von diejem eigentlid) aus: der Staat, der
perfönliche Gedanke, die perſönliche That liegen ihm doch näher, er ift
und bleibt, im weitejten Sinne, politifher Hiftoriter. Das Kapitel —
trefflic aufgebaut — ift feinem Hauptinhalt nad) Gejchichte der
Wirthſchaftspolitik (Zollverein, Eifenbahnen, Bankweſen). Bon ihr
entwirft es ein jarbenreiches, prächtige und werthvolles Bud, an
dein man fich freuen muß; überall jind dabei Züge der allgemeinen
Politik (Rußland, Ofterreih), England) eingewoben: da8 England
Cobden's wird dharakterijirt, fein Einfluß auf das deutfche Leben, der
Kampf von Schußzoll und Freihandel, dann wieder daß innere Treiben
der preußischen Finanzverwaltung, die Wirkſamkeit Rother's geichildert.
Von der Gewerbepolitif diefer Jahre!) ift dagegen, wenn ich nicht
irre, nicht die Rede. Der Schluß des Kapitels ift dem Kommunismus
gewidmet, der Entwidlung der fozialen Zuſtände Dagegen nur ein
verhältnismäßig enger Raum (S. 506—512), und was dort über den
Umſchwung der Lebendgewohnheiten, die Entfaltung von Kapitalismus
und Proletariat, die Enteignung des Landvolfed gejagt wird, ift
wuchtig und eindrudsvoll, aber man fpürt leicht, daß es weder land»
1) Bgl. 3.8. Schmoller, Kleingewerbe ©. 82.
818 Literaturbericht.
bewegte Leben der Sturmjahre breit und anſchaulich umfaßte, die
in „der ſtarken Perſönlichkeit des Erzählers“ den zerſplitterten Er⸗
eigniſſen die erforderliche Einheit verliehe und die nothwendige troit-
loſe Unfruchtbarkeit der zwifchen der Paulskirche und einem Friedrich
Wilhelm IV. Hin- und bergetriebenen nationalen Beftrebungen nicht
nur ftreng nachwieje, jondern zugleich durch die reiche Kraft ihrer
Daritellung fünftlerifchy überwände Nur T. kann uns diefe Geſchichte
geben. Die Fortjegung feines Werkes, die Kleiner erſetzen fünnte, iſt
und, wenn man es fagen darf, faft noch wichtiger, als was wir
bereit3 von ihm befigen. Erich Marcks.
Chartularium universitatis Parisiensis sub auspiciis consilii gene-
ralis facultatum Parisiensium ex diversis bibliothecis tabulariisque
collegit cum authenticis chartis contulit, notisque illustravit Hearicas
Denifle, Ö. P., in arch. apost. sed. Rom. vicarius, acad. Vindob. et
Berol. socius, auxiliante Aemilio Chatelaln, biblioth. universit. in
Sorbona conservatore adiuncto. Tomus III ab anno MCCCL usque
ad ann. MCCCLXXXIV. Parisiis 189%. XXXVII, 777. Großaquart.
Auctarium chartularii univers. Parisiensis... ediderunt Henricus
Denifie..., Aemilius Chatelain. Tom. I. Liber procuratorum nationis
Anglicanae (Alemanniae) ab anno MCCCXXXIH usque ad annum
MCCCCVI. Parisiis 1894. LXXVII, 992 &. (Spalten). Großquart.
Sınmer reicher entfaltet jich die wiſſenſchaftliche Thätigfeit auf
den Gebiete der Geſchichte gelehrter Bildung und der Univerjitäten.
Zahlreihen Matrikelveröffentlihungen reihen ſich die Publikationen
anderer Iniverjitätdaften und der Univerjitätdurfunden an, fo dab
unfere Kenntnis von der Berfafjung und dem Beſuche der Univerfitäten
des Mittelalter8 beträchtlihe Bereicherung erfährt. ine der bes
deutendjten dieſer Publikationen, das Urkundenbuch der Univerfität
Paris, des in Deutſchland in Mittelalter allein „hohe ſchuole“ ges
nannten studium generale, hat legthin einen gewaltigen und wichtigen
Schritt vorwärts gethan. Bon dem im Jahre 1889 begonnenen großen
Unternehmen find im vorigen Sahre zwei Bände erſchienen. Nach—
den: der erite Band, außer einer pars introductoria (von 1163 an)
in 55 Nummern, die Urkunden von 1200 bis 1286 in 530 Nummern
gebracht hatte, und die erjte Hälfte des 2. Bandes, die den Zeitraum
bi8 zum 21. Auguſt 1350 umfaßt, dem erjten im Jahre 1891 gefolgt
war, wurde die Reihenfolge unterbrochen und Die zmeite Hälfte des
2. Bandes, die die collegia saecularia von 1286 bis 1350 enthalten
jollte, für jest zurücdgelegt, um al8bald den 3. Band, der die wichtige
822 Riteraturberidht.
einer Bejprechung der Acta nationis Germanicae universitatis
Bononiensis (Berlin, Reimer, 1887) aus. Nun, dieſer Wunſch üt
überreih erfüllt, wennſchon das Pariſer Prokuratorenbuch der Artiften
einen anderen Charalter hat, als jene drei Jahrhunderte umfafjenden
Bolognejer Alten. Der vorliegende Band umfaßt die Jahre 1333
bi8 1406, zwei andere follen bis zum Jahre 1492 reihen, und dann
follen die Profuratorenbücder der natio Gallicana und der natio
Picardorum folgen, die einzigen, die außer dem Buche der deutſchen
Nation erhalten find, aber nur Theile ded 15. Jahrhunderts ent⸗
halten. — Die Ausgabe beginnt mit den Memorabilia nationis,
einer umfangreichen Einleitung der Herausgeber, die in 16 Kapiteln
den Inhalt des Bandes zuſammenfaßt und zuerit von dem Namen und
den Siegel der Nation handelt. Im Yahre 1367 fommt für die natio
Anglicana zum erſten Male der Name der natio Alemanniae vor und
gewinnt immer mehr Verbreitung, bis er 1442 fait gänzli an die
Stelle des alten tritt. Mit der Beichreibung ded großen Nationds
fiegeld fünnen wir und nicht völlig einverjtanden erklären, denn es
fcheint nicht zmeifello8 zu fein, daß die im oberen Abjchnitte dar⸗
geitellten Figuren wirklich den die Jungfrau Maria frönenden Chriſtus
bezeichnen. Die Memorabilia zählen jodann die Länder auf, aus
denen die Nationdgenofjen ftanımen: das Neich, Ungarn, Böhmen,
Polen, Schweden, Dänemark, Norwegen, Schottland, England, Irland,
YAquileja und Livland, die nah) Kap. 3 eigene Provinzen innerhalb
der Nation bildeten. Kap. 4 zeigt, wer Mitglied der Nation war,
nämlich) die Artijten, und zwar in der Regel jo lange, bis fie einen
Grad in einer anderen Fakultät erreichten, un theologien est de
la faculte des arts, jusqu’& ce quil ait le bonnet sur la teste
(1406); die einem Möndsorden angehörten, waren nicht in der
Nation. 14 Jahre mußten diejenigen alt fein, die Baccalare wurden,
die magistri 21; viele jedoch waren beträchtlich älter, manche blieben
jehr lange in der Nation, jo 3. B. Konrad von Rutershoven länger
als 35 Jahre. Nachden wir dann die Profuratoren, Rektoren,
Eraninatoren und Pedelle ald Beamte der Nation und deren Ges
bäude, die scholae, fennen gelernt haben, erklärt der folgende Ab-
ichnitt (7) die Bezeichnungen für die Öraduirten in der Artiſten⸗
tafultät, determinantes: die nad vollendeten Baccalareramen die
putirt und die dabei aufgeworfenen ragen endgültig entjchieden,
determinirt, haben; licentiati: die den nächſt höheren Grad erlangt
haben, und die incipientes: die die erſte Magifterleftion lefen. Nach⸗
324 Literaturbericht.
bringende Thätigkeit. Die Geſellſchaft wird jenen ſonderbaren hiſto⸗
riſchen Geiſt von ſich fernzuhalten wiſſen, der in dem neuen Buche
des Herrn Joſeph Reinach, La France et l’Italie devant l’histoire?),
fein Weſen treibt. Hier lefen wir: Die anderen Böller haben Stalien
gegenüber als Eroberer, al3 Unterdrüder im politiiden und geiftigen
Sinn, gehandelt. Frankreich dagegen jah in Ktalien ftet3 das Vater⸗
land des antifen Rom, ja gewifiermaßen une soeur latine. Chaque
fois, que l’äme de l’Italie s’endort, c’est la France qui la reveille.
Frankreich begeht nur den Fehler, daß e8 die Hoffnungen der Staliener,
die ed erweckt, nie ganz erfüllt, jondern auf halbem Wege ftehen bleibt.
Man würde fi) nicht wundern, wenn der franzöfiihe Autor feinen
Sag für die Entwidlung der letzten 100 Sahre, jeit Bonaparte, auf-
geitellt hätte; man würde auch nicht ohne Intereſſe feinen Ausführs
ungen über die franzöfiich- italienische Politit im 17. und 18. Jahr⸗
hundert folgen. Uber fein Sat ſoll gelten von den älteften Beiten,
ſeit es Franzoſen gibt, feit Karl dem Großen (!), von dem die Idee
der Italia una e libera jtamınt.?) Sch denke mir, daß jeder ſach⸗
fundige Franzoſe die fünf eriten Kapitel des Reinach'ſchen Buches
nur mit Ropffchütteln lefen wird.
Die Geſchichte der franzöfiihen Anſprüche auf italieniſche Throne
iit befannt genug. Wenige dagegen willen, daß um die Mitte bes
14. Jahrhunderts ein Italiener Anſpruch auf die Krone von Frank—⸗
rei erhob. Der nacgeborene Sohn des drittlegten Capetingers,
Ludwig's X., ſoll von einigen treuen Hofleuten vor den Nadjitellungen
der Gräfin von Artois dadurd) gerettet worden fein, daß man
ihn mit dem Kinde eines Guccio Baglioni aus Siena vertaufchte.
Der Prinz wuchs in Siena in der Verborgenpeit auf, ward dann
entdedt, von manchen, fo vom Tribunen Cola Nienzi, anerfannt und
endigte nach einem abenteuerlichen Leben in der Gefangenjchait des
Königs von Neapel. Diefe Kaſpar Haufer-Gejchichte ift in einer an-
geblich von dem Prätendenten ſelbſt verfaßten Schrift niedergelegt. Seit
längerer Zeit unterfuchte Curzio Mazzi die Überlieferung ihres Textes
und ihre hiſtoriſche Glaubwürdigkeit, veröffentlichte aber bis jet nur
ein kleines Bruchſtück aus derjelben nebit einigen fulturgefchichtlichen
1) Bari, F. Alcan. 1893. 244 ©.
», TI a donc fait de l’Italie un royaume, sinon autonome, du
moins independant.... Ainsi, pour la premiere fois dans l’histoire,
apparait l’idee qui sera celle de l’unite de !'Italie, maltresse d’elle-m&me.
326 Literaturbericht.
beſonderen Dank der Hiſtoriker verdient, indem er die drei proven⸗
zaliſchen Gedichte zum erſten Mal kritiſch herausgab, überſetzte und
äußerft ſorgfältig kommentirte.) Als Beilage gibt er eine kultur⸗
geſchichtlich werthvolle Zufammenftellung über die Beziehungen der
Meontferrat und Malajpina zu den Troubadours, dazu Geſchlechté⸗
tafeln der beiden fürftlichen Yamilien. Der Werth diefer Publikation
bleibt beitehen, wenn aud die chronologifche Firirung der drei Briefe,
wie fie der Bf. im 1. Kapitel unternimmt, fi” wohl nur theilweife
halten läßt. Nach feiner Unficht find es drei verjchiedene Gedichte,
von denen das eine vor Auguft 1194 in Oberitalien, die anderen 1204
und 1205 im Orient entftanden. Dagegen hat kürzlich R. Zenter?) mit
guten Gründen eine andere Auffaſſung verjuchten, wonach die drei
Tiraden ein einheitliche8 Ganze bilden und gleichzeitig im Jahre 1205
verfaßt ſind.
Man hat e8 dem ritterlichen Charakter de Markgrafen Bonifaz
immer zur Ehre angerechnet, daß er die Vormundfchaft über feinen
jungen Verwandten Thomas I. von Savoyen, die ihm deſſen Vater
Humbert III. übergab, nicht zur Vergrößerung feiner eigenen Macht
benußte, ſondern feinem Schützling Half, die gefährdete Etellung
jeine8 Hauſes wieder zu retten. Zur Mündigkeit gelangt, bat dann
Graf Thomas eigene Wege eingejchlagen und im engen Anſchluß an
die Faiferlicde Politif eine feine Nachbarn weit überragende Höhe er-
reiht. Die Gejhichte diefer Regierung (1189—1233) und derjenigen
feines Nachfolger bis zum Jahre 1263 erzählt C. Alberto di Ger-
bair-Sonnaz.?) Ter 1. Band des Werkes ijt bereit 1883 erichienen
(vgl. 9. 3. 52, 557 f.). Ter und vorliegende 2. Band theilt Die
Vorzüge des 1., hat aber die Mängel desſelben in nody höherem
Grade. Die deutjche Literatur der legten zehn Jahre ift überhaupt
nicht benußt. Man wird dies freilich dem verdienten Verfajler, der
jeit langer Zeit als diplomatiicher Vertreter Staliend in Sofia den
Centren abendländiſcher Wiſſenſchaft entrüdt ift, nicht zu hoch anrechnen.
1) Die Briefe des Zrobadord NRaimbaut de Baqueirad an Bonifaz L,
Markgrafen von Monferrat. Hallea.©., M. Niemeyer. 1893. VIIL 140 ©.
Ein volljtändiges Namendverzeihnis und 5 Kartenſtizzen find beigefügt.
2) Bu den Briefen des Raimbaut de Vaqueiras, Zeitichr. j. Rom. Philol
18 (1894), ©. 195 fi.
2) Studi storici sul Contado di Savoia e Marchesato in Italia
per C. Alberto di Gerbaix-Sonnaz di St. Romain. Vol. DI. Torino-
Roma, L. Roux e C. 1893. VII, 355 S.
330 Riteraturberidtt.
Epoche liegen, da Franz von Aſſiſi das geiftige Leben feines Volkes
mit einen tieferen Inhalt erfüllte.
Seine Wirkung lag mejentli in der Perfönlichleit. Schon vor
ibm und vor Waldes Hatten Arnold von Brescia und die Batarener
da8 Wort von der „armen Nachfolge Chriſti“ ausgeſprochen. Es
war fon ein Schlagwort im Munde jener politiihen Parteien
gewejen, die unmittelbaren Untheil haben an den fommunalen An«
fängen von Mailand und Rom.
Den fchon jo oft dargeitellten Anfängen der fommunalen Selbft-
jtändigfeit in diejen beiden Städten hat Biufeppe Paolucci eine neue
Unterfuchung gewidmet.) Er hofit auf diefem Wege den Schlüfiel
zu finden zur Frage des Urſprungs der italienischen Kommunen über:
haupt. Denn Mailand und Rom gelten ihm als die beiden Typen
de8 urjprünglichen fommunalen Lebens, eine Aufjajlung, gegen die
fih mandes einwenden läßt. Im erften Theil, l’origine del comune
di Milano, führt der Vf. eine ſchon früher?) von ihn dvorgetragene
Anſicht über die Entjtehung des Comune von Mailand weiter aus
und begründet fie durd) jorgfältige Interpretation der drei Mailänder
Chroniſten. Dabei jegt er ji in zum Theil jcharfer Polemik mit
feinen Vorgängern auseinander, von Giulini, Leo und Segel bis
Pawinsky und Anemüller.?) Über die legte zufammenhängende Lars
jtellung de3 Gegenjtandes durch R. Bonfadinit) geht er kurziveg zur
Tagesordnung. Paolucci zeigt, wie in den Kämpfen der Pataria
das Volk gegenüber dem Adel, der die fimoniftifchen Priefter befchügt,
eritarkt, wie es die Edlen allmählich dur fein Gewicht, feine Zahl.
die Verbreitung der neuen Ideen erdrüdt. Leider verjagen die
Quellen gerade für die fritiichen Jahre, in denen der zuerft faiferlid
gefinnte Erzbifhof Anfelno da Rode und der größere Theil dei
Adels ji) vor der Bürgerfchajt demüthigte. Aber es läßt fich doch
erlennen, wie aus einer ungeordneten Volksregierung, deren
der Erzbifchof ift, nach zwei vergeblihen Anläufen, endlich 1114 das
durd) die Volksverſammlung dargeitellte Comune jich bildet, und bald
darauf, jedenfall vor März 1117, in den Konfuln ſich eine regelmäßige
1) L’origine dei comuni di Milano e di Roma (secolo XI e XI).
Palermo-Torino, C. Clausen. 1892. VI, 205 ©.
?) Storia d'Italia dalla caduta dell’ Impero Romano. Vol L
Palermo 1889. ©. 148,
*) Ich vermijje unter den angeführten Arbeiten die von Handloile
*) Le origini del comune di Milano, in: Gli Albori della vita
italiana. Milano, Frat. Treves. 18%. ©. 117 ff.
W Literaturbericht.
werden mitgetheilt, freilich nicht — was wenigſtens bei den älteren
wunſchenswerth geweſen wäre — im Originaltexte, ſondern durch
uͤderſichtliche Inhaltsangaben in franzöſiſcher Sprache. Kurze hiſtoriſche
Einleitungen gehen jeweils voraus. Un der Spitze des Ganzen ſteht
eine ſehr gut geſchriebene Abhandlung, die über die Lage der Arbeit
in Rom, die Borgeijhichte!) und Geſchichte der Genoſſenſchaften,
idre adminiftrative und fiskaliſche Abhängigkeit, den Charakter ber
Statuten im allgemeinen orientirt. Das Werk ift eine Yundgrube
für die innere Geſchichte Roms vom 13. bi8 zur Schwelle des
19. Jahrhunderts. — Ein werthvolles bibliographijche® Hülfsmittel
der gejammten römischen Lofalgefhichte im Mittelalter und der Neu-
zeit bietet jich jeßt in dem Werke, dad aus dem Nachlaß Francesco
Serroti’8 (f 1887) mit Zuſätzen von Enrico Celani herausgegeben
wird. Der erfchienene 1. Band?) enthält die Storia ecclesiastico-
eivile, unter welchem Zitel die Geſchichte der Kirche im allgemeinen,
die der religiöjen Körperichaften, des Papſtthums und der einzelnen
Räpfte, der Konklaven und endlid) der Corte e curia zujammen-
geraßt find. Abſolute Bollftändigleit Tann von einer derartigen
Bibliographie billigerweife nicht erwartet werden.
Dean bat im Auflommen des Konſulats das äußere Zeichen der
„italieniihen Städtefreiheit“ gejehen und demnach auch den Urfprung
jener Snititution da gejucht, wo eine freiheitlihe kommunale Ente
widlung ſich darbot, d.h. in Toskana und Oberitalien. Umſo anf
fallender war die Behauptung Hand v. Kap-herr’3°), daß dad Kon⸗
julat in Süditalien — in byzantinischen Einrichtungen wurzle
(Meerestonjulat), Nachdem dann zunädft Robert Davidfohn von
1) Die Worte des Titels depuis la chute de l’empire romain
erweden falſche Hoffnungen. Über die Entwidlung vor 1265 erfahren wir
nicht® neued. Der Bf. hätte aus den Bemerkungen von Üremer in ben
Bött. Gel. Anz. 1892 ©. 724 fi. und Kehr in dieſer Zeitſchr. 71,158 Fi.
Nugen ziehen können.
*) Bibliografia di Roma medievale e moderna, opera postuma di
Francesco Cerroti accresciuta a cura di Enrico Celani. Vol. L Storia
ecclesiastico-civile.e Roma, Forzani e C. 1893. XI ©. u. 604 Sp. —
Zwei weitere Bände follen zum Gegenftand haben: La topografis, la storis
artistica e i monumenti, ber 4.: La storia civile e municipale e la
storia fisica del suolo, del Tevere e della Campagna romana.
2) Bajulus, Podestä, Consules in: Deutih. Ztihr. f. Geſchichtswiſſ.
5 (1891), 21 fi.
334 Literaturbericht.
Früher als die Meereskonſuln, ſchon um die Mitte des 12. Jahr⸗
hunderts, treten neben den Consules communis die consules merce-
torum auf. Die Entwidlung dieſes Amtes in Piſa unterſucht Schaube
in einer weiteren Abhandlung !), anfnüpfend an eine Urkunde von
1159. Zunächſt ift e8 ein Staatdamt und, wie dad Meerkonſulat,
in Händen der Wriftofratie, feine Aufgabe die Überwachung des
Handelsverkehrs, zumal auch der großen Piſaner Meſſe. Aber die
Mercatores erringen jchließlih (1190? 1200?) das Recht der freien
Konfulmahl; die richterlihe Kompetenz ihrer Konfuln wird erweitert,
ihr Ordo fommt an Bedeutung dem Ordo maris nahe.
Nur dadurch, daß ſolche Kollegien von unbedingt fachverftändigen
Männern über die faufmännifhe Standedehre wachten, daß das
Gemwohnbeitöreht von den Zunftgenofien ftreng gewahrt wurde, ift
in diefen Zeiten der Öffentlichen Unjicherheit ein ausgebehnter Handeld
verkehr möglich gewefen. Hefte Handelsgejellichaften, auf längeren
Zeitraum zum Betrieb bejtimmter Geſchäfte gegründet, finden ſich
fhon im 13. Jahrhundert (Gerdi, Bardi). Ein Theil der socü
vertrat die Intereſſen der Gejellihaft an auswärtigen Plätzen. Man
begreift, daß in dem fo ſich entwidelnden Verkehr das bequeme
Zahlungsmittel der Tratte (lettera di pagamento) raſche Verbreitung
fand. Sie ift aus der regelmäßigen kaufmänniſchen Korrefpondenz
naturgemäß erwachſen. Schon 1291 herrſcht ein lebhafter Tratten
verkehr zwiſchen Zlorenz, Rom, England und den Champagner
Meſſen. Schaube?) ift zu der Anficht gelangt, daß die Rechtsgültig⸗
feit diefer privaten Zahlungsbriefe bereitd im 13. Jahrhundert an-
erfannt worden jei, während Goldſchmidt dies erft für das 14. an
genommen hat. Bei diefer Entwidlung fchreitet Florenz, Toskana,
voran. In dem bier herrjchenden ungemein Iebhaften ®eldverfehr
bildet ji) der Gebrauch des Wecjjelbriefd und zugleich die Stellung
der vereidigten Makler am jchnelliten aus, während an andern Orten,
3. B. in Genua, nod) die umjtändlide Mitwirkung des Rotars beim
Wechſelgeſchäft üblich ijt. Ein ähnliches Verhältnid beobachtet Schaube
auf einem anderen für die Gefchichte ded Handeld- und Seeverkehrs
wichtigen Gebiete, dem des Verſicherungsweſens.) Die Genueien
1) Die pijanifhen Consules mercatorum im 12. Jahrhundert. Jtfcr.
f. Handelsrecht 41 (1893), 2 fi.
») Einige Beobadjtungen zur Entjtehungsgeichichte der Tratte. Ziſcht.
der Savigny-Etiftg. f. Rechtsgeſch. 14, 1 1893 (germ. Abtb.), 111 ff.
3) Der Übergang vom Berjicherungsdarlehn zur reinen Verſicherung
Jahrbücher j. Nationalötonomie u. Statijtit 61 (3. 3. 6, 1898), 481 fi.
336 Literaturbericht.
noch heute in großem Anſehen ſtehenden Kreditinſtituts ift hier mit
umfafjender Benußung der jienefer Archive von Narcijo Mengozzi in
vier großen Duartbänden bearbeitet. Dean hat das Thema möglich
weit gefaßt. Den Ausgangdpunft bildet nidht die Gründung bes
Monte pio und de8 Monte dei Paschi von 1569 und 1624. Ver
ganze 1. Band tft vielmehr der Vorgeſchichte von 1200 bis 1555
gewidmet und enthält zahlreihe Mittheilungen von allgemeinen
Intereſſe über den ältejten Betrieb des Bankgeſchäfts in Siena, die
Stellung der Juden, S. Bernardino, die finanziellen Beftrebungen
der Stadt, ihre Schuldenverwaltung und ihre erjten öffentlichen
Kreditinftitute. In diefen Zufammenhang werden und auch bie
politiihen Wandlungen deutlicher, die Siena bid zum Sturze der
Republik durchlebt Hat.
Viel früher als die Städte Toskana haben die norditalienijchen
ihre Freiheit verloren. Schon glei) nad Beginn de 13. Zahır
hunderts bereitete jich im öſtlichen Oberitalien die Tyrannis vor.
Die inneren Kämpfe in Verona haben dazu am meisten beigetragen.
Unſere Vorſtellung von den Veronejer PBarteiverhältniffen, wie fie tih
in den ziwanziger Jahren des genannten Jahrhunderts geitalteten, it
eine wenig flare. Auch Walter Lenel vermag in feinen „Studien
zur Gefhichte Paduas und Veronas im 13. Jahrhundert“ ?) den
Schleier nicht völlig zu heben. Immerhin gibt er eine fehr am
nehmbare neue Erklärung für die Partei der „Vierundzwanzig“, in
denen man biöher eine Vertretung der Popolanen gejehen hat. Er
identifizirt fie nämlich mit jenen Adeligen, die laut Bericht der Vero⸗
nejer und Baduaner Quellen im Jahre 1225 vom Grafen von
S. Bonifazio abfielen und mit deſſen Feinden, den Montecdıi,
gemeinfame Sadye machten. Der Graf wurde verjagt, Ezzelin IIL der
Weg zur Madıt gebahnt. In den folgenden Wirren hat nad L. die
lombardijche Liga eine vorfichtige Vermittelungspolitif eingehalten,
die in der Gründung ded „Sonderbunds“ von 1231 gipjelt, ſchließ⸗
lich aber den Übertritt Ezzelin's und damit Veronad zum Kaijer
nicht verhindern fann. — Ber Schwerpunft liegt im erjten Theil
1891. 11 u. 310 S. Vol. U: Ricostituzione dei monti di Piotà e dei
Paschi (1555 —1624). Ebenda. 1891. 10 u. 823 S. Vol. III: I monti
dei Paschi e di Pieta riuniti (1624—1642). Ebenda. 1892. 6u. WTE.
Vol. IV: I monti di Pieta e dei Paschi, espansione lenta e laborioss
della loro attivitä (1643—1787,. Ebenda. 1898. 10 u. 544 ©.
1, Straßburg, Karl J. Trübner. 1893. IV, 86 ©.
338 Literaturbericht.
Faba!) geben Zeugnis von der Betriebſamkeit, Die bei den Vertretern
dieſes Baches herrſchte. Sie find uns zugleich werthvolle Urkumden
der Rulturgefchichte im meiteften Sinne. Carl Sutter.
Lettere e documenti del Barone Bettino Ricasoli, pubblicati
per cura di Marco Tabarrini e Aurelio Gotti. Vol. VIII. Firenze,
Successori Le Monnier. 1893.
Der neue Band der Sammlung -von Ricaſoli's amtlicher und
privater Korreſpondenz begreift die kurze, aber inhaltvolle Zeit vom
Suni bis Oftober 1866, vom Ausbruch des Krieg bis zum end
lihen Friedensſchluß. Mit dem Zage der Striegderklärung war
Ricafoli, ald Mann bes allgemeinen Vertrauens, wieder an die Spipe
der Regierung getreten. Die preußiſche Allianz war das Werk der
vorigen Regierung geweſen, wir erfahren über fie nichts Neues, wie
denn auch die widhtigiten der in diefem Bande mitgetheilten Brieie
und Depejchen bereitd früher gedrudt find. Dies gilt namentlid
von dem lehrreichen Berichte des Gejandten Nigra an den Prinzen
von SavoyensCarignan dom 23. Juni, der die Beweggründe ber
Bolitif Napoleon’d mit wünjchenswertheiter Deutlichleit im Zufammer
bang entwidelt, und von dem Briefe Ricafoli’d an Nigra vom 9. Zuli,
worin die Verlodung Napoleon’3 zum Treubruch, zum Abjall vom
preußifchen Bündnis in den entjchiedenften Uusdrüden als ehr: und
treuwidrig zurüdgewiejen wird. Die perfetta solidarietä fra i due
governi alleati blieb unverrüdbar die Richtſchnur feiner Politik
Leider iſt die Korreſpondenz von preußifcher Seite ſehr lüdenhait
mitgetheilt, während dad Verhältnis zu Frankreich fi von Tag zu
Tag verfolgen läßt. Es war dod nidht bloß moraliihe Gewiſſer⸗
baftigkeit, wenn Nicafoli die öſterreichiſch-franzöſiſche Lodung zurüd⸗
wies; es wirkten jtarfe politiide Gründe mit. Sein patriotijcher
Stolz empfand die Zumuthungen des franzöfiichen Protektors, unter
defien Aujpizien auch das preußifche Bündnis abgefchlojfen worden
war, auf unmuthigfte, er hoffte mitteljt des Kriegs die Befreiung
von diejen drücdenden Feſſeln; auch konnte ed nicht im Intereſſe
Italiens jein, felbjt wenn ihm Venetien jicher war, durch Rücktritt
Aulturgefhichte im 13. Jahrhundert. Freiburg i. Br. und Leipzig, Alad
Verlagsbudhhandl. von J. C. B. Mohr (Paul Siebed!. 189. 128 ©.
ı Agofto Gaudenzi veröffenılichte im Propugnatore, N. S. IH (18%;
1, 287 fi., 2, 345 ff. die Summa dictaminis; ebenda V (1892) 1, 86 fl,
2,58if.: Dietamina rhetorica; ebenda VI(1893) 1,869 ff; 2, 373 fj.: Epistole.
344 Literaturbericht.
verſtändlich; doch beſchränken ſie ſich diesmal auf ein Minimum; ſo
etwa ©. 121 Zuminghen für Zumjungen, oder ©. 123 Brunius für
Bruyninx. Trot aller biefer Einwände und Bemerkungen ift das Bud)
intereflant und auch gut gefchrieben. Bf. verwendet mit Glüd An⸗
fpielungen auf moderne engliihe Verhältniſſe zur Belebung der Dar
itellung und weiß dort, wo ihm der Stoff nicht über den Kopf wächſt,
vortrefflid) zu jchildern. Ein gutes Regiſter fehlt ebenfalls nicht.
O. Weber.
Maria Joſepha Amalia, Herzogin zu Sadfen, Königin von Epanien.
Bon Konrad Haebler. Dresden, W. Baenſch. 1892.
Eine im Jahre 1889 in Begleitung des fächfifchen Prinzen
Friedrich Auguft unternommene Reife nad) Spanien hat dem Bi.
Unlaß und Gelegenheit gegeben, Materialien zu einem Leben3bilde
der früh veritorbenen dritten Gemahlin Ferdinand’8 VII. von Spanien
zu fammeln, dad zugleih Anſpruch darauf erhebt, ein Beitrag zur
Geſchichte Spaniens unter der Regierung diejed Königs zu fein und
die parteilich entitellte Gefchichte der jpanifchen Revolution in manchen
Theilen zu berichtigen. Die Schilderung, weldye H. von dem Charalter
Ferdinand's VI. entivirft, ift weit günftiger als die bei Baumgarten
und Anderen; bejonderd hebt er deſſen Harmloſigkeit hervor und
fchiebt alle Schattenfeiten desfelben auf die verderbliden Einflüfie,
die in der Jugend auf ihn eingewirft Hatten. Jedenfalls erweiſt
ſich aus den Briefen wie aus den in fpanifcher Sprahe an ihren
Gemahl gerichteten Gedichten der jungen Königin die Angabe, als
ob die Königin Joſepha an feiner Seite ein freudlofes, unglüdliches
Leben geführt habe, als irrtHümlih. Kann auch von einem bemwußten
Streben nach politiihem Einfluß bei ihr nicht die Rede fein, fo hat
jie doch, befonder8 dur die Oppojition, welche jie der Camarilla
machte, einen heilfanıen Einfluß auf das Regierungsiyitem ausgeübt,
der freilich weder tief noch dauernd geweſen fein fann, da bie
Schreckniſſe der Revolution ihre an ſich zarte Geſundheit erfchütterten
und ihren Tod beichleunigten. Th. Flathe.
Die Jeſuiten-Republik in Paraguay, eine Pombal'ſche Lügenfcrift. —
Kurge Nahricht von der NRepublique, jo von denen R. R. P. P. der Gefell-
haft Jeſu.... aufgerichtet worden... . Herausgegeben von Dr. H. Baum
gartner. Wiener Neuftadt, Selbftverlag de8 Herausgebers. 1892. 107 ©.
Ref. muß gejtehen, daß er nicht im Stande war, irgend eine
Ausgabe des Originald der vorliegenden Ylugfchrift oder aud nm
846 Riteraturberidt.
Bedeutung haben, welche ihnen der Vf. in dem Titel feined Buches
beizulegen jcheint. Nicht ebenfo gelungen ift der andere, gefchichtlid
weit interefjantere Theil der Arbeit, die Biographie des Jacques be
Rinierd. Sch bin erftaunt gewefen, daß der Vf. unter feinen Quellen
gerade dasjenige Werk nicht aufführt, welches am eingehendften und
gründlichften unter Benutzung eines noch weit reicheren Materials,
als ed dem Bf. vorgelegen, die Geichichte der Regierung des Liniers
und des Ubfalle8 von Bueno3-Ayres behandelt. Es ift dies die In-
troduccion der Historia de la Republica Argentina von 8. 3.
Lopez), worin allerdings ein wejentlid) anderes und minder günftiges
Urtheil über Linierd gefällt wird Dadfelbe mag gewiß zu einem
nicht geringen Theile von amerikanischer Selbftüberfhäßung beeinflußt
fein, immerhin aber bleibt es bedauerlih, daß der Bf. zu der dort
niedergelegten Auffafjung nicht Stellung genommen bat, um fo mehr,
als Lopez die Vorgänge, weldye unter der Verwaltung von Liniers
die Losreißung Argentiniens vorbereiteten, noch von mandyen Stand
punkten aus beleuchtet, die dem Bf. entgangen zu fein ſcheinen. Frei⸗
li ift die Arbeit von Lopez felbit in der gelehrten Welt jo wenig
befannt, ihre Lektüre jchon wegen ihre3 Umfanges jo wenig bequem,
daß dem Bf. das Verdienſt nicht bejtritten werden fann, die Perſön⸗
lichkeit diefe8 Franzoſen in ſpaniſchen Dienjten weiteren Streifen be
fannt gemadt zn haben; die Wiſſenſchaft dagegen kann nicht umhin,
zu beflagen, daß die von Lopez entworfene Charakteriſtik durchaus
nicht widerlegt und ein abjchliegendes Bild diefer interefjanten Per:
ſönlichkeit noch immer nicht gewonnen ift. Haebler.
Die Kunftdenfmale ded Königreich Baiern vom 11. 618 zum Ende dei
18. Jahrhunderts. WBeichrieben und aufgenommen im Auftrage des gl.
Staatsminifterium® des Innern für Kirhene und Schulangelegenheiten.
1. Band: Die Kunftdentmale des Regierungsdbezirtes Oberbaiern. Bearbeitet
von Guſtav v. Bezold und Dr. Berthold Riehl unter Mitwirtung anderer
Gelehrter und Künftler Mit einem Atlas von 150—170 Lichtdruck md
Photogravuretafeln. Lieferung 1.) Münden, of. Albert. 1892.
Bon dem 1. Bande dieje auf eine Reihe von Tertbänden und
Atlanten zu berechnenden Werles liegen dem Ref. nur drei Bogen
und zehn Abbildungstafeln vor. Sie geben nad) einer kurzen Ein
leitung, welche den Plan entwidelt und über die oberbaierifche Kunfi
1) Buenod:Ayres 1888. 2 Bde. .
2) Inzwiſchen find auch die Lieferungen 2—9 erfchienen.
Notizen nnd Nachrichten.
J
Die Herren Verfaſſer erſuchen wir, Sonderabzäge ihrer in
Seitfchriften erfchienenen Auffäge, welche fie an diefer Stelle
berüdfichtigt wünfchen, uns freundlichfi einzufenden.
Die Hedaltien.
Allgemeines.
Eine interejjante Zeitihrift verfpreden die „Biographiſchen
Blätter”, herausg. von A. Bettelheim (Berlin, E. Hofmann u. &o.), zu
werden, deren beide erfte Hefte uns vorliegen. Ein Efiay von U. Dove
über „Ranfe’8 Verhältnis zur Biographie“ in der befannten
etwas pretiöfen aber immer geijtvollen Weiſe des Verfafſers leitet bie
mit den Jahren zunehmende Wbneigung Ranke's gegen biographiide
Behandlungsmweife ſehr feinfinnig einerfeit8 au8 feiner Scheu vor dem
geheimnisvollen und unbemwußten Leben des Individuums, das mur
dem Dichter, aber nicht dem Forſcher ſich ganz öffne, ab und andrer⸗
jeit8 aus feinem Charakterzuge, die ganze individuelle Kraft einzujegen
in der Betrachtung der hiſtoriſchen Welt, ein Charalterzug, der noth⸗
wendig zurüdwirten mußte auf die Art, wie er jene betradtete. Der
jlahe Aufjag Ludwig Stein's, Zur Methodenlehre der Biographil, macht
an ſich jelbit jein Wort recht zur Wahrheit: „Vielfach iſt es ja nur das
geiitige Milieu, das im Philoſophen ala feinem typiihen Nepräfentanten
denkt.” Wir erwähnen noh A. E. Schönbach's Aufſatz „Über ben bi»
graphiihen Gehalt des altdeutihen Minnefanges“ (ijt geneigt, ihn nament-
ih für die Frühzeit höher zu ſchätzen, wo der Minnefang, wie er meint,
wejentlic von Minifterialen gepflegt wurde); einen für die Geſchichte ber
Aufllärungsideen in ſterreich ganz interejianten Entwurf Joſef Schrey⸗
vogel's zu einer Wiener Hof- und Staatäzeitung (1796); eine Rede auf
Sceffel von 3. Bernays und einen jehr anziehenden Nachruf ©. F.
Knapp’? auf Georg Hanjien. Das zweite Heft enthält eine warm
350 Notizen und Nachrichten.
Unter dem Titel Bibliotheca geographica tft der 1. Band
einer neuen Publikation erfchienen, die eine Überfiht über die auf dem
Bebiete der Geographie erjchienenen Bücher, Aufjäbe und Karten gewähren
fol, wie fie früher von der Gefellichaft für Erdkunde in Berlin im Anſchluß
an ihre Zeitichrift gegeben wurde. Der Herausgeber O. Baſchin, Berlin W.,
Scintelplag 6, fordert zu Einjendung oder Namhaftmachung einichlägiger
Arbeiter auf.
Unter dem Titel: I campi Flegrei gibt 8. Annedino in
Stalten eine neue tlluftrirte Tokalzeitfchrift, die der Geſchichte der Umgegend
von Pozzuoli gewidmet ift, heraus. — Auch in Venedig erfcheint jeit kurzem
eine neue Monatsſchrift: Nuove veglie veneziane (Preis jährlid
12 Lire). — De Roſſi's Bullettino di archeologia cristiana wird fortgejeßt
von feinem Bruder in Gemeinihaft mit E. Stevenfon und Dr. Marucdi
unter bem Titel: Nuovo bullettino di archeologiacristiana
In Madrid erfcheint feit März eine neue Monatsichrift: Historia
y arte, beraußg. von Adolfo Herrera (Preis 35 Fres. jährlich).
In Ehartres gibt der Kanonikus Mét ais unter dem Zitel: Archives
historiques du dioc&se de Chartres eine neue, monatlih er
jheinende Publikation heraus, die hauptſächlich zur Veröffentlichung de#
betreffenden Urkundenmaterials beitimmt ijt (Preis jährlih 10 Fred.)
Die Verlagsbuhhandlung von Leop. Voß in Hamburg hat das 1. Heft
einer neuen Monateihrift „Die Handſchrift“ herausgegeben (Preis
vierteljährlih 2 M.). Sie fol auch Hiltoriihe und kritiihe Beiträge zur
Entwidlung der modernen Kurrentſchrift bringen. In der Hauptſache aber
it e8 ein Irgan für die jog. moderne Graphologie.
In jeinem Aprilheft 1895 Hat das Storrefpondenzblatt des Geſammt⸗
vereind 2c. eine neue Abtbeilung „Aus ben Mujeen“ eingerichtet, die,
regelmäßig durchgeführt, eine nützliche Überficht über neue Funde zc. zu
geben verjpridt.
Zu der Frage: Brofefioren der Kulturgeihihte? nimmt nod
K. Biedermann dad Wort in einem Heinen Artikel im Feuilleton der
Nat.Ztg. vom 11. April, indem er jich zujtimmend zu dem Wunſche Stein
hauſen's (vgl. 74, 527) äußert. Er madıt dafür beſonders geltend, daß
neuerdings Schüler und Lehramtskan didaten in Kulturgeichichte geprüft
würden, aljo au auf der Univerjität für den Unterricht in Kulturgefchidte
gejorgt werden müſſe. Aber in den betreffenden Prüfungsreglements if
doh nur eine auch die kulturgeſchichtliche Seite der Geſchichte berüd⸗
ſichtigende geſammtgeſchichtliche Behandlung gemeint, nicht ſpeziell „Kultur
geſchichte“.
In der Beilage der Münch. Allg. Ztg. vom 17. Mai gibt L. Wolf
eine Beiprehung des Budes von C. Ammon: Tie Gejellichaftsorbunng
352 Notizen und Nachrichten.
In der Nähe der Liſcht-Pyramiden find von ben Franzofen Gautier
und Jequier Ausgrabungen veranftaltet und namentlich eine Reihe von
Statuen Ufurtefens I. gefunden. — Morgan hat in der Nähe der Dashur:
Pyramiden eine Reihe fehr alter Maftabas (Gräber von Beamten 2c.), wahr
ſcheinlich aus der 4. Dynaftte, aufgededt. Wbbildungen der neueren von
ihm gefundenen Schmuditüde findet man im Graphic vom 4. Mai. Neben
den großen Yunden De Morgan’8 bei Dashur find aud die von bem
engliihen Egypt Exploration Fund bei Der el Bahri fortgefegten Aus:
grabungen in der legten Saijon wieder ziemlich erfolgreich geweien. Der
Zempel am Begräbnisplag der Königin Hatshepſu ift freigelegt und hat
Architekturreſte und jonjtige Fundſtücke aus der 18. Dynaftte ergeben, darunter
Nelieffrieg mit Darftellungen aus dem Leben und Lande des Königs vom
Punt. Namentlih ift aber an derfelben Stelle auch ein ausgedehnter Be
gräbnisplag aus fpäterer, koptiſcher Zeit (4. Jahrh. n. Chr.) gefunden, und
auch aus diefer Zeit jind in den Särgen Papyrusrollen, Bronzen und
Skulpturen zum Vorſchein gelommen.
Ein hübſcher Artifel von &. Ebers in der Beilage der Münchenet
Alg. tg. vom 29. März: „Wie das neue Ägypten gut madıt, was es en
dein alten verſchuldet“, madt Mittheilung über den kürzlich erjchienenen
1. Band der großen Yublifation, die auf Anregung De Morgan’d und unter
Protektion des jegigen Chedive die Abbildungen ſämmtlicher noch erhaltenen
(unbeweglihen) altägyptiſchen Denkmäler nebſt Inſchriften bringen ſoll
(Catalogue des monuments et inscriptions de l'’Egypte antique).
Zugleich gibt Verfaſſer eine Überjicht über die bisherigen großen ägyptiſchen
Denfmälerpublitationen, die num durch da8 neue große Sammelwerk erjept
werden jollen.
Die Ztihr. für ägypt. Sprade und Alterthumskunde 32, 2 beginnt mit
einem Nachruf für Brugſch von U. E(rman) und bringt dann eine nad»
gelafjene Arbeit von Brugſch: Die Pithomitele (Publikation und Er:
läuterung der Inſchrift). Im folgenden gibt 2. Borchardt eine Fortſetzung
feiner Unterfuhungen „Zur Gejhichte der Byramiden“ (Bemerkungen über
den Namen der dritten Pyramide bei Gizeh und zur Baugeſchichte der
Knick-Pyramide bei Dashur). Endlich erwähnen wir als hiſtoriſch bemertent
werth aus dem Heft noch einen Artikel von Ed. Mahler: Materialien zur
Chronologie der alten Ägypter (hronologiſche Beſtimmung der Regierungb-
zeit der Rameijiden, mit einer Überjichtstabelle der Anjäge für Amoſis bit
Ranıjes VI. |1575—1198 v. Ehr.)).
In Maspero's Recueil 17 1/2 veröffentliht AU. Moret einen Artikel:
Une fonction judiciaire de la XIL dynastie et les chrematistes
ptol&imaiques Antnüpfung diefer Funktionäre der Lagiden an Vorgänger
in der 12. Dynaſtie. Aus demjelben Heft notiren wir noch zwei Artilel
von 8. Maspero: Notes, sur differents points de grammaire et
354 Notizen und Nachrichten.
getreu abgedrudt; war es denn nicht möglich, diefe Schreiben bezw. eines
berjelben nad dem Original aus den Alten bes Minifteriums zu geben?
Ferner werben in geradezu ärgerliher Manier fat alle Heineren Verſehen
oder Verſchreiben, als ob es ſich um alte Urkunden handelte, getreulich ab»
gebrudt, mit einem «fo» dahinter („au8“ für „auch“, „fie“ für „Sie* x.
In diefer verehrt verftandenen Akribie und in diefem Mangel an Urtheil
über wirkliden Werth oder Unwerth der Stüde, man möchte jagen, in
diefem Mangel an jeder Fühlung mit dem allgemeinen Geiſtesſsleben unferer
Zeit, repräfentiren fi) die beiden diden Bände als rechter Typus für bie
klaſſiſche Philologie unferer Tage. Das muß gegenüber überſchwänglichen
Verherrlichungen, wie jie beijpieläweije Kammer in der Friedlaender' ſchen
Feitihrift (vgl. die folgende Notiz) äußert, ofien gejagt werden. Bon
Männern, beren Briefe an Lobed oder Lehrs mitgetheilt werden, find
namentlih Joh. Heinr. Voß, Bottir. Hermann, Lachmann, Meineke
und Ritſchl Hervorzuheben; daneben noch etwa Pindorf, Zumpt, Naud,
Köchly, Haupt, 2. Preller, Zul. Schmidt, Fr. Zarnde; doch find die Briefe der
legtgenannten, wie auch die meilten von ©. Hermann, nit von bejonberer
Bedeutung, und vollends von einem jo langweiligen Manne, wie dem Philos
logen Nitzſch, an deſſen gedrudten Werten wir ſchon mehr als zu viel haben,
brauchten wahrlid nicht auch noch gleihgültige Briefe abgebrudt zu werden.
Für Hiftorifer von Intereſſe find noch einzelne Briefe von 8. W. Nißſch.
dem SHiitorifer, und U. v. Gutſchmid; dazu friihe, temperamentvolle
Briefe an Lehr? von J. Horkel, dem Autor bed 1. Bandes ber Ge
ſchichtſchreiber der deutſchen Vorzeit. In philologiſcher Hinſicht das
Bedeutendſte der ganzen Publikation find die Briefe von Lachmann an
Lehre, aus denen allerdings ſchon Einzelnes befannt war, die aber jept im
Zujammenhang ein vollftändiges Bild von der Ausbildung der Lachmann⸗
ihen Anjichten über die homeriſchen Gedichte gewähren, eine höchſt bedeu-
tende und willlommene Ergänzung zu feinen „Betradtungen“. Auch bie
Briefe von Ritjhl und Meinete bieten manches Intereſſante. Endlich
ein Brief wie der große von Joh. Heinr. Voß an Lobeck (Nr. 31) wiegt
Tugende von andern auf. Aber um fo bebauerlidher ijt eben, ba diet
wirklich Bedeutende in der Menge de3 Gleichgültigen verſchwindet. — Ein
„Perjonenverzeihnig“, das fi verjtändigerweife nicht auf Berjonen
beichränft, befchließt die Publikation. Erwünſcht wäre noch eine überfidyt
lihe Zufammenjtellung der Briefiteller und der Adreſſaten ber Briefe
gemejen.
Zum 50jähr. Doltorjubiläum 8. Friedlaender's haben Freunde
und Schüler ihm eine Feſtſchrift gewidmet (Leipzig, Hirzel, 1896. 554 &..
In einer längeren Abhandlung, die und daraus zugeht, behandelt
Ei. Klebs: Tas lateiniihe Geſchichtswerk über den jüdiſchen Krieg, ben
jog. Hegelippus. Bf. jtellt in eingehender linterjuhung des Inhalts und
der Sprache jeit, dab wir das Werl weder ald liberjegung nod als
356 Notizen und Nachrichten.
de3 Großen. — Ed. Zarnde: Zur griechiſchen Kunjtproja iu Griechen
land und Rom. — ®. v. Boigt: Quo anno Agrippa expeditionem
Bosporanam fecerit (15 v. Chr. Beiprehung der Jahre 16—13 v. Ghr.).
— €. Eihoriud: Zu den Namen der attiihen Steuerflafien. — €. Th.
Fiſcher: Quaestionum Scylacearum specimen. — €. Thoſt: Ad
papyros titulasque Graecos symbolae. — ©. Bodid: Zum Publicols
de8 Plutarch. — €. Kyhnitzſch: De Jadis apud Dionem Cassium
vestigiis. — M. Thiel: Eudoxeum (Benupung des Eudorus dur Bitrw
vius mitteld einer Arat⸗Ausgabe.
Einen Beitrag zur Vorgejhichte bed europäiſchen Familienrechts gibt
3. Bernhöft in der Ziſchr. f. vergleihende Rechtswiſſenſchaft 11, 3
in einem Aufjag über „Ehe und Erbredt ber griehifhen Heroenzeit”.
Er betont namentlich da8 Vorkommen bed Erdienend ber Braut bei den
Griechen wie bei anderen Völkern (Otbryoneus, Bellerophon, Eigfried x.).
Die Frage ift nur, inwieweit dieje naturgemäß überall zu trefiende Form
des Werbens als ein wirklicher Rechtsbrauch und allgemeinere Sitte zu be
traten ift, und da ſcheint und Bf. in feinen Schlüffen zu jchnell zu jein.
Auch fonft ijt er in feiner Verwertfung von Mythos und Sage! und in
jeinen Vergleichen, jo betr. der BZigeunerehe, nicht vorfihtig genug und
gelangt daher zu problematiihen Ergebnifien. Auf diefem Felde ſteht zu
nächſt der von Bernhöft vernadläjfigten vergleihenden Sprachforſchung dat
Wort zu, und nur in Anlehnung an ihre Ergebnifje können Unterfuhungen
wie die bes Bf. Frucht bringen.
Den größten Theil des neuen Heftes des Journal of Hellenic studie
14, 2 jült eine höchſt bedeutſame Abhandlung von A. 3. Evans über
feine Entdedung einer alttretijhden Bilderſchrift: Primitive picte
graphs and a praephoenician script from Crete and the Peloponnese
(mit zahlreichen Abbildungen und Tabellen der bilderjchriftlidden Charattere).
Dieſe Abhandlung wird grundlegend für die weitere Forſchung auf biejem
Gebiet bleiben und ſich auc für die ethnographiſchen Anſchauungen über
die alte Welt von Bedeutung ermweifen. Berfafler bdatirt die altkretiſche
Bilderihrift bi zur 12. ägyptiihen Dynaftie (3. Jahrtauſend v. Chr.)
zurüd und fchreibt fie mit Entſchiedenheit bereit8 der vorgriechiſchen Bes
völferung zu, ein höchſt bemerkenswerthes Ergebnis. (Bgl. dazu auch einen
Artikel von 2. Mariani in der Academy Pr. 1191.) — Wir erwähnen aus
dem Heft de3 Journal noch eine mythologiiche Studie von A. G. Bather:
The problem of the Bacchae und eine gemeinjdhaftlide Arbeit von
Baton, Myres und Hid8: Three Karian sites: Telmissos, Karyanda,
Tarampos (mit einer Juſchrift von Telmeſſos).
Sn dem Gebirgsthale Kufuneri unweit Ikaria hat Profeſſor Richard⸗
jon vom amerikaniſchen ardhäologijchen Inititut Fragmente eined griedi-
ihen Opferkalenders aus dem 4. Jahrhundert gefunden.
358 Notizen und Nachrichten.
Balaftes und Überreiten aus der legten Epoche mykeniſcher Kultur, noch
bein Berfafler Werte der Minyer, die wahrſcheinlich den eindringenden
Böotern zum Opfer fielen. Vgl. dazu F. Road in den Wittbeilungen bed
athen. Inſtituts 19,4: „Urne“, gleichfalls eine lange Abhandlung über
Gha, die aber in ihren Phantafien über die Minyer zu weit gebt). ES
folgen in dem Hefte noch mehrere Injchriftenpublifationen: Inscriptions
de l’eparchie d’Almynos (elf Nummern) von N. 3. Gtannopoulo®:
’Eriygagai ix Avsias (34 Nummern) von X. S. Diamantaras; Inscrip-
tiones duae musei Surutchaniani (in Beharabien) von B. Latyſchew.
Endlih den Beſchluß maht eine Notiz von Th. Homolle: Nouvelles
signatures du sculpteur Eutychides.
Ein Aufjag von U. Köhler in den Sigungdber. der Berliner Alad.
der Wiſſenſch. Nr. 25: Die atheniihe Tligarchte des Jahres 411 v. Chr. judt
darzulegen, was über diefen Gegenitand aus ber 49. noA. zur Ergänzung
und Verbefierung des thukydideiſchen Berichts zu gewinnen tft.
In dem nachträglich audgegebenen Heft 12, 1894, der Fledeiſen'ſchen
Jahrbücher findet fih ein Artilel von %. Sufemihl: Zur Politik des
Ariftotele8 (gegen Wilamovig gerichtet, Über die Abfolge der Bücher der
Politik, und über Pol. 2, 12 und das gegenjeitige Zeitverhältnid der Politit
und ber Roliteia der Athener). — Aus demſelben Heft notiren wir noch ben
Schlußartikel von H Pomtow's Fasti Delphici (überſichtstabelle über die
Archontate der Amphiktyonendekrete und Nachträge) und Meinere Artikel
von J. Mülleneiſen: Beziehungen zwiſchen dem Sonnenjahr und dem
bürgerlichen Mondjahr der alten Griechen; von F. Reuß: Iſokrates“ Ban:
egyrikos und der kypriſche Krieg (gegen G. Friedrich, vgl. unſere Notiz 74, 341
und von U. Weidner und P. R. Müller: Zu Tacitus (theilwetje recht
verfehlte Konjefturen:. — Aus dem 2. Heft ded Jahrgangs 1895 ber Jahr⸗
bücher ift nur eine metrologijche Unterfuhung von F. Hultſch zu notiren:
Drei Hohlmaße der römischen Provinz Hgypten.
Ein Nrtitel von M. Fränkel im Philologus 54,1: Das große Sieget:
dentmal Wttalos’ des Erſten, wendet ſich gegen die Aufftelungen von
9. Gäbler und hält daran jejt, daß da3 Denkmal den im Jahre 228 beendigten
Krieg gegen Antiochus und die Galater, in welchem Attalos von Pergamon
den Feind in jieben Schlachten befiegte, feiert. — In demielben Heft fe
©. Brud feine Studien „Über die Urganifation der athenifhen Heliaiten:
gerichte im 4. Jahrh. v. Chr.“ fort, indem er die Heliaftentäfelchen behandelt;
€. Sudhaus gibt neue „Erkurje zu Philodem“, und R. Förſter pubfizirt:
Anecdota Choriciana nova. Wir erwähnen endlid aus dem Heft noch
Nrtitel von J. Bannad: Zu den Inſchriften aus Epidaurus (Kritik dei
Werkes von P. Kabbadias: Fouilles d’Epidaure) und von R. Maſchke:
Tas ältejte Fragment der römiihen Stadbtchronift ‚sc. aus dem Jahre 304
bezw. 321 bei Plinius, Hiet. nat. 33, 6, 17 fi. durch Vermittelung bei
Valerius Antias).
8360 Notizen und Nachrichten.
im vorliegenden Heft zunädjt von 1884 bis 1891, woran fi dann ein
zweiter Artifel Über die Jahre 1892 und 1893 fchließen fol.
Die Leipziger Studien 17, 1 enthalten eine umfangreiche Abhandlung
von ©. Bockſch: De fontibus libri V et VI Antiquitatum Romanarum
Dionysii Halicarnassensis quaestiones variae (Hauptquelle, theils birelt,
theil8 indirekt, ift nad dem Berfafier Balerius Antias, aus dem auf
Licinius Macer und eine dritte daneben von Dionys benugte Luelle
bereit3 jchöpften).
An den Wiener Studien 16, 2 wird von B. Vogt „Hypereides' erfte
Rede gegen Athenagoras“ neu publizirt und erläutert. In demjelben Heft
findet fi eine Miscelle von W. Kubitſchek: Die Tribus ber claudiſchen
Städte (die mauretanifhen Neubürgergemeinden wurden in bie Duirine,
die übrigen in die Claudia aufgenommen).
Die von uns in den Notizen wiederholt erwähnten Artikel &. VBoilfier’s
über l’Afrique romaine, die zuerft in der Revue des deux mondes
veröffentliht wurden, find jetzt aud vereinigt in Buchform erfchienen:
Gaston Boissier: l’'Afrique Romaine. Promenades ar-
ch&eologiques en Algerie et en Tunisie. Paris, Hachette
et Cie. 1895. 321 ©. Das Ganze gibt in angenehm ledbarer Yorm eine
Überficht über das, was die Römer als Kolonifatoren und Kulturträger in
Nordafrita geleiftet Haben und was die. neuere, namentlih franzöſiſche
Forſchung für die willenfchaftlihe Rekonſtruktion jener Periode in ben
legten Dezennien getan bat. Wir heben bier namentlich noch einmal den
Abfchnitt Über die agrariichen Verhältnijie unter den Römern (les cam-
pagnes) und die Darftellung der Ergebniſſe der Musgrabung ber alten
Stabt Timgad hervor, über die eine befondere Bublikation in Paris augen»
blidlih im Erſcheinen begriffen iſt (Timgad, une cit6 africaine sous
l’empire romain. Paris, Leroux). Beigegeben find dem Buche je zwei
Meine Pläne von Carthago und von Timgad.
Sn den Melanges d’archeologie et d’histoire 14, 5 jegen ©. Gſell
und 9. Sraillot ihre arhäologiihen Mittheilungen aus Wlgier fort:
Explorations archöologiques dans le departement de Constantine
(Algerie,, und zwar behandeln jie diesmal: Ruines romaines au nord
des monts de Batna (Inſchriften, 64 Nummern, und Arditelturreite, mit
zahlreichen Abbildungen und einer Karte).
In der Revue archeologique 26, 1 veröffentliht Ph. Berger über
das in Tripoli® aufgefundene neupuniihe Grabdenkmal (vgl. die Notiz
74, 160) eine genauere Tarjtellung: Le Mausolee d’El-Amrouni, mit Abs
bildungen des Reliefs und Facſimile der Inſchrift.
Aus der Zeitſchr. f. Sozials und Wirthſchaftsgeſch. 3, 2 notiren wir
den Anfang einer Abhandlung von U. Schulten: Die römiſchen Grund⸗
362 Notizen und Nachrichten.
jcheinlih an die Theodora Komnena, die Nichte und Mätrefie des Kaiſers
Manuel gerichtet).
Aus dem neueiten Heft der Byzantiniſchen Zeitichrift 4,2 begnügen
wir uns zwei Ubhandlungen zu notiren, von 8. Brädter: Eine vulgär-
griehifhe Paraphraje der Chronik des Konſtantinos Manaſſes, und von
J. Draeſeke: Der Möndh und Presbyter Epiphanios (lebte in der zweiten
Hälfte des 8. Jahrhunderts).
Bene Bäder: Mude, Horde und Famiilie in ihrer urgefchichtlichen
Entwidlung. (Stuttgart, Ente) — La Ville de Mirmont, Apollonios
de Rhodes et Virgile. La mythologie et les dieux dans les Argo-
nautiques et dans l'’Eneide. (Paris, Hachette.) — $reeman, Geld.
Siziliend. Deutiche Ausgabe von B. Lupus. L (Leipzig, Teubner.) —
v. Holzinger, Lykophron's Alexandra, griech. u. deutſch. (Leipzig, Teubner.)
Wömifh-germanifhe Seit und Mittelalter Bis 1250.
Us Heft 210 der Sanımlung gemeinverftändliher wiſſenſchaftlicher
Vorträge fit eine Heine Schrift von 3. Seiler erfhienen: Die Heimat
der Indogermanen (Hamburg, Verlagsanitalt 1894, 36 S.). Berfafler
wendet ji hauptſächlich gegen die Penka'ſche Hypotheſe von dem Urfiß der
Indogermanen in Südffandinavien und fließt ſich felbjt im allgemeinen an
Schrader an, nur daß er die Urheimat nicht in den Südoften, ſondern in
die Mitte des europäijhen Rußland verlegt. In der Burüdweifung ber
Penka'ſchen Hypothefe, die auch wenig Anhänger gewonnen bat, ftimmen
wir ihm bei; aber jeine eigenen, wie überhaupt die neuerdings bevorzugten
Hypotheſen von den Urfigen in Europa, halten wir für ebenfo unbewiejen.
Über das von uns ſchon erwähnte, große Werk von P. und W. Sar⸗
rajin über die Wedda (H. 3. 72, 164) notiren wir nod eine eingehende
Beiprehung von R. Keller im Biologiſchen Wentralblatt 15, 6 und 7: Die
Wedda’3 von Ceylon und die fie unıgebenden Völkerſchaften; ein Werjud,
die in der Phylogenie des Menſchen ruhenden Räthſel der Löfung näher
zu bringen.
Aus der Beilage der Münchener Allg. Ztg. vom 17. und 18. Wpril
erwähnen wir einen Wrtifel von C. Hahn: Einiges über bie Lumpylen
‚eines der Kaukaſusvölker, nach Ungaben eines von dem ruſſiſchen Antbropes
logen Pantjuchow in Tiflis gehaltenen Vortrages. Geftreift wird aud bie
Frage nad) der Herkunft der alten Kulturen Europas).
Im Nineteenth Century 218 (Upril 1895) veröfientliht J. Preſt wich
einen Artikel: The greater antiquity of man (sc. älter, al® Lyell meinte;
nach dem PBerfaiier jept ohne Übertreibungen etwa auf 50000 Jahre zu
berechnen).
364 Notizen und Nachrichten.
Eining a. d. Donau von 9. Arnold, mit guten Illuſtrationen von ®. Urtel
(über die vor Jahren veranftalteten Ausgrabungen des Pfarrers Schreiner.
In der Februarſitzung der Berliner Archäologiſchen Geſellſchaft war ein
Vortrag von Dahm bemerfenswerth über von ihm gemachte Waffenfunde
bei den Limesausgrabungen, wobei er fi) namentlich eingehend über bie
Entwidlung des römiſchen Pilums äußerte. Vgl. ben ausführlichen Bericht
in der Wochenſchr. f. Hafi. Philologie Nr. 16. — Eine Überfiht über bie
Zimesausgrabungen gibt F. Haug im Korrefpondenzblatt des Gejammt-
vereind Nr. 4: Bom römiſchen Grenzmwall.
Im Globus Nr. 13 jegt G. Bancalarti feine umfihtig und forgfältig
geführten, hausgeſchichtlichen Studien fort in einem Artikel: Das fübbdeutiche
Wohnhaus „Fränkifcher” Form. Vgl. auch in Nr. 15 derſelben Wochenſchrift
einen „Beitrag zur Hausforſchung“ von 3. Meſtorf. Über das wefſtfäliſche
Bauernhaus veröffentlicht 3. B. Nordhoff einen Aufſatz im Maiheft von
Weſtermann's Monatöheften.
Da8 ganze neue Hejt der Weitdeutichen Btichr. 14, 1 wirb von einer
umfangreichen, hauptſächlich auf injhriftlidem Material aufgebauten, anti»
quariſchen Studie von A. v. Domaszewski eingenommen: Die Religion
des römijhen Heeres. Wir müſſen uns bier darauf befchränfen, bie
Eintheilung ber forgfältigen, ihren Stoff wohl fajt erſchöpfenden Abhandlung
anzugeben: 1. Die dii militares und das Fahnenheiligthum. 2. Die dü
peregrini, die Tagertempel der Hauptitadt. 3. Der Genius bes Kaiſers und
die Heiligthümer ber principales. 4. Numina castrorum. 5. Das Ned
ber Heeresreligion. 6. Die Heeresreligion Diofletian’d. 7. Die Heeres⸗
religion der dhriftlihen Kailer. 8. Die Heeresgötter der Republil. Ein
Regifter und Abbildungen der in Betracht fommenden Skulpturen find dem
Hefte angefügt. — Im Korrefpondenzblatt 14, 1/2 beipridt 9. Kelleter:
Borlarolingifhe Bauten zu Aachen (namentlich Baſilika und Karlögruft),
Kiſa den Kanal in der Budengaſſe in Köln und 8. Shumader: Gewand»
nadeln mit Fabrifmarfe (in Ergänzung zu Drefie). Das der Ar. 3 des
Korreipondenzblatte8 beigegebene Ximesblatt Nr. 14 enthält Berichte von
Wolff, Shumader, Eidam und Kohl.
Über da8 im vorigen Jahre in Friedberg aufgededte Mithraeum
veröffentliht TH. Goldmann einen über den Fund genau beridytenden
und zugleich die allgemeinen Kragen erörternden Artikel im Archip f.
Heſſiſche Geſch. u. Altertpumstunde N. 5. 2, 1: Der Mithraskultus und bie
Mitgracen in Friedberg (mit 2 Plänen im Tert und 2 Doppeltafeln im
Lichtdruck.
Über dag von uns im vorigen Heft erwähnte Denkmal vou Adamlliſſ
bradite ©. E. Schmidt einen Heinen Aufjag in den G@renzboten 18%
366 Kotizen und Radridten.
„Da8 deutſche Nationalgefühl in feiner gefchichtliden (Ent
widlung“ behandelt fnapp und anfprehend &. Liebe in einem Meinen
Vortrage (Magdeburg, Niemann).
„Unedirte Karolinger- Diplome“ aus franzöſiſchen Handſchriften.
den ſog. Collections des Ardivs und der Nationalbibliothel zu Paris,
über die Verfafler eine Überficyt gibt, publizirt U. Dopfc in den Mitt.
des Inſtituts f. öſterr. Geſchichtsforſchung 16, 2, im ganzen zehn Nummern
nebſt Fragmenten und Regeſten von brei weiteren Stüden und fünf
Sälfhungen. — In den Kleinen Mittheilungen bdesjelben Heftes Hanbelt
®. Bretholz: Über das 9. Kapitel der pannonifhen Legende des heil
Methodius (bezieht fi auf eine Disputation in Mähren, wahrjcheinlid im
Zahre 870), und 8. 5. Kaindl „Zu Cosmas“ betätigt die Annahme
Loſerth's, daß Cosmas nicht der Autor der Versus de 8. Adalberto jein könne.
Eine Miscelle von 2. Schmidt im Neuen Arhiv f. Sächſ. Geld. u.
Altertdumst. 16, 1/2: Zur Geihichte der Dresdner Thietmar⸗Handſchrift, Hat
weniger Interejje jür Thietmar, als für die Gelehrtengeſchichte des 16. Jahr
bundert8, zu der Verfaſſer durch Veröffentlichung eines Reſkripts Kurfürft
Auguſt's von Sadhfen vom 17. April 1563 einen Beitrag gibt.
Sin der Revue numismatique 3, 13 veröffentlicht U. de Barthelemy
einen kleinen Artikel: Note sur la classification des monnaies Caro-
lingiennes (fie jind nicht nach den Regenten, neben denen auch die Grafen,
Bifhöfe und Äbte das Münzrecht ausübten, fondern nad geographiichen
Bezirken zu Hajfifiziren).
Aus dem Archiv für da8 Studium der neueren Epraden u. Literatur
94, 23 notiren wir einen Artikel von G. Schepß: Zu König Aifred’s
Boethius (Nachweis der Benugung lateiniſcher Borgänger in König Alfred's
Kommentar).
Einen bemerkenswerthen Aufjag veröfientliht &. Kurth in ber Revue
des questions histor. 114 (April 1895): La France et les Franca dans
la langue politique du moyen Age. Berfajier jucht die Entſtehung und
ben jpäteren Gebrauch dieſer Namen feitzuitellen und betont vor allem,
dab diejelben mehr politiiche, al® ethnographiſche Bedeutung haben, daB
aljo namentlich unter Franken keineswegs bloß Germanen zu verjtehen jeien.
Gewiß ilt bei der Interpretation ded Namens „Franken“ aud ſtets die
Möglichfeit des rein politiihen Gebrauchs in Betracht zu ziehen. Kurth
iheint uns in feiner Auffaſſung aber entjichieden zu weit zu geben.
In der Political Science Quarterly 10, 1 veröffentliät F. Zink:
eijen eine Unterfudhung über The Anglo-Saxon Courte of Law (über
das Hundertſchafts- und Grafihaftsgericht, ihre Kompetenz in Zivil⸗ und
Strafjahen und ihre Zujammenjegung".
368 Notizen und Nachrichten.
„Geſchichte des ehemaligen Nonnenfloftere O. S. B. zu Traunkirchen in
Oberöſterreich“ von feiner Gründung im 11. Jahrh. bis zur Aufhebung im
16. Zahrh., mit einem Anhang von Urkunden und Regeſten (102 Rummern)
und einem Nekrologium.
Über reihe Funde von Handſchriften und Urkunden aus dem 18. bis
16. Jahrhundert, die von Kowatſchewitſch und Stephanowitſch auf einer im
Auftrage der jerbijchen Akademie unternommenen Forſchungsreiſe gemadıt
wurden, findet ji) ein Bericht in der Beilage der Münch. Allg. Stg. vom
27. März: Wiſſenſchaftliche Forſchungen in Altjerbien.
In der Revue de l'Orient latin 2, 3/4 gibt H. Derenbourg eine
franzöſiſche überſetzung der arabiſchen Autobiographie Oujamas’ (12. Zahrh.).
Bene Bäder: Hodgkin, Italy and her invaders. V. VL (Oxford,
Ularendon Press.) — ®üterbod, Der Friede von Montebello und bie
Weiterentwidiung des Lombardenbundes. (Berlin, Mayer & Müller; —
Janſen, Die Herzogsgewalt der Erzbiihöfe von Köln in Weitfalen.
(Münden, Lüneburg. 4,60 M.) — Mitzſchke, Urkundenbuch von Stadı
und Klojter Bürgel. L (1133—1454.) (Gotha, Perthes) — Brerholz.
Geſch. Mährens. I, 2 (bis 1197) (Brünn, Winiker.). — F. Lot, Hariulf.
Chronique de l’abbaye de St. Riquier. (Paris, A. Picard.)
Späteres Mittelalter (12501500).
Sn den Württembergifchen Bierteljahräheften für Landesgeſch. 3, 4 madı
Pfarrer Bus!l „Mittdeilung über wiederaufgefundene Urkunden aus ben
öfteren Bebenhauſen, Adelberg und PBfallingen” Es Handel:
fih um 15 auf der fgl. Univerfitätsbtbliothel zu München wiederaufgefunbene,
wäürttembergifche Urkunden aus dem 12.--15. Jahrhundert, von denen Bus
Negeften gibt. Vier diefer Urkunden waren bisher nicht publizirt, und nad
einer den Urkunden beiliegenden Notiz follen zwei davon für die Genen:
logie der Hohenzollern von Bedeutung fein.
An der Römifhen Quartalſchrift 9, 171 veröffentlit H. Finke and
einem Codex des Soeiter Stadtarhivs eine fehr werthuolle Relation über
dad Barijer Nationallonzil von 12% von köſtlicher Unmittelbartlen
der Erzählung.
The English historical Review Bd. 10 bringt in zwei Abthei⸗
lungen aus der Feder von W. E. Rhodes eine betaillirte Biographie bei
Edmund von Lancajter, des Bruders von Eduard J., der mannigfache
Scidjale hatte und eine Zeit lang Kandidat für die ficilifche Krone wer.
Grundlage des Aufjages bilden die neueren Beröffentliungen ber Record
('omission.
G. Romano, ber jchon jo manchen wertvollen Beitrag zur Geſchichte
des erſten Mailinder Herzogs Gian Galeazzo Bisconti (1378 — 1402:
870 Notizen und Nachrichten.
Zaganyi, Gefhichte ber Feldgemeinidhaft in Ungarn
(Ungarifhe Revue 15, 1—2) ftellt, von der Gegenwart zurüdgebend,
urkundlich feit, dab die Feldgemeinihaft in Ungarn im 18. Jahrhundert
noch allgemein war, und zeigt, wie fie ſich als Graswirthichaft oder Nomaden⸗
feldgemeinfchaft beſonders in Siebenbürgen jtellenweije bis In unfer Jahr
hundert hinein erhalten hat — eine fehr willtommene Ergänzung der Ge⸗
ihichte diefer Ackerbauſyſtems.
Neue Bäder: v. Below, Landtagsalten von Zülih und Berg. L
1400—1562. (Düfjeldorf, Voß.) — W. v. Langsborff, Johann Hus'.
Ausgewählte Bredigten. (Leipzig, Fr. Richter) — Comba, Claudio di
Torino. (Firenze, Libreria Claudiana.) — Ahrens, Die Wettiner und
Kaijer Karl IV. (Leipzig, Dunder & Humblot. 4,40 M.) — Klintens
borg, Geſch. der ten Brols. (Norden, Braams.) — Vogelſtein und
Rieger, Seid. der Juden in Rom. I. (1420—1870.) (Berlin, Mayer
& Müller.)
Meformation and Gegenreformation (1500—1648).
Auf Grund der Homilien des Predigerd Jobſt Clichtone (1472—1543)
entwirft 9. Chérot in der Revue des quest. hist. (1895, April) einige
furze Skizzen einzelner Gruppen der franzöfifhen Geiellihaft aus dem Uns
fange des 16. Jahrhunderts (dad Boll, die Studenten, bie Geijtlichkeit).
In der Revue des quest. hist. (1895, April) behandelt U. Jacquet
einen franzöfiihen Staatsmann aus dem Anfang bed 16. Jahrhunderte
Claude de Seyßel, der 1520 als Bilhof von Turin ftarb, nachdem er
namentlid unter Ludwig XII. politiſch thätig gewejen war. Der beadhten®
werthe Aufſatz beichäftigt fi) vor allem mit der Schrift Seyßel's: Grand’
Monarchie de France, in ber er jeine Anſichten vom Staate überhaupt
und von den Aufgaben und Pflichten des franzöſiſchen Staates darlegt,
weshalb auch der Verfafjer jeinem Aufſatze den etwas zu umfaſſenden Titel:
Tas Nationalgefühl im 16. Jahrhundert gegeben hat.
Eine ausführliche, gründliche Unterjudung über die Erpedition des
Sebaſtian Cabot zum La Plata (1526/28) gibt Carlo Errara in
den Archivio storico italiano (1895, 11. Eine Beſprechung und kritiſche
Beurtheilung der Duellen geht der eigentlihen Darjtellung vorauf.
Ein Aufiag von N. Paulus im Hilt. Jahrb. d. Görres⸗Geſellſchaft
(16, 1} beidyäftigt ji mit verjchiedenen Punkten der Biographie Tepel’s.
Ter erjte Theil gibt eine Unterſuchung über die frage, in weſſen Auftrage
Tegel zu veridiedenen Zeiten den Ablaß verkündet Hat, und über feine
Stellung zu der firdhlihen Lehre vom Ablaß. Der zweite Abſchnitt richtet
ſich namentlich gegen den betr. Artikel in der Allgemeinen deutſchen Bio
graphie und weiſt einige ſchon jeit langer Zeit gegen Tegel erhobene ſchwere
ſittliche Vorwürfe als Hiltorifd) unbegründet zurüd, u. E. mit Red.
312 Notizen und Nachrichten.
In einer Marburger Difiertation von 1894 gibt E. Kleinwädter
die erjten drei Kapitel einer größeren Arbeit über den Meger Reformationse
verſuch von 1542/43. Die Abhandlung beruht auf ausgedehnten archivaliſchen
Studien und zeichnet ſich durch Gründlichkeit und befonnene Kritik aue.
Diefer erite Theil führt die Ereignifie bis zu dem Mißerfolg ber ſchmallal⸗
diihen Gefandtihaft an Metz (Ende September 1542). Ein Anhang be
Ihäftigt fih mit einzelnen Bunkten der Meer Stadtverfafjung im 16. Jahr⸗
Hundert. Die volljtändige Abhandlung fol in kurzer Zeit erſcheinen.
Auf jehr gründlichen Studien der bandichriftlihen und ber gebrudten
Quellen beruht die Schrift von &. Boſſert, Das Interim in
Bürttemberg (Halle, Niemeyer. 189%. Schriften des Bereind für
Neformationdgefhichte Nr. 46. 47); jie gehört zu dem Beſten, was der
Verein für Reformationsgeſchichte publizirt hat. Der Verfafler fchildert die
Maßnahmen zur Durhführung des Interims in Württemberg, den Wider:
itand dagegen und jeinen endlihen Fall; das legte Reſultat der ganzen
Bewegung iſt nad ihm eine Schädigung ber fatholifden und eine Stärkung
der proteftantifhen Kirche in Württemberg.
Über das Eintreten Granvella’s für die Durchführung des
Interims in Markgröningen beridtet ©. Boſſert nah einem bisher
unbelannten Aftenftüde in den Württemb. Bierteljahräheften für Nandei
funde (1894).
Einen Beitrag zu ber Belagerung von Meg durd den Kaiſer im
Jahre 1552 gibt E. v. Löffler in den Württembergiihen Vierteljahr
beften für Landeskunde (1894) dur die Bearbeitung und Beröffentlihung
der Berichte des Ulmer Geſandten Neder aus dem Feldlager vor Meg.
„Eine Epijode aus den Leben des Pietro Strozzi”, feinen Auf
ftandsverjud gegen die ſpaniſche Herrichaft in Oberitalien in ber erjten
Hälfte des Jahres 1544, jchildert Kuigi Staffetti auf Grund handſchrift⸗
liher Quellen im Arch. stor. italiano (1895, 1).
Zwanzig Briefe König Ferdinand's L an den Oberlandei
hauptmann von Schleſien aus den fahren 1528-1560 veröffentlict
C. Wutke im Korrefjpondenzblatt des Geſammwereins zc. 1894, 3 u. 4.
Hr Inhalt betrifft u. a. die Stellung Ferdinand's zur Reformation, zu
der Wiedertäuferbewegung, ferner Berfonalien über das Konzil von Trient,
Mapregeln der Büchercenſur u. |. w.
In Hortjegung feiner, der Wirthſchafts- und Verwaltungsgeichichte Weit
deutichlands zugemwendeten Forſchungen beginnt &. v. Below in den Jahr
büchern jür Nationalötonomie und Statijtik, 3. Folge, Bd. 9, die Entiteb-
ung der Rittergüter in Jülich-Berg zu erörtern. Geftügt auf ein
reiches, dem Verfaſſer wie wenigen vertrautes Altenmaterial, unterjucht er
zunächſt mit der ihm eigenen @enauigfeit der VBegrifisbeitimmung die that
374 Notizen und Nachrichten.
über den Nheinübergang Guſtav Adolf's bei Oppenheim bemerkenswert.
E3 wäre zu wünſchen gemwejen, daß das Guſtav Adolf» Jubiläum mehr
Monographien diefer Art gezeitigt Hätte.
Die Geihichte der franzöfiihen Kolonifation auf Madagaskar
behandeln gleichzeitig D’Equilly in der Revue des quest. hist. (29., 1. April
1895, jehr ausführli) und St. Andre in der Rev. d’hist. dipl. (9,2, furz
und überfihtlih). Die erfte nachweisbare ſranzöſiſche Anſiedlung auf
Madagaskar fand danach unter Ludwig XIH. ftatt, und unter ben beiden
folgenden Herrihern wurden wiederholt Verſuche zu größeren Kolonifationen
gemadt. Beide Autoren jtimmen darin überein, daß die Engländer den
franzöfifhen Beſtrebungen mit allen Mitteln entgegenarbeiteten und ba
daneben die Eiferfuht der Gouverneure von Ile de France (Mauritius)
nicht wenig zu den Mißerfolgen beitrug. Auch im 19. Jahrhundert dauerte
der Kampf mit Engländern und Eingeborenen fort, doch verhinderte die
Unficherheit des heimiſchen Regimentes lange Zeit ein energiiche® Vorgehen,
und im Jahre 1885 verzichtete Frankreich fogar auf einen Theil feines
Broteftorates über die Inſel.
Mit glorifizirender Tendenz, einzelnen Unrichtigkeiten, aber unter Be
nußung nod nicht verwertbeter Familienpapiere ſchildert Froſſard das
Leben des franzöſiſchen Marſchalls Zean de Gaſſion (16091647), der
unter dem Namen eine® Barons von Hontand auch unter Guſtav Adoli
eine Zeit lang als Oberjt gedient hat. (Bulletin historique de la socidte
de l’'histoire du protestantisme francais 1895, 1.)
Im Aprilbeft 1895 der English historical Review unterzieht Yirtb
die Memoiren Eir Richard Bulftrodes’ Über die Negierung Karl’ I. und IL
einer eingehenden quellenkritiihen Unterfuhung. Er weilt nad, daß ihr
Herausgeber Nathanael Miit, der fie 1721 druden lieh, fie aus autobio-
graphiihem Material, diplomatiihen Korrejpondenzen ꝛc. Bulitrodes’ zu
jammengejtellt, aber auch mit allerlei fremden Einſchiebſeln aus Hijtorijchen
Werfen verbrämt hat.
Deue Bücher: Staebelin, Zwingli. II. (Bajel, Schwabe: —
Joachim, Politit des letzten Hochmeiſters in Preußen, Wibredht von
Brandenburg. III. (Leipzig, Hirzel.) — Wutke, Mertbuh ded Hans
v. Schweinien. (Berlin, Stargardt.) — Battistella, I S. Officio e
la riforına religiosa in Friuli. (Udine, Gambierasi).
1648—1789.
In der Scottish Review vom April 1895 beridtet W. O' Connor
Morris weſentlich referirend über den 1894 eridhienenen 1. Band von
(sardiners History of the Commonwealth and Protectorate,
der die Zeit vom Tode Karl’3 1. bis zur Schlacht von Worcefter umifeht.
376 Notizen und Nachrichten.
Roſſel ihildert die Beziehungen der Herzogin Louiſe Dorothea
von Sadhjen-Botha zu Voltaire hauptfählih auf Grund ihrer von
Fräulein v. Dften-Saden verfaßten Biographie und der von Haafe in dem
Archiv für neuere Sprachen und Literatur (1893 und 1894) veröffentlichten
Briefe der Herzogin an Voltaire. (Nouvelle Revue, 1. April 1896.)
Aus den Berichten des Grafen Stainville, fpäteren Herzogs von
Choiſeul, während feiner Wirkſamkeit als Gejandter in Rom, gibt Andre
Hallays in der Nouvelle Revue 1. Mai eine anmuthig zugeftugte Schil⸗
derung des diplomatiihen Debuts des jpäter fo einflußreihen StaatSmanns.
Ein Schüler Delbrück's, Fr. Luckwaldt, bat es (Breub. Jahrbücher
Mai 1895) verjudht, die Auffaſſung Lehmann's und Delbrüd’8 über den
Urfprung des Siebenjährigen Krieges nad rüdwärts hin tiefer
zu begründen dur den Nachweis, daB die Weitminfterfonvention von
Friedrich Gr. nicht in defenfiver, jondern in offenjiver Abſicht abgefchlofien
ift. Neued Material iſt nicht benutzt, die Indizien für die kriegerifhen
Pläne des Königs, die Verfajler mit großem Scharfjinn herauszuſchälen
ſucht, lafien fih auch mit der bißherigen Auffaljung vereinigen, und bes
Verfaſſers Arbeit leidet fo fchließlih an demſelben „ichweren inneren
Fehler“, den er feinen Gegnern vorwirft, daß fie „vorausſetzt, was erjt zu
erweifen ijt“. Eine entfchiedene Ablehnung hat die Lehmann'ſche Hypotheſe
neuerdings noch durh Ulmann in der Deutihen Revue (Mai 1896‘ er
fahren. — Leider noch ohne Kenntnis des jetzt bei und entbrannten Streites
beginnt Waddington als Vorläufer eines größeren Werkes in der Revue
hist. (Mai-Suni 1895) eine Studie: Le renversement des alliancee en
1756. Intereſſant tft namentlich) der Nachweis, dab es die naive Hoffnung
der engliihen StaatSmänner beim Abſchluß der Weitminiterfonvention war,
Preußen, Rußland und Öſterreich zu einem fontinentalen Friedensbunde
unter einen Hut zu bringen. Friedrich's friedliche Abfichten bei der Weſt⸗
miniterfonvention gibt Waddington zu, aber durch jeine übereilte und un⸗
ehrliche Politik habe er ſich Frankreich Bertrauen veriherzt und dadurch
den verhängnisvollen Bruch herbeigeführt.
In Bd. 74, 180 Haben wir bereit8 darauf hingewieſen, dab in ber
Revue des deux mondes eine neue Artifeljerie aus ber Feder des Herzogs
von Broglie zu erjcheinen begonnen hat. Der Gegenftand, die Bündniſſe
vor dem Siebenjährigen Krieg, hat dur den Streit um bie Lehmann'ſche
Schrift an aktuellem Interefje gewonnen. Im Verlauf der Broglie'ſchen
Taritellung findet fi manderlei, was der aufmerkſamen Beachtung werth
ijt, wenn ſich aud) der von und angedeutete Charakter dieſer Ausführungen
nicht verleugnet. Es wird auch darauf noch zurüdzufommen fein.
Biacinto Temaria, La soppressione della Nunciatura ponti-
tica in Piemonte nel 1753“, beleuchtet in interellanter Weile den Ehrgeiz
378 Notizen und Nachrichten.
Archivs zu Paris, die romantiihen Schidjale de Commodore Sibney
Smith, des tapferen Vertheidiger® von St. Jean d'Acre, und feines
Sekretärs John Wright, die, 1796 in franzöſiſche Hände gefallen, nad
zweijähriger Gefangenſchaft durdy Emigranten befreit wurden. Wright, 1804
abermals gefangen, endete 1805 im Temple wie Pichegru durch einen
geheimnisvollen und nicht zweifeldfreien Selbitmord. (Correspondant,
Ittober und November 1894.)
Marquis Coſta de Beauregard veröffentlidt zwei Epijoden aus
dem Leben des Grafen Auguſt de la Ferronays. Sn der einen
fhildert er das Leben franzöfiiher Emigranten in Braunfchweig (1794), in
der andern das Zerwürfnis zwiſchen Karl X. und jeiner Schwiegertochter,
der Herzogin von Berry, nad deren heimliher Vermählung mit dem
Grafen Luchefi und die Bemühungen de la Ferronays', die Eintracht unter
den ezilirten Bourbonen (1833) herzujtellen. (Correspondant, November
1894 und Sanuar 1895.)
u. Böhtlingk's „altenmäßige Taritellung“ „Der Raftatter Ge:
fandtenmord vor dem Karlsruher Schöffengeriht” (XHeidel
berg, 3. Hörning, 18%, 112 S.) enthält hauptſächlich Mittheilungen über
jeine Zänfereien mit der Direktion des großherzoglicden Generallandesardjivs
in Karlöruhe, namentlih mit Archivrath Objer; Zäntereien, bei denen zur
Aufhellung des „Rajtatter Gejandtenmordes” ſchlechterdings nichts heraus:
kömmt. Auch wenn für die vor dem Schöfiengericht erörterten drei Punkte
aus der Geſchichte diejed Ereigniſſes Böhtlingk's Auffajiung und Darftellung
als richtig erwielen wären — was ich mindejten® für feine Behandlung des
Zalleyrand’ichen Erlajje® vom 10. April 1799 nachdrücklich beitreite —, jo
würde da8 an den allgemeinen Urtheil über Böhtling's Hypotheſe, das
jeiner Zeit Wegele in dieſer Zeitichrift ausführlich begründet hat, nicht das
mindejte ändern. Es bleibt dabei, daß Böhllingt für feine Anſicht von
Debry's Schuld bisher nur „Vermuthungen, Möglichkeiten, Verdachtsgründe
ohne „die Spur eines wirklichen Beweiſes“ beigebracht hat (S. 67), während
für die Schuld der Literreicher fonjt jo weit auseinander gebende Forſcher.
wie Enbel, Hüffer, Bivenot, mit guten Gründen und in jeltener Überein
jtimmung fid) ausgeiprochen haben. Übrigens ift, wie id) beiläufig noch bemerken
möchte, die von Böhtlingk wiederholt und jelbft in dem Immediatgeſuch an
den Großherzog von Baden vorgetragene Behauptung, daß feine im Jahre 1883
erichienene Schrift „Napoleon Bonaparte und der Raftatter Gefandtenmorb“
„gründlich todtgeſchwiegen“, „völlig unbeachtet geblieben jei” iS. 8 und 89)
keineswegs ganz zutreffend; wenigſtens habe ich fie in den Mitth. a. d. Hi.
Lit. in einer Beſprechung von ca. 1!/s Seite völlig ausreichend gewürdigt.
P. B.
In der Beitihr. f. Kit. u. Geſch. d. Staatöwilienichaften 3, 5. 6 ver
öflentliht Rojin, als Ergänzung zu dem befannten ®erte Stölzel’s,
380 Notizen und Nachrichten.
Einen Beitrag zur orientaliſchen Frage liefert d'Avril in ber
Revue des quest. histor. (29. Bd. 1. April 1895) mit der @efchichte der
beiden Zandftrihe an ber bo8nifchen Küfte Klek und Sontorina.
In einem interejianten, aber nicht jelten zum Widerſpruch reizenden
Eſſay über das zweite Kaiſerreich (Correspondant 25. April 1896) dharal-
terifirt E. Lamy Napoleon II. als einen uneigennügigen Souverän
ohne nationalen und dynaſtiſchen Ehrgeiz, deiien vornehmites politifches
Streben dahin ging, die Lage der niederen Vollksklaſſen und ber unters
drüdten Nationen zu verbejiern.
Ein Stüd aus der neueften preußiichen Verfafiungsgefhicdhte behandelt
Gerichtsaſſeſſor Dr. Norden in den „Preußiſchen Jahrbüchern“, Mai 18%:
die Gedichte und Auslegung des 1875 aufgehobenen Artikels 15 der Ber
faflung über die Kirdenjelbjtändigfeit. Er führt aus, daß der Arrifel
keineswegs ba8 Kirchenhoheitsreht des Staates aufheben jollte, jondern
nur den Zwech hatte, den Kirchen die felbjtändige Ordnung ihres Lebens
gebietes unter ftaatliher Kontrolle zu garantiren.
Der Jahrgang 1894 des von Guſtav Roloff jept bearbeiteten Schult⸗
heß'ſchen Europäifhen Geſchichtskalenders (Münden, Bed. 398 ©.)
macht einen durchaus günjtigen Eindrud. Der neue Heraußgeber hat ſich
auh im Tone der am Schluß gegebenen politiichen Überficht von dem
Borbilde des bisherigen Herausgebers, Hans Delbrüd, offenbar etwas
leiten fajjen, ijt aber, maß bem GCharalter des Wertes auch wohl beſſer
entjpricht, zurüdhaltender in feinen Urtheilen. An der bisherigen Ein
richtung iſt nichts geändert, mit Dank zu begrüßen find die literarifchen
Hinweiſe auf werthvollere Arbeiten zur Tagesgeſchichte und das Verſprechen,
ſog. „Enthülungen” der Tagesprefje Über Vorgänge der vorhergehenden
Fahre fortan zu buchen.
Auf Grund jeiner reihen Kenntnis gibt D. Ehäfer, „Zur Eröfk
nung des Nordojtjeelanal8“ (Preuß. Jahrbücher 1895, Mai), in großen
Bügen eine Geſchichte des Dominium maris Baltici und zeigt dabei, bat
der neue Kanal die Wiederaufnahme eines alten natürliden Handelsweges
bedeutet.
Aene Büder: Focke, Charlotte Korday. (Leipzig, Dunder & Hums-
blot. 3,60 M. — Mem. du comte de Paroy (1789-1797) p. p. E
Charavay. Paris, Plon. fr. 7.50.) — De Lanzac de Laborie. La
domination francaise en Belgique, 1795—1814. 2 voll. Paris, Plon.
fr. 16.) — Me&m. du general Thiebault, p. p. Calmettes. IV (1806-—1813).
(Paris, Plon. fr. 7,50.) — Journal du marechal de Castellane 1804-1862.
I. (Paris, Plon. fr. 7,50.) — Martens, Recueil des traltes... conclus
par la Russie. XI. Angleterre. 1801--1831. (Peterdburg, Böhnke) —
Mollat, Reden und Redner des eriten deutihen Parlamente (Kfterwicd,
Bidfeldt. 13 M.) — N Schäffle, Cotta. A. Bettelheim, Geiiteshelben.
18.) (Berlin, E. Hofmann. 2,40 M..
382 Notizen und Nachrichten.
Arhivbenuger geitreift. Man beſchloß jedoch, in keine ausführliche Be⸗
fpredung hierüber einzutreten, jondern das Thema auf die Tagedorbnung
des nächſten Hiſtorilertages zu fegen.
Endlih fprah Prof. Kaltenbrunner-Innsbrud den Wunſch aus,
geeignete Grundſätze aufzujtellen, um die Fundorte ber neueren
periodiſchen Literatur den Forſchern bejier zugänglich zu machen. Auf
den Antrag Stieve’8, der dieſen Wunſch lebhaft unterjtübte, wurbe der Aus⸗
ſchuß des Hiſtorikertages beauftragt, mit Zuziehfung Prof. Kaltenbrunner's
ein Schema ausdzuarbeiten, da8 der Erfüllung dieſes Wunfches zu Grunde
zu legen jet. Wir werden demnach aud) diefem Thema auf der nädhften
Berjammlung wieder begegnen, unb es wird ſich dann berausjtellen, wie
weit es praftiih zu verwirklichen fit.
Wie in Leipzig, jo war auch diesmal ein Theil ber Zeit Vorträgen
vorbehalten. Es ſprachen Prof. Bücher-Leipzig Über den Haushalt der
Stadt Frankfurt aM. im Mittelalter und Prof. Eduard Meyer-
Halle über die wirt hſchaftliche Entwidlung des Alterthums. Da
der Bücdher’ihe Vortrag im Drud erſcheinen wird, gehen wir nicht näher
auf ihn ein. Der Name des Redners, der ſich Hier auf jeinem wohlbeſtellten
Arbeitsfelde bewegte, bürgte von vornherein für Itrenge Wiſſenſchaftlichkeit
und Gediegenheit. Eine Slanzleiftung war auch der Vortrag von Meyer.
In großen Zügen entwidelte er ein Bild, das mehrere Jahrtauſende umfaßte
und dur den Gegenſatz zu den meijt engbegrenzten Einzelfragen, bie in
den Debatten und aud in dem Bücher'ſchen Vortrag vorgeherricht hatten,
ſich beſonders wirkſam bervorhob. Am eingehendften fchilderte er die Ent⸗
jtehung des alt=orientalifhen und die Entwidlung des griechiſchen Wirthſchafts⸗
lebens und ſchloß mit einer glänzenden Überficht über den Verfall der antiten
Kultur im römifchen Kaiſerreich.
Der Schluß der Verhandlungen betraf die Organifation ber
Hijtorilertage. Der Ausſchuß ſchlug die Konftituirung der Verſamm⸗
lung zu einem Berbande deuticher Hijtorifer vor, der durch einen gejchäfte-
führenden Ausſchuß von 15—20 Mitgliedern geleitet werden fol. Es ſoll
lediglich eine Form jein, um das Zuftandelommen jpäterer Hiftorifertage zu
jihern und fie auf eine gejicherte finanzielle Grundlage zu ftellen. Der
Verbandsbeitrag wurde auf 5 M. jährlich feftgefegt, wofür jedes Mitglied
die Berichte über die Verhandlungen unentgeltlich erhält. Die Einladungen
jollen auch fernerhin allen Berufsgenojjen ohne Rüdficht auf ihre Zugehörig⸗
feit zum Verbande zugehen. Tieje Vorſchläge des Ausſchuſſes fanden mit
geringen Abänderungen fajt einjtimmige Annahme. Es wird beabfichtigt,
die Hiſtorikertage künftig alle zwei Jahr ftartfinden zu laſſen und zwar, um
ein Zujammentrefien mit den Philologenverfammlungen zu vermeiden, in
den Jahren mit gerader Endzahl. Ter Frühjahrstermin foll beibehalten
werben, doch wird zum Übergang in das neue Spyitem der nädite Tag
wahrjceinfih im Herbſt 1896 und zwar in Oſjterreich jtattfinden.
334 Notizen und Nachrichten.
15. Jahrhundert, herausgegeben von W. Stein, demnädit zu erwarten.
Bon den erzbiſchöflich-kölniſchen Regeften wird der 1. Band
(bis 1414) in nächſter Zeit zum Abſchluß gebracht werden können; dei⸗
gleihen der 1. Band der älteren rheiniſchen Urkunden (bis 800,
bearbeitet von Perlbach, und die Publikation der Quellen zur älte
ften Geſchichte des Sefuitenordens in den Rheinlanden
(1543—1582) von 3. Hanfen. Auch die meilten übrigen Wrbeiten ber
Gejellichaft jind in erfreulihem Fortgang begriffen. — Die Kommiffion
für die Dentmälerjtatiitif der Rheinprovinz bat das 2. Heft
bed 3. Bandes, umfajlend die Beichreibung der Denkmäler der Städte
Barmen, Elberfeld, Remſcheid und der Sreife Lennep, Mettmann, Solingen,
herausgegeben, und für das Jahr 189% fteht das Erſcheinen des ganzen
3. Bandes, mit dem die Kunitdentmäler des Regierungsbezirks Düſſeldori
ihren Abſchluß finden werden, in Ausſicht. — Das Heft jchließt mit dem
Bericht der Meviffen-Siftung (vgl. unjere Notizen 73, 383; 75, 190,
Die Hiſtoriſche Landeskommiſſion für Steiermarl ver
fendet ihren 3. Beriht, März 1894 bi8 März 1895. Es werden darin
Mittheilungen über die Arbeitövertheilung und über die Forfchungen in
Ardiven gemadt. Hervorzuheben ijt namentlid ein al® Anhang III ab»
gedrudter, eingehender Bericht über den Inhalt von Materialien zur fteier-
märkiſchen Geſchichte in den Tandichaftlihen Ardiven zu Görz und Laibadı
von U. Luſchin v. Ebengreutb.
Sm Halle ftarb am 31. März Otto Najemann, vormals Direktor des
Stadtgymnafiums dajelbft (geb. 21. Januar 1821 zu Kochſtedt, Verfafler
mehrerer Schriften zur Reformationsgeſchichte (Friedrich der Weiſe und Karl V..
In Wiesbaden jtarb Mitte April der Profeſſor der Ardäologie an der
Univerjität Königsberg Guſtav Hirjchfeld, geb. 4. November 1847 in
Pyritz. Er leitete in den Jahren 1875—77 die deutichen Ausgrabungen in
Olympia und bat fpäter aud in Aleinafien fruchtbare Studien getrieben
(vgl. feine Schrift „Die Felfenrelief® in Kleinaſien und das Boll ber
Hettiter”\.
Am 30. April it in Wiesbaden Guſtav Freytag im 79. Lebenk
jahre aus dem Leben geſchieden. Er hat, wie wenige, bie Freude an der
Geihichte und wirkliches Berftändnis dafür in den weiteren Kreiſen gehoben,
und was wäre unjere Wiſſenſchaft, wenn fie feine lebendige Theilnahme
fände bei den gebildeten Kreijen der Nation.
Über Rojfi notiren wir unter vielen andern Nekrologen einen Auf
jag von Jean Guiraud in der Revue Histor. 58, 1: Jean-Baptiste
de Rossi. Sa personne et son a@uvre.
In den am 2. Juni verjtorbenen ehemaligen preußiichen Suftizmintfter
v. Friedberg verliert auch die Hiſtoriſche Zeitfchrift einen „sreund und
Mitarbeiter.
— — — — -
386 R. Oldenbourg sen.,
wurde, ich mir zu verweilen erlaube. Sch, der ich ſehr bald zu
Eybel, nad) jeinem Eintritt in die Münchener Kreiſe, in freund:
Ihaftlihe Beziehung gelangte, übernahm als Theilhaber ber
Cotta’jchen Buchhandlung den Verlag, ein geichäftliches Ber
bältnis, das während 75 Bänden der Feitichrift durch keinen
Mißton getrübt wurde.
Sybel war aber zu jehr jchaffender und Fünjtleriich bildender
Hiltorifer, um in der Arbeit des täglichen Sammeln? und ge
Ichäftlicher Rührigfeit aufgehen zu dürfen. Er juchte fich daher
vom Anfange der Zeitichrift an jüngere Gefährten für dieje Arbeit,
und er war aud) darin jo glüdlich in der Wahl, daß alle, die
ſich ihm in diefer Weiſe angeſchloſſen, jpäter bedeutende jelbjtändige
Stellungen in ihrer Wiſſenſchaft eingenommen haben. Ich er:
innere bier nur an Kluckhohn, VBarrentrapp, Maurenbrecher, Lehr
mann. Sybel pflegte dieſe Mitarbeiter in der Redaktion früher
weniger, jpäter mehr möglichit frei Ichalten zu laffen und behielt
fih nur vor, in kritiichen Momenten und Fragen einzugreifen und
zu entjicheiden. Er waltete gewifjermaßen als wijjenfchaftliche
Vorjehung über der Zeitſchrift. Edel, wie er das Leben über
haupt, faßte er auch das Verhältnis zu jeinen Mitarbeitern auf,
und jelbjt wo prinzipielle Fragen zur Scheidung führten, ging
Jeder der Beiden mit gegemjeitiger voller Anerfennung jener pers
lönlihen Würde und wiljenjchaftlichen Selbjtändigfeit aus dem
Konflift hervor. Ber aller mit Recht behaupteten Selbitherrlic”
feit in allen jolchen ragen verſchmähte er es nicht, den Rath
des Freundes einzuholen, dem er die ökonomiſchen Interejjen der
Zeitſchrift anvertraut hatte.
Sch, als 6 Iahre älter als der Verſtorbene, mußte erwarten,
früher ale er aus diejer Welt zu jcheiden. Sept ſtehe ich im
84. Jahre mit meinen an meinem Gejchäft betheiligten Söhnen
und den anderen Betheiligten vor der recht eigentlich umlösbaren
Aufgabe, für den Gründer der in gewiſſem Sinne vermatiten
Zeitſchrift Erjaß zu finden. Unlösbar, weil der im gemeinen
Leben erfundene Sat, daß Niemand in diefer Welt unentbehrlich
jei, jalih it, und jeder in bedeutender Wirfjamfeit Lebende
Menſch unerjeglich it. Dem ungeachtet müſſen alle Betheiligten
888 N. Oldenbourg sen.,
vorläufig zu formiren. Ein paar diefer Arbeiten find in der
„Deutichen Rundſchau“ und in der „Hiftorifchen Zeitſchrift“ ab
gedrudt. Unterbrochen wurden dieje Studien Anfang der 80 er Jahre
durch die Einladung des Fürſten Bismard an Sybel, fich der
Gefchichte der „Begründung des Deutjchen Reiches durch Katier
Wilhelm I.“ zu widmen. Er theilte mir diejen wichtigen Vorgang
jofort mit, und unfer Vertrag für die Deutfche Gejchichte wurde auf
das neue Werf übertragen. Die deutiche Welt hat davon vor fünf
Sahren fünf Bände erhalten und feit vorigem Jahre den 6. und
7. Band. Sybel betrachtete eigentli) mit den letzteren das
Werf als abgeichloffen, und mit einem gewilfen Grauen die an
ihn geftellte Forderung, in einem 8. Bande den Krieg von
1870/71 zu ſchildern. Es lag ja klar vor ihm, daß ein jo ein
heitliche® und überjichtliches Bild, wie er von dem großen
Böhmtichen Feldzuge gegeben, den in ſechs Monaten jich voll
ztehenden friegeriichen Vorgängen in Frankreich jchwer ab»
zugeivinnen war. Und doch hat er jich gelegentlich mündlich
darüber ausgeiprochen, wie er die jchivierige Aufgabe zu löſen
gedenfe, wenn Leben und Gefundheit ihm erhalten bleibe. Er
gedachte den Aufmarſch und den recht eigentlich dramattichen
Theil des Feldzuges von Weißenburg bis Sedan in ausführlicherer
Behandlung, die übrigen die deutſchen Heereskräfte zeriplitternden
Vorgänge aber in fürzeren Überjichten zu geben. Wichtige münd«
liche Mittheilungen von leitenden Perſonen jtanden ihm dabei zu
Gebote und hätten der Tarftellung eine eigene Belebung gegeben.
Aufgezeichnet hat er davon, jo weit von jeinem Nachlafie bis jegt
verlautet, nichts.
Der achte Band iſt denn uugeichrieben geblieben und wird
eö bleiben, da nicht einmal Vorarbeiten dazu vorhanden find.
Die zunehmende Kränklichkeit des Verfaſſers der jieben Bände
war auch in diejer Richtung enticheidend. Sie hinderte ihn an
der nothwendigen Stonzentration für die Tarjtellung großer aber
fomplizirter Thatjachen, während jein Geiſt für die Aufgaben des
Moments Io jrei wie je blieb. Eine ganze Reihe von Briefen an
mic) perjönlicd) oder an mein Haus liegen mir vor als bemundern
würdige Zeugen des unter läftigen Leiden freigebliebenen Geiſies.
Heinrich v. Sybel 7. 389
Das Anjehen und der Ruhm, den Sybel jchon während
jeiner Münchener Zeit durch feine franzöfische Geichichte und andere
fleinere Arbeiten jic erworben hatte, iſt jeitdem ftetd gewachſen,
und mit der „Begründung des Deutichen Reiches durch Kaiſer
Wilhelm J.“ ift er recht eigentlich in das Herz desjenigen Theils
des deutichen Volkes gewachſen, der nationale Empfindungen fennt
und pflegt. Es iſt das glüdlicherweife nicht nur der befjere,
jondern auch der größere, jedenfall3 der in allen erniten Fragen
enticheidende Theil. Sybel jchied aus diefer Welt als ein natio-
naler Held Deutjchlande. Die ihm aber näher jtanden, als
dies Durch lediglich literarifchen Verkehr möglich ijt, verlieren an
- ihm noch viel mehr: einen in ihren Ansprüchen an jein Herz nie
verfagenden Freund.
Hohenſchwangau, 20. Auguſt 1895.
R. Oldenbourg sen.
Heinrich v. Sybel F.
Ein Meifter und Bahnbrecher unjerer Wiſſenſchaft, einer der
fraftvolliten Führer der geiftig=politifchen Bewegung, aus der da3
neue Deutjche Reich hervorgegangen iſt, der Begründer und Leiter
unferer Beitjchrift ift von uns geſchieden. ine tiefe Bewegung
ging durch Deutjchland, da wieder einer der wenigen noch ragen
den Wipfel jener glänzenden Zeit dahingejunfen iſt, deren Inhalt
er, früher ein Streiter mit jcharfem Schwerte, uns jetzt in jeinen
legten Jahren noch zum abgeflärten Kunſtwerk geformt bieten
konnte.
Die hiſtoriſche Betrachtung jinnt jogleich, diejes reiche und
fruchtbare Leben in jeine Wurzeln zurüdzuverfolgen, e8 zu vers
fnüpfen mit dem allgemeinen Gange der Dinge, und welches
Gelehrtenleben wäre wohl geeigneter als das jeinige, den großen
Abschnitt der deutichen Geichichte von 1840 bis 1871 im Spiegel
einer wachjenden und wirkenden Individualität vorzuführen, deren
eigenfte Idee e8 war, ihr Beites an die hohen Aufgaben ihrer
Beit zu jeßen.
Als er emporwuchs, jtanden jich zwei geijtige Mächte m
Deutichland gegenüber, die gar nicht mit einander kämpfen fonnten,
ohne jich fortwährend gegenfeitig zu befruchten, und deren jede
erjt dann erfolgreid) wirken fonnte, nachdem ſie ſich auch einen
Theil der Gedanken des Gegners zu eigen gemadgt hatte. Auf
ihrer harmoniſchen Verbindung beruht die große geichichtliche
Zeitung Bismard’s, beruht aud) das Lebenswerk Sybel's. Merk:
würdig, wie jchon in feiner Augendentwidlung dieſe Verbindung
892 Fr. Meinede,
wejentlich auch noch beeinflußt durch die Gedanken der Reitan-
rationgzeit, in dem Kampfe des Princips der Vollsjouveränetät
mit den alten legitimen und hiftorischen Gewalten die Signatur
der Beit erblidte, glaubte Sybel, friih und zuverfichtlih in die
Zukunft ftrebend, dieſen Gegenjag bereit3 aufgehoben in dem
modernen Rechtsitaate, der, ſtark und einheitlich, zugleich dem
Individuum freieiten Raum zur Entfaltung gewähre. Won diefem
feiten Punfte aus machte er nun nach recht? wie nad) links bin
Front. Mit der hiftoriichen Schule und mit jeinem politijchen
Lehrmeiſter Burke verabjcheute er den Deſpotismus der radifalen
Theorien. Als rechtes Kind des rheinischen Bürgerthums forderte
er, daB die Monardjie jich auf den fapitalfräftigen, erwerbenden
Mittelitand ftüge, und unterjchäßte freilich dabei Damals noch die
politische Kraft des Grundbeſitzes. Aber noch gefährlicher als der
Kommunismus erichien ihm doch damals vor 1848 der Ultras
montanismug, der im Bunde mit der feudalen Partei die Einheit
des Staates und das Necht der freien Forſchung bedrohte.
„Sch weiß nicht,” hatte Sybel 1846 gejagt!), „ob etwa das
religiöfe und philofophiiche Intereffe für ſich allem im Stande tft,
den willenjichaftlichen Arbeiten die Friſche und Wärme einzuhauchen,
die jie aus einer engen Verbindung mit den praftifchen Angelegen:
beiten des Volkes gewinnen.” Damals glaubte er noch an em
gemeinjames Emporjteigen von Staat und Wiſſenſchaft. Wenn
nun nad) dem traurigen Scheitern der politiichen Hoffnungen im
den Fünfziger Jahren doc) eine politiiche Hiftorie in Deutjchland
emporblühte, die an Gewifjenhaftigfeit der Forſchung, Kraft und
euer der Daritellung, ntichiedenheit und Einheitlichkeit der
politischen und ſittlichen Maßſtäbe ihres Gleichen nicht Hatte, To
{ft das ein Beweis, wie tief jie vorbereitet war im den Berjön-
lichkeiten, die jie übten, und in den VBedürfniffen der Zeit. Und
es war geradezu ein Segen für das wiſſenſchaftliche und in legter
Linie aud) für das Staatsleben, daß jebt eine Zeit Der ruhigen,
inneren 1 Konzentration folgte, und die Talente, ftatt ſich an den
») Über das Verhältnis unjerer Univerfitäten zum öffentlichen Leben.
©. 12.
394 Fr. Meinede,
Strafe bei den Gegnern der Revolution. Das wichtigite und
aus den perjönlichen Ideen Sybel’3 hervorgegangene Ergebnis
war politiicher Art. Wenn man die Gejchichte des Ddeutichen
Liberalismus als einen Reinigungsprozeß anjehen kann, als eine
allmählicye Ausicheidung des fremden, franzöjiich-radtfalen Ele
ments gu3 dem deutſchen Blute, jo kommt dem Sybel’jchen Buche
ein ganz bedeutender Antheil des Verdienſtes daran zu.
Und jo puljirt in allen hiſtoriſchen Schriften Sybel's em
politiicher Herzſchlag. Er fehlte ja jelbjt bei der Gründung
unjerer Zeitſchrift nicht. Seine alten Feinde, Radikalismus,
Feudalismus und Ultramontanismus, jollten von ihr verbannt
jein, und den lebendigen Zujammendang des Vergangenen mit
der Gegenwart zu pflegen, war und blieb das ausgejprochene
Ziel unjerer Zeitjchrift. Ihrem Begründer war eg vergönnt, die
von ihm jelbjt mit ausgejtreute Saat reifen zu ſehen und dann
am Abend des Lebens jeiner Zeit ein von der reifen und milden
Weisheit des Alters erfülltes Denfmal zu jegen. Alle feine Ideen
fonnten hier noch einmal zujammenflingen in beruhigter Harmonie:
der jtarfe, nationale Staat mit jeinen biftoriichen Wurzeln, das
freie Berfafjungsleben, das auf den realen Kräften der Nation
beruht, die ſiegreich durchgreifende ftaatSmänntiche Perjönlichkett,
die Herrſchaft der jittlichen Gelege in der Gejchichte.
Ein wunderbar jchöner Abſchluß jeines Lebenswerkes. Nicht
ebenfo beruhigt Jah er in die Zukunft. Er, der jedem Dogma
widerjtrebte, aber aus einer zwar einfachen, doch jehr beitimmten
und fejtbegründeten tdealijtiichen Weltanichauung die Nraft zum
Handeln Ichöpfte, ja mit Trauer in unjerer Wiſſenſchaft den
Einbruch materialiftiicher Gedanken. Kine hiltoriiche Fachwiſſen⸗
ſchaft mit zünftigem Charafter, wie jte jich neuerdings mehr und
mehr entwidelt, war ihm ein Greuel, und über Lehrbücher der
hiſtoriſchen Methode Tächelte er. Schon als Künſtler jpottete er
über die, welche über den Geheimniſſen der Zeugung brüteten,
jtatt frijch darauf los zu produziren. Bor allem aber beflagte
er die Yoderumg des Bündniffes zwiſchen Politik umd Hiſtorie.
Sie war ja eine unvermeidliche Folge unierer inneren Entiwidlung,
aber mancher von uns Süngeren bat jie wohl ſchon jchmwer
Die ftädtifche Verwaltung des Mittelalters als Vorbild
der fpäteren Territorialverwaltuug.
Bon
Georg v. Below.
$ 1. Die bisherige Literatur.
„Die Städte find in Europa gleichſam ftehende Heerlager
der Kultur, Werfitätten des Fleißes und der Anfang einer befjern
Staat3haushaltung geworden, ohne welche dies Land noch jet
eine Wüfte wäre.”
Mit diefen Worten beginnt Herder das vorlegte Kapitel
jeiner Ideen zur Philoſophie der Gejchichte der DMenjchbheit.*)
Wenn jein berühmtes Werk „unglaublich durch fich felbft
und durch bundertfache Ableitungen auf die Bildung der ganzen
Nation eingewirkt“ hat?), jo gilt dies ganz bejonderd von
jenem Satze. Das darin ausgejprochene Urtheil ift in der That
Gemeingut de8 deutjchen Volkes geworden.
Indem Herder den „Anfang einer beſſern Staatshaus-
haltung” in den Städten erwähnt, jcheint er anzudeuten, daB
deren Werk von einem anderen Körper fortgeführt worden: ift.
Allein er jpricht davon nicht. Unter den Mächten, die die Träger
einer neuen Zeit find, nennt er feine anderen politifchen Körper
als die Städte. Ihnen jtellt er, offenbar als überwiegend feindlich,
1) Ausgabe von 1791 (Riga und Leipzig), 4. Theil, S. 328,
2) Bol. R. Haym, Herder nad feinem Leben und feinen Werfen
2 (Berlin 1885), 262.
m
6. D. Belom, Die ſiadtiſce Verwaltung des Mittelalters x. 607
ie „Negenten, Priefter und Edle“ gegenüber. Nur den
ieftern, der „Sierarchie“, weiſt er noch eine relative Bedeutung
‚ infofern fie den „Despoten“ ') Widerjtand geleiftet haben,
die Arbeit der Städte von anderen politijchen Gewalten
worden ift, daß dieſe bereit® im ausgehenden
„deſſen hauptſächlichſte Erſcheinungen er jejildern will,
beginnen, daß fie auch während des Mittelalters ſchon für
„Kultur“ thätig find, erfahren wir aus jeiner Darftellung
Der „Schatten eines friedlichen Stadtregiments“, die Ent
, Erfindungen, Künfte und Univerjitäten — lediglich
find nad) ihm die Mächte der neuen Zeit, welche „die Herr-
Hr Europas gegründet“ haben.
Herder's einfeitige Auffafjung wurzelt in den Verhältniffen
Anfchauungen feiner Zeit, der Zeit der Zerjallenheit
ſds, des Kosmopolitismus, des Nationalismus. Gerade
den een zur Philoſophie der Gejchichte vertritt er, im
?genfag zu vg älteren Außerungen, den Standpunft der
Hlfärung.*) Die Menfchen jener Zeit „find dem geichichtlichen
ben der Völker in dem Grade entfremdet, daß fie fich bei
legen gar nichts amderes zu denfen willen), als unmüge
tufereien unter den Fürſten, welche die Völker nichts angehen,
tex denen die Völker nur leiden”. Man „weiß nicht, was es
eutet, wenn bie Geijter im allgemeinen durch große, den Horie
it erweiternde Begebenheiten und Erlebnifje angeregt find.“?)
am überjah, da die Städte des Mittelalters ihren großen
Afluß nicht ausgeübt haben würden, wenn ihre Bürger nicht
IE viel von den Neigungen und Eigenichaften der von Herder
ng geachteten „Regenten und Edlen“ beſeſſen hätten. Auch
dieſer Einſeitigleit lebt Herder's Darſtellung“) heute noch, bei
‚Herder a. a. ©. ©. 888 f
Bgl. Haym a. a. ©. ©. 231.
Worte Th, d. Verngardi's. ©. die charattervolle Krritit der Herder-
Sr Ausführungen in TH. v. Bernhardi’8 Leben (Leipzig 18%) 4,63. BgL
& @ött, Gel, Anz. 1892 S. 288,
*) Eine Widerlegung der Darftellung Herder's im einzelnen iſt theils
Seeflüffig, tbeils ergibt fie ſich von ſelbſt aus dem folgenden.
— I
eo
398 G. v. Belom,
vielen Anhängern der Auffafiung, die fich die kulturgeſchichtliche
nennt. ‘)
Einem wejentlich verjchiedenen Standpunft begegnen wir in
der neben der Herder’ichen berühmteften gefchichtöphilofophiichen
Darftellung, in Hegel's Vorlefungen über die Philofophie der
Gefchichte. Die Verdienite der Städte des Mittelalterd werden
bier zwar durdjaus nicht geleugnet.?) Allein wie follte Hegel,
der die WVeltgeichichte weſentlich als Staatengeihichte, den Etaat
al3 die Wirklichkeit der fittlichen Idee auffaßte, der das Wirkliche
für vernünftig hielt, der Gegner des Liberalismus jeiner Zeit?),
der Einfeitigfeit der Aufflärungsperiode fähig fein? In jeiner
Daritellung jteht nicht die Stadt, jondern der Staat im Border
grunde! Das große Ereignis, der „Fortſchritt“ des ausgehenden
Mittelalter iſt in feinen Augen ein jtaatlicye8 Ereignis: „der
Übergang der Feudalherrſchaft in die Monarchie“ *), welchen er als
da8 „Brechen der jubjektiven Willfür der Wereinzelung der
Macht“, „das Hervorgehen einer Obergewalt” definirt. Und er
bebt hervor, daß auch die Städte diefer Obergewalt unterworfen
werden: fie bilden fortan Mächte „im Gemeinweien“. Es verdient
Erwähnung, daß er auf die energiiche Verwirklihung diejed Ger
danfens in Frankreich hinmeift.°)
Wie die Geihichtsphilofophen, fo gingen auch die Juriſten
und Hiſtoriker in ihren Anjchauungen über die allgemeine
2) Bgl. hierzu (kritiich) Delbrüd, Über die Bebeutung der Erfindungen
in der Geſchichte, Hiſtoriſche und politiiche Aufjäge (Berlin 1887), S. 339 fi.
Dietrich Schäfer, Geſchichte und Kulturgeſchichte (Jena 1891). Gött. Gel.
Anz. 1892 ©. 280 fi.
”) Hegel, Vorlefungen über die Philoſophie der Geſchichte, herausgeg.
von Ed. Gang (Berlin 1837), S. 891 ff. Vgl. 53.8. S. 34: „Die Stäbte,
wo ein rechtlicher Zuſtand zuerjt wieder begann.”
2) Bgl. H. dv. Treitichte, Deutiche Geichichte im 19. Jahrhundert 4, 484
*) So überidreibt Hegel (a. a. D. €. 403 ff.) das vorlegte Kapitel bei
über da8 Mittelalter handelnden Abfchnittes.
er Hegel a.a. D. ©. 408f. ©. 430 ſpricht er den in diefem Zuſammen⸗
bang bemerkenswerten Sag aus (allerdingd nicht in unmittelbarer Us
wendung auf die Städte): „Man muß, wenn von Freiheit gejprochen wird,
immer wohl Acht geben, ob es nicht eigentlich Privatintereiien find, von denen
geiprodhen wird.“
400 G. v. Below,
Ranke von der „jophiftiichen, in fich ſelbſt nichtigen und nur
durch den Bannſpruch jeltiamer Formeln wirkſamen Bhilofophie“
Hegel’8 !) etwas wiſſen wollte, jchon allein feine äfthetiiche Ye
geifterung für das gejchichtlide Menjchendajein fchlechthin und
fein Empiriömus ?) laffen ihn Anjchauungen huldigen, die denen
Hegel's trog des verjchiedenen Urjprungs verwandt find.
Wenn nun jeit Ranfe?) die Bedeutung des Staates, d. h.,
jür Deutichland, der Territorien, nicht mehr unterfchägt und
andrerjeit3 dag Verdienit der Städte doch ebenjo wenig über
jehen wurde, jo fam e3 darauf an, ihr gegenjeitiges Verhältnis
näher zu beichreiben, zu erklären, wie die Städte von den Terri«
torien unterworjen werden fonnten, ohne daß das, was jte ges
Ichaffen, verloren ging. Die Formel für die Beantwortung
diefer Frage wurde darin gefunden, daß die bejiegten Städte Die
Lehrmeiſter der XTerritorialherren geworden, daB die ftädtiiche
Verwaltung in der territorialen nachgeahmt worden ijt.
Es iſt vielleicht nicht Zufall, daß diefe Erklärung zuerit
gerade von einem perjönlichen Schüler Ranke's“) und in einem
ihm gemwidmeten Buche gegeben worden ift: in Wilhelm Arnold's
Berfafiungsgeichichte der deutjchen Freiſtädte (1854). Arnold
1) L. v. Ranke, Zur eigenen Lebensgeſchichte, herausg. von Wifred
Dove, ©. 174.
2) Bol. Alfr. Dove, Allg. Deutiche Bıogr. 27, 247. 251.
5) Ranke jelbit hebt auch hervor, daß man in den Zerritorien „jo nad
Einheit wie nad Ordnung ftrebte”, und daß „überall die Macht der innern
lofalen Antriebe mit der Autorität der Reichdgewalten wetteiferte”. Deutiche
Geſch. im Zeitalter der Reformation (fünfte Aufl.) 1, 223. Bol. auch ©. 41.
Man halte dagegen, was oh. v. Müller, 24 Bücher allgemeiner Geſchichten
(Gotta’jche Ausgabe von 1831) 5, 105 jagt: „Huch in der Gefchichte der Fürften
des teutichen Reiche jüngt man an, höhere und neue Abgaben von Land und
Verbrauche zu bemerken; Staatsgefahren oder dem Geiſte der Zeit angemeffene
Anftalten wurden der Vorwand. Wenn Gewohnheit fie erträglid gemadtt,
jo waren Gründe zur Perpetuirung nicht ſchwer zu finden.“ Beide Hiitoriter
äupern ſich nur jehr furz über das deutiche Yürftentyum in der Zeit des
Übergangs vom Mittelalter zur Neuzeit. Und doc iſt das, was fie jagen,
für ihr biltorifches Urtbeil überaus charakteriſtiſch.
% Val. L. dv. Ranke, Zur eigenen Lebensgeſchichte, herausg. von Alfr.
Tove, S. 556 f.
402 ®. v. Below,
1450')”, in dem er zugleich auf ihre vorausgehenden Kämpfe einen
Blick wirft und nach einer allgemeinen Betrachtung über die Reſultate
des heftigen Streites bemerft: „E3 bereitete ſich auf allen Seiten
die Entwidlung vor, durch welche am Ende des 15. Jahrhunderts
das Territorialfyitem zu vorwiegender Geltung, das Fürftenthum,
in einer Reihe bedeutender Perjönlichfeiten vertreten, zu jenem
innern Abſchluſſe gelangte, der ihm die Zukunft gefichert hat.
Gerade hierin aber mußten ihm die Städte zum Vorbild dienen,
deren ſtaatliche Organijation neben aller Eigenthümlichkeit jo
vieles enthielt, was für die neuen Bildungen zugleich die Grund»
idee und den Ausgangspunkt bergeben ſollte. So haben bie
Bürger, indem jie ihr Gemeinweſen und die politiiche Selb»
jtändigfeit desjelben gegen Die Angriffe der Fürſten und des
Adels ſchützten, nicht bloß den Boden gejichert, auf welchem Künſte
und Wifjenichaften, die ganze reiche Kultur jener Tage immer
glänzender ſich entfalten jollten, jie haben eine bedeutungsvolle
Errungenichaft auch für das ‚Staatsleben der Folgezeit davon⸗
getragen*. Kern gibt feinen Worten zwar feine weitere Be
gründung. ber fie verdienen wegen ihrer geichidten Formu⸗
lierung und wegen des YZujammenhanges, in dem er den Ge
danken Arnold’8 wiederholt, Erwähnung.
G. 8%. v. Maurer hat in feiner in den Jahren 1869—71
erichienenen Geſchichte der Städteverfajjung in Deutichland?) auch
die Abhängigfeit der territorialen von der jtädtiichen Verwaltung
jtarf betont und durch mancherlei, wiewohl nicht immer wohl
gejichteted Material belegt.
Sehr energiich hat jodann Bierfe die Vorbildlichfeit der
Städte für die Einrichtungen der Territorien betont. In den
in den Iahren 1868 und 1873 erichienenen erjten beiden Bänden
feiner Darftellung des „deutichen Genoſſenſchaftsrechtes“ ſpielt
gerade jener Gedanke eine Hauptrolle Er ift eng mit der
Grundidee des Buches, der von der rechtbildenden Straft des
1), Hiftoriiche® Tafchenbuh, herausg. von %. v. Naumer, 4. Folge,
7. Jahrg. S. 9T—124. Wiederabgedrudt in den „Geichichtlihen WBorträgen
und Auffäpen” von Th. v. Kern (1875) S. 102 ff.
2) Bgl. namentlid 4, 82 fi.
ah.
404 G. v. Below,
Förderung unjerer Kenntnis der deutſchen Verwaltungsgeſchichte.
Indeſſen eine allgemeine zuſammenfaſſende Würdigung jenes Zu:
jammenhange® hat man inzwiſchen nicht wieder unternommen.'!)
Es jehlt jogar noch viel daran, daß die Ausführungen Arnold's,
Maurer’s, Gierke's und ihrer Nachfolger überall berüdiichtigt
werden.) Wohl weiß man heute überall, auch außerhalb der
Kreiſe der Hiftorifer, daß das Dlittelalter die Zeit der „Gejtaltungen
Hleine® Umfangs“ ®) ijt, daß mit dem Beginn der Neuzeit der
Staat fid) die kleinen Gemeinmwejen unterordnet, und daß „uns
jtreitig ein Gewinn an allgemeiner Ordnung und Sicherheit in
der Niederdrüdung der unzähligen Eleinen Gewalten vor wenigen
großen lag“.*) Allein den Zujammenhang zwijchen dem reichen
und intenfiven Leben der Gemeinden des Mittelalterd und der
ergiebigen Thätigfeit der jpäteren Staaten hat man noch zu
wenig erforjcht. Und doch wird es erjt durch die Ergründung
diefes Zufammenhanges ar werden, weshalb die Beit der Städte
durch die der Staaten ohne einen Verluft an allgemeiner Kultur
abgelöft werden konnte, weshalb die Ablöjung vielmehr deren
Fortſchritt beförderte, nicht etwa bloß um der „Ordnung und
1) Sturz weift auf den Zuſammenhang %. dv. Bezold, Gefch. der deutjchen
Reformation S. 26 f. hin.
2) In den PDarjtellungen der deutfchen Geſchichte von Nipfh und Kamp
recht, in welchen über Beriajiung, Verwaltung und Wirthſchaft fo viel
gefprodyen und jo menig gejagt wird, jucht man vergeblich nad) Belehrung
über diejen Punkt. Vgl. z.B. Nitzſch, Geſchichte des deutfchen Volkes (1885)
3, 444 ff. Was Lamprecht hierüber jagt, beſteht hauptſächlich nur in einem
reichlichen Gebrauch der Worte „geldwirthſchaftlich“ und „individualiftiich”.
Bol. 3. B. Lampredit, Deutſche Geſchichte 4, 171 und 514, 4 ff. Dronien
a. a. O. S. Y und 14 5. bat dad, was Nampredjt andeuten will, fchon befler
ausgedrüdt.
2) Lope, Mitrotogmus 3 (vierte Aufl., 1888), 159. gl. ebenda
©. 162: „Wir ſehen auch dieſes reihe Leben das der Städte) in einer
Menge jicharjbegrenzter Körperſchaften Aryitallifiren.“
) A. a. 0. €. 169. Ebenda bemerkt Lotze von den einzelnen Gemeinden
de Mittelalters, daß „deren lebhafter und würdiger Gemeinſinn dod nid
für die mangelnde Größe und Vielfeitigleit der Berhältnifie entichädigen fonnte
und deren wechleljeitige Beziehungen unjiher und unorganifirt geblieben
waren”.
406 G. v. Below,
Territorien und Städten in Oberdeutſchland ſchildert. Wir
haben es eben hier mit der in der gejchichtlicden Entwidlung
nicht felten hervortretenden Thatjache zu thun, daß nach heftigen
Kampfe die unterliegende Bartei als die Lehrmeifterin der jieg-
reichen erjcheint. Es wird aber ſehr wejentlich zum Berjtändn
dieſes Verhältnifjes beitragen, wenn wir die Natur der von dent
Territorien gegen die Städte geführten Kämpfe feitzuftellen juchen-
Th. v. Kern!) jpricht von einem „PBrincipienfampf“ zwiſchen
Landesherren und Städten. Es iſt richtig, daß die Städte über-
zeugt waren, die Landesherren wollten fie unter ihre Gewalt
bringen.?) Wenn die Barteien fich nicht ohne Ausnahme nad)
den Ständiichen Gruppen jonderten, fondern manche Städte es
mit den Landesherren, manche Landesherren ed mit den Städten
nur für da8 frühere Mittelalter (und auch Hier nicht fo unbedingt) zu. Bgl.
Loge, Mikrolosmus 3, 163: „In vieliahen Beziehungen jtand am Anfange
des Mittelalters die Kirche an der Spitze des Fortſchritts und der Zivilifation;
die meijten gemeinnügigen Cinridytungen gingen von ihr aus“ u. ſ. w.
1) Hiftor. Tafhenbud a. a. O. ©. 99 fi.; Chroniten ber deutſchen
Städte 2, 417. Mir Rückſicht zunächſt auf die Kämpfe des 14. Jahrhunderts,
aber doch wohl auch in einem allgemeineren Sinne urtheilt dagegen Yindner,
Deutſche Geichichte unter den Habsburgern und Yuremburgern 2, 144: „Dar
wirtbichaftlidhe und innere eben der Neicheftädte und der größeren Fürſten⸗
ſicidte unterſchied ſich nicht wejentlid. Doc, iſt es nicht richtig, deswegen
dad Bürgertum als eine Einheit aufzufafjen, deren Vertreter die Reichdſtädte
geweſen wären, und ebenjo irrig ift es, von einer grundfäglichen Feindſchait
zwifhen BürgertHum und Fürſtenthum zu reden. Die Reeichsſtädte fin>
niemal8 die Vorjehter eines Geſammtbürgerthums geweſen und haben es
niemal3 fein wollen. Sie jdylojien nur einen Bruchteil der bürgerlichen
Bevölferung ein. Die übrige, an Zahl weit überwiegende Menge war vertheilt
unter die vielen Landesherrſchaften.“ S.145: „Die Behauptung, der Kampf
zwiſchen Fürſten und Bürgerichaften fei eine Reaktion des Landes gegen bie
Stadt, gemwifjermaßen ein Widerjtand gegen die bloße Geldmacht geweſen. it
. wohl geiftreidher als richtig.” Diefe legtere Bemerkung richtet fich wohl
gegen Nitzſch a. a. C. S. 369 und 445 fi. Vgl. hiezu und zum folgenden
jerner Priebatih, Die Hohenzollern und die Städte der Mark im 15. Jahr:
hundert, 5.2 ff. Auf die Stellung des niederen Adeld zu den Städten (vgl
Priebatſch S. 4 ji.) einzugehen, würde bier zu weit führen.
2) Th. v. Kern, Hiftor. Taſchenbuch a. a. ©. ©. 103 Anm. 5 und S. 122;
Frensdorff. Hanſiſche Geſchichtsblätter, Jahrg. 1893 S. 77.
408 G. v. Below,
vielen, oft eigenmäcdhtig von den Landesherren errichteten Boll
jtätten.!) Allein fie ſchwärmten feineswegs für allgemeine Zoll.
freiheit; fie hielten vielmehr den Zoll, der in ihrer Hand war,
ihr Stapelreht und das „Säjterecht”, welches fremden Gewerbes
treibenden gegenüber wie ein Schutzzoll wirkte, feit und fuchten
fie zu erweitern. Bon Seiten der Landesherren wird den
Städten am meijten wohl das Pfahlbürgerthum zum Vorwurj
gemacht. Ihr Wideritand gegen dieje Einrichtung zeigt fie und
aber in denjelben Beitrebungen, die die Städte verfolgten. Zu
Pfahlbürgern ließen ſich folche Unterthanen der Landeöherren
aufnehmen, welche ſich ihrer territorialen Steuer nnd Gerichts
pfliht entziehen wollten.”) Wenn die Fürſten biergegen ein
Ichritten, fo thaten fie nichts anderes als die Städte, Die ihren
Gemeindebezirk zu einem feit geichlojjenen Steuer: und Gerichte
1) Die Beichwerden über die vielen läſtigen Zollftätten werden nidt
bloß außerhalb der ZTerritorien, d. Hd. von den Neichsftädten und mit ihnen
vereinigten Landftädten vorgebradht, jondern auch innerhalb, d. 5. von den
Zandftädten bezw. Landftänden gegenüber dem eigenen Landesherrn, und zwar
mit Erfolg. Vgl. ©. v. Below, Landtagsaften von Jülich-⸗Berg 1, 152 und
10. Dan erjieht daraus, daß bis zu einem gewifjen Grade die Zwecke der
Städte auch ohne Reichsſtädte und Städtebündnifie erreiht werden konnten.
Aber jreilih aud nur bis zu einem gewiſſen Grade: nämlich höchſtens ſoweit,
als die Macht des eigenen Landesherrn reichte.
2) Vgl. Kniele, Die Einwanderung in den weitfäliihen Städten bis
1400 (Münjter 1893) S. 48 fi.; ©. v. Below, Landitänd. Verf. 31, 38 }.;
Priebatſch 1, 150 Anm. 5; Mar Georg Schmidt, Die ftaatsrechtlidhe Ans
wendung der goldenen Bulle bis zum Tode König Sigmund’3 (Halliide
Difiertation von 1894) S. 36. Cine völlig verkehrte Anſicht von dem Pfahl
bürgerthum hat Nitzſch 3, 321: „Welche Anziehungskraft diefe neue ftädtiide
Kultur mit ihrem lodenden Berdienft und ihrem entwidelteren Lebensgenuß
auf die außerjtädtiiche Bevölkerung äußerte, erfennen wir aus ben... MRab-
regeln gegen die Ausbildung des Pfahlbürgerthums.“ Er denkt fi die
Vfahlbürger (d. h. die cives non residentes!) aljo wie moderne Dienſt⸗
boten, die dag platte Land verlafien, und überfieht vollftändig, daß jene aut
dem Lande figen blieben! Woher weiß Lampreht a. a. O. 4, 113 f., dei
die Pfahlbürger ſich aus „ben fräftigiten Bevölkerungsſchichten des platten
Landes“ refrutirten? Es ift auch mißverſtändlich, wenn er die Werbote dei
Pfahlbürgerthums „Lonjervativ“, „zurüdhaltend“ nennt. Sie find etwas, wei
durch die fortichreitende Entwidlung gefordert wurde.
ſ
sr?
2.2
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je = rob ber Unterftägung ber: Dbrigfeit — ni
fonnten.®)
a. 0.0. S. 117 ff. und 124; ©, v. Below, Urjprung
®
E te Arosa Den: Bea ee
410 ©. v. Below,
Alles dies beweift, wie völlig verkehrt es wäre, die Landes
herren des Mittelalters als Vertreter jpezifiich Ländlicher Ju—
tereſſen den Städten feindlich gegenüberjtehend ſich vorzuftellen.
Nicht etwa, daß fie ländliche Intereffen den Städten gegenüber
vertreten hätten, jondern daf fie fich um ftädtijche wie ländliche
Intereffen recht wenig fümmerten, charafterifirt fie Man darf Fi
fogar, wie wir e& eben ſchon hervorgehoben, behaupten, daß fie ee
den Städten mehr Aufmerfjamfeit als dem platten Lande zu ——
wandten, jene vor diefem begünftigten. An vielen Dingen aber, „rt,
denen die Städte fich mit dem größten Eifer widmeten, nahmen⸗ —— n
fie auch gar feinen oder wenigjtens feinen lebendigen Antheil; under zeıb
wenn fie mit ihnen eben deshalb hier faum in Konflikt geratherme—en
fonnten, jo erfuhren dieje ftädtijchen Anliegen doc aus demfelber een
Grunde auch wiederum feine Förderung durch fie. Sie empfanderee—en
gar nicht oder jo gut wie nicht das Bedürfnis einer Ordnunge ang
diefer Verhältniffe. Die leptere blieb im Mittelalter faft ganzny
den Städten (beziehungsweije privaten Genofjenjchaften) über —er-
lafjen. Darin liegt die innere Rechtfertigung für das group "he
Maß von Selbtändigfeit, welches jie behaupteten. Sie bw he
durften ihrer, um ihre Angelegenheiten rückhaltlos wahrnehme— zen
zu können. Um nur ein fprechendes Beifpiel herauszugreifen rn:
die Hanja hat ihre Erfolge zum großen Theil deshalb errungerer—en,
weil die unabhängige Stellung der Hanjajtädte es ihnen gr grmge
ftattete, eine hauptſächlich auf die eigenen Verfehröintereffen g d S ge⸗
richtete Politit zu verfolgen.)
Welche Gründe es geweſen find, die die Erjegung der Selm e—Ib-
jtändigfeit der Städte durch ihre Abhängigkeit von den Landee —⸗es
herren nothwendig gemacht haben, das wird fich zum Tiril
gerade aus dem weiteren Verlaufe unjerer Unterfucung ergeber cn.
Die Territorialgewalten haben ihr Übergewicht
ducch offenen Kampf hergeitellt.°) Die Zeiten dieſer Ariege errsenit
1) Vgl. Dietrich Schäfer, Artifel danſe im Handwörterbud ve nz
wiſſenſchaften 4, 389.
9) Sowohl bei dem offenen Kampf wie bei dem friedlichen
gegen die Stäbte famı den Sandeäherten oft bie innere Uneinigteit ber ger
haften (ie wieherum einen Beweiß bon ber Nothwenbigeit einer übe den
und
Yuıı
412 G. v. Below,
an die Vergangenheit anlegen. Man hat vielmehr für jede Periode
der geſchichtlichen Entwicklung aus ihren Vorſtellungen heraus
den Begriff des Staates feſtzuſtellen. Es gibt keinen „eigentlichen
Staat“. Wenn man in jener Weiſe verfährt, wird man auch in
der Zeit vor dem Aufkommen der Städte unſchwer beſtimmte
Vorſtellungen von ſtaatlicher Ordnung entdecken.
Selbſt in der Beſchränkung läßt ſich Arnold's Anſicht nicht
halten, daß der ſpäter in den Territorien vorhandene Staatsbegriff
unter dem Einfluß des ſpeziellen in den Städten entſtandenen
Staatsbegriffs ausgebildet worden iſt. Denn erſtens boten die
Städte dafür feinen Anknüpfungspunkt.) Und zweitens trugen
die Territorien in fich den Keim für die Weiterbildung des Staat
begriffd: wie dag Territorium aus der Grafichaft, jo Hat fich der
Begriff der Landesohrigfeit, der Zandeshoheit aus dem der gräf
lihen Gewalt entwidelt.e. Schon im 13. Jahrhundert?) ift der
Begriff terra, dominus terrae, dominium terrae vorhanden,
und aus ihm als einem allgemeinen Begriff werden einzelne Rechte
abgeleitet.
Es ijt eine verbreitete Vorjtellung?), daß im Mittelalter
nur in den Städten ein politiſches Verhältnis zivifchen dem
einzelnen und der höheren Gewalt vorhanden?), daß ım übrigen
der Untergebene an den Herrn durch ein lediglich perjönliches
1) Giertke ſelbſt hebt, obwohl er von einem Einfluß der Stadt: auf bie
Zerritorialverfafjung ſpricht, a. a. O. 2,857 den Unterſchied zwiſchen dem
Staatebegriff der mittelalterlihen Städte und dem ber fpäteren Territorien
bervor.
2) Yuf das 12. Jahrhundert einzugehen, ijt in diefem Zufammenhange
nicht nothwendig. Vgl. darüber Waitz, Verfaſſungsgeſchichte 5 (zweite Aufl.,
196 f.; 7, 3065. ©. auch 9. 3. 63, 296 ff.
2) Mar Dunder, Yeudalität und Ariftofratie (Abhandlungen aus der
neueren Geſchichte' S. 5 führt es als eine Bejonderheit Englands gegenüber
dem Kontinente an: „Tie Erhaltung des Grafſchaftsgerichts ... hat ben Sieg
der jeudalen Arijtofratie über das Königifum und über das Bauernthum in
England verhindert.” Allein in Deutichland ift da8 Grafichaftägericht audı
erhalten geblieben!
9) Vgl. D. Schäfer, Die Hanfejtädte und König Waldemar von Täne
mart ©. 242.
414 G. v. Below,
deshalb Habe ich e8 durch die Wahl des Themas ald Zweck der
vorliegenden Abhandlung bezeichnet, feitzuftellen, auf welchen
Gebieten der Territorialverwaltung ſich ftädtiicher Einfluß
geltend gemacht hat. Zunächſt lenkt fich der Blid auf das
Amterweſen.
1. Die Verwaltungsorganiſation und das Beamten:
thum. Das wictigfte Ereignis aus der Gefchichte des Amter-
weſens in der zweiten Hälfte des Mittelalters ijt Die Verdrängung
des Lehnsweſens aus dem Beamtenthum. Sn der Zeit vom
9. bi8 zum 12. Sahrhundert hatte fich das Lehnsweſen der jtaat-
lihen Amter in weitem Umfange bemädtigt. Die Ämter hatten
damit ihren alten Amtscharafter zwar nicht vollitändig, aber doch
in wejentlihen Stüden verloren. In der Reichsverfaſſung hat
das Lehnsweſen auch bis zum Schluſſe der Reichszeit feine Be
deutung behalten. Dagegen in den Territorien lebt das reine
Beamtenverhältni® wieder auf. Wie iſt es wiederhergeſtellt
worden? Wir können hier zwiichen der Entwidlung in Stalien
und der in Deutichland unterjcheiden. Dort haben die Etädte
einen großen Antheil an der Verdrängung des Lehnsweſens.!)
In Deutichland dagegen ift davon faum die Rede. Hier haben
die Landesherren, hauptjählic mit Hülfe ihrer Miniiterialität®),
das Lehnsweſen aus dem Beamtenthum bejeitigt. Die deutichen
Städte hätten ſich nur dann erhebliche Verdienſte darum eriverben
fönnen, wenn fie, wie die großen italienischen Kommunen, jich zu
Territorien erweitert hätten. Ihre Verdienfte find geringer als
die der Städte ciniger anderer Völfer, weil fie weniger mächtig
waren. Unſere Audeinanderjegungen werden uns noch öfters
auf diefe Thatſache führen. Es mag daher jogleich Hier eine
1) Bl. Fider, Forſchungen zur Reichs- und Rechtsgeſchichte Ztaliens
2,275: „In jehr weitem Umfange war bier die feudale Ordnung von unten
auf durch das Emporjtreben der Städte befeitigt oder zerſetzt.“
2) Vgl. ©. v. Below, Urfprung der deutihen Stadtverfaffung S. 115;
9. 3. 59, 225 fi.; 63, 302 f. Id fage abſichtlich: von einem Verdienſt ber
Etädte iſt in Deutichland in diefer Hinfiht „taum“ die Rede. Denn ein
fleine® Verdienſt kommt ihnen allerdings zu, inſofern ſie für das wenig
umfangreiche Stadtgebiet die Übertragung von Ämtern zu Leben ausfchlofien.
418 ®. v. Below,
Obwohl hienach die Städte nicht die beitinnmten Formen für
die Neufhöpfungen in den Territorien geliefert haben, fo ift der
jtädtijche Verwaltungsförper doch in dem Sinne vorbildlich geweien,
wie wir das Wort typiſch gebrauchen. Auf die Bedeutung, die den
Rathsdeputationen in diefer Beziehung zufommt, haben wir ſchon
bingewiejen. Ebenſo verhält es ſich aber mit der reicheren Entfaltung
des ſtädtiſchen Beamtenthums überhaupt. Die großen Städte, wie
Köln, Kübel, Nürnberg, haben ſchon im 14. Jahrhundert mehrere
Clerici oder Juriften zugleich in ihrem Dienfte; in Köln find im
15. Jahrhundert vielfach die Rechtslehrer der Univerfität zugleich die
geihworenen Räthe der Stadt.!) In der Umgebung der Landes
herren dagegen finden wir Männer mit gelehrter Bildung nod)
nicht jo früh. Bon den größten Territorien abgejehen?), jegen
ſich die Räthe der Landesherren big weit in das 15. Sahrhundert
hinein aus ungelehrten Mitgliedern des Landedadeld und einem
geiftlichen Kanzler, der jedoch ebenfall® noch keineswegs immer
gelehrte Bildung befigt, zujammen.?) Speziell auch beim Kanzler
amte erfennen wir die voraugeilende Entwidlung der Städte.
Entlehnt it der territoriale Kanzler nicht ihnen, fondern dem
1) So bemerkt W. Etein, Deutſche Stadtjchreiber im Mittelalter, Bei
träge zur Geſchichte vornehmlidy Kölns und der Aheinlande (Feftfchrift für
Mevifien, Köln 1895), S. 47. Vgl. Stobbe, Geſchichte der deutichen Rechto⸗
quellen 1, 643.
2) Über Böhmen unter Karl IV. vgl. Burdad) ©. 30 ff. Hierbei ift
indefien zu berüdjichtigen, daß Karl IV. zugleid, König war. Bgl. übrigens
Stobbe 1, 633. Aus einem mittleren Zerritorium führe ih an, dab in
Urkunde des Herzogs von Jülich-Geldern von 1407 (Lacomblet, Urkunden:
buch Bd. 4 Nr. 48) Joh. vom Neuenftein doctoir in keyſerrechte als herzog⸗
liher Rath erſcheint. ©. über ihn Keuſſen, Die Matrikel der Univerfität
Köln 1, 54; Weitdeutiche Ztichr. 9, 366 j.
>) Vgl. Kruſch, Der Eintritt gelehrter Räthe in die Vraunſchweigiſche
Staatöverwaltung und der Hochverrath des dr. iur. Stauffmell, Ziſchr. des
bift. Vereins f. Niederſachſen 1891 ©. 63: „Bei dem Friedensſchluſſe zwiſchen
den Braunſchweigiſchen Fürften und Städten 1486 waren Dr. Joh. Seborch
ala Vertreter der Stadt Braunſchweig und Dr. G. Giejeler ald Abgeordneter
der Stadt Göttingen thätig, während die Yürften noch durch Ritter und einen
geiftlihen Stanzler vertreten waren“. ©. L. v. Maurer 4, 1883 f. weiſt hier
aud) auf da® „Vorbild der Städte“ Bin.
420 G. v. Below,
alter3 die Territorien eine erhöhte jtaatliche Thätigkeit entfalteten,
haben die an der Spige der Verwaltung jtehenden Kanzler nicht
bloß an äußerem Anfchen die Stadtichreiber übertroffen.
Mit Rüdfiht auf das höhere Alter und die reichere Ent
wiclung der ftädtiichen Verwaltung fünnte man noch auf die
Bermuthung fommen!), daß die Landesherren in der Zeit, in
der fie ihre Thätigfeit zu erweitern begannen, ſolche Beamte
bevorzugt hätten, die vorher im ftädtiichen Dienst thätig geweſen
waren. Indeſſen die Annahme eines direften Einfluſſes der
tädtifchen auf die territoriale Verwaltung bewährt ſich aud) bier
nidjt. DVergegenwärtigen wir ung dein Lebenslauf der befannteiten
Stanzler aus der Zeit des Übergangs vom Mittelalter zur Neu-
zeit. In Brandenburg ift der erſte namhafte Kanzler Seſſel⸗
mann. Bon Haus aus Pfarrer in Cadolzburg, verdankt er jeine
ipätere Laufbahn offenbar zunächit den perjönlichen Beziehungen,
in die er dort zu der Hohenzollern'schen Familie trat. Um 1436
ericheint er in fürftlichen Dienjten. Aber bald gibt er fie auf,
um in Bologna den Studien obzuliegen. Von dort zurückgekehrt,
im Befig eines akademiſchen Grades, erhält er jegt das Kanzler:
amt, das er dann bis zu jeinem Tode verwaltet hat. Won den
Ipäteren brandenburgijchen Kanzlern erwähnen wir die beiden
Diſtelmeier.“) Lampert Diftelmeier, aus Leipzig gebürtig, macht
der Amtstitel Kanzler. Roſenthal, Verwaltungsorganiſation Baierns 1, 270:
Riezler a. a. O. Kruſch a. a. O. S. 205 ff. berechnet, daß in den meiſten
nord⸗ und mitteldeutſchen Territorien die Annahme des Kanzlertitels durch
die Vorſteher der Kanzleien ungefähr um das Jahr 1443 erfolgt. — In den
Städten war im 13. Jahrhundert ab und zu der Kanzlertitel üblich geweſen.
dann aber wieder verſchwunden (Stein a. a. O. S. 39 und 52).
1) So Droyien a. a. O. ©. 14: „Die geiftliyen und weltlichen Fürjten,
die ihren Vortheil verftanden, waren froh, von dorther (nämlid aus den
Städten) Räthe gewinnen zu können.”
’, L. Lewinski, Die brandenburgifhe Kanzlei während der Regierung
der beiden eriten bohenzollernfhen Markgrafen (1411—1470), S. 54 fi;
Etölzel a. a. D. S. 62 fi.
” Bol. Stölzel a. a. O. S. 191 ff. Nicht viel anders ald mit Lampert
Diftelmeier verhält e8 jid) mit Martin Mair (Ag. Deutiche Biogr. 20, 113 ff.)
Er erwarb übrigens den Doltorgrad aud) während feines ftädrifchen Dienftes.
422 G. v. Below,
Sie wiederholen, wie ihr Amt der Reichskanzlei nachgebildet ift,
auch den Bildungsgang der föniglichen Kanzler. Typiſch ift der
Lebenslauf des erjten föniglichen Kanzler aus dem Laienitande:
Kaſpar Schlid erhielt das Kanzleramt, nachdem er eine Univer-
fität (wahrjcheinlich Bologna) bejucht hatte und in einer landes-
herrlichen Kunzlei (der des Biſchofs von Agram) in den Kanzlei»
dienjten unterwiejen worden war.!) Nun finden wir freilich
gerade in der Zeit des Übergangs vom Mittelalter zur Neuzeit
jehr oft landesherrliche Räthe, die zugleich Räthe einer Stadt
jind.?) Allein dieje find nicht deshalb von den Landesherren
in ihren Dienſt gezogen, weil fie ftädtiiche Beamte find; jondern
Landesherren und Städte haben fich gemeinfam ihrer aus dem
gleichen Grunde verfichert, weil fie nämlich ihre juriſtiſche
Bildung fchägten.S) Überdies handelt es fich Hierbei nicht um die
eigentlich einflußreichen landesherrlichen Räthe, vielmehr haupt
jählih um foldjye, deren Meinung in einzelnen auftauchenden
Rechtsfragen eingeholt wird.
Ülberhaupt jtanden damals Praxis und Theorie, d. h. Kanzlei und Univerfität,
in innigen Beziehungen. Über die Univerfitätsftudien der Beamten der Reid
tanzlei unter Karl IV. und Wenzel handelt Burda 5.42 ff. Karl’s IV.
Kanzler Joh. v. Neumarkt widmet Cola di Rienzo enthufiaftiihe Bewunderung
(a. a. O. S. 88 f..
1) Typiſch iſt ſein Lebenslauf für die ſpäteren landesherrlichen Kanzler
nur vielleicht inſofern nicht, als er ein Bürgersſohn aus Eger war. Denn
obwohl einerſeits die Zahl der bürgerlichen Räthe neben den ritterlichen ſeit
dem Beginn der Neuzeit zunimmt, fo mehrt ſich doch andrerſeits unter den
ritterlihen Näthen die Zahl derjenigen, welche gelehrte Bildung bejigen und
darum für dag Sanzleramt geeignet find. Ohne Zweifel ift die Zahl der
adeligen Kanzler feit 1500 größer als vorher (die „oberften Schreiber“ des
Mittelalter als Kanzler gerechnet).
2) Es jei nur an Gregor Heimburg erinnert. Sonſt vgl. 3. B. meine
Landtagsakten 1, Nr. 242 (S. 727 Anm. 1).
) Wattenbach, Schriftweſen im Mittelalter (zweite Aufl.), ©. IW
(ſ. aud ©. 394;, und W. Stein, a.a. DO. S. 53, maden darauf aufmerfiam,
daß man auf der Univerjität Erfurt im 15. Jahrhundert die Unterweiſung
in einem befonderen stilus civitatis fannte. Ein Student rühmt fidh, dad er
nicht bloß diejen beberriche, jondern aud) für andere Kanzleidienſte geeignet
jei. So ſtehen denn in ver That der ftädtifche und der landesherrliche Manzleis
dienst getrennt neben einander.
424 G. dv. Below,
daB die größten Kommunen in jener Zeit in der Technik des
Schreibweſens (namentlih was die inneren Verhältniffe der
Stadt betrifft) den meiften Territorien voraus waren. Dennod)
bat das territoriale Schreibwejen eine beftimmten Formen nicht
aus den Städten, jondern vom Reich oder von den franzöftichen
und niederländiichen Nachbarländern erhalten.?)
Staat und Gemeinde bier zufammenfallen. Das territoriale Archivwejen litt
Überdies noch unter dem Umjftande, daß die Ardjivalien in verfchiedenen
landesherrlichen Schlöſſern, rejp. in Schlöffern und Klöftern, nicht an einem
Orte aufbewahrt wurden. Vgl. Wattenbach, Schriftwefen im Mittelalter
(2. Aujl.), ©. 537; Breßlau, Urkundenlehre 1, 149; Rofenthal, Verwaltungs
vrganifation Baierne 1, 272 ff.; Lewinski, Brandenburgifche Kanzlei, S. 125 ff.;
8. dv. Below, Sandtagsaften 1, 136 f. Über das ftädtifche Archivweſen vgl
VBreßlau a. a. ©. 5.149; Ulrich, Zur älteren Gefchichte des Kölner Ctadts
archivs, Mittheil. a. d. Stadtarhiv von Köln 10, 1ff. Bgl. hierzu aud
W. Stein in der Meviſſen-Feſtſchrift, S. 34.
) Wie das territoriale Urkundenweſen im allgemeinen unter dem Ein
luß des königlichen jteht, fo iſt insbeſondere auch von der subscriptio (Unter
fertigung; f. über deren allgemeine Bedeutung Seeliger, Dad Hofmeijteramt
S. 97; Lewinski ©. 76 fi. und S. 87 ff.) diefe Abhängigfeit hervorgehoben
worden. So bemerkt Kruſch, Ztichr. d. Hijt. Vereins f. Niederjachfen 1893, S. 21,
dag in Braunſchweig jeit 1471 der betreffende Gebrauch der faijerlihen Kanzlei
jur Anwendung kam. Bgl. ferner Wagner, Ardival. Ztichr. 10, 39. In der
That wird für die meiiten deutfchen Territorien in diefer Beziehung das Borbild
der Reichskanzlei maßgebend gemwejen jein. Allein für die nordweſtdeutſchen
Territorien möchte ich niederländiichen Einfluß annehmen. In Jülich und Berg
bat die subscriptio nämlid die bejtimmte Form, die in ben geldriichen Urkunden
üblich ijt. Ferner begegnet fie hier fpäter als in Geldern: in Berg findet fich die
subscriptio (in der Urfundenabtheilung Jülich-Berg des Düfieldorfer StaatE:
archivs, nad frdl. Mittheilung der Ardivverwaltung) zum eriten Wal 1884,
in Jülich jogar erjt 1402, während fie in Geldern ſchon viel früher häufig vor⸗
tommt. Bol. z. B. Nijhoff, Gebentwaardigheden 2, Nr. 109. 184. 186. Alſo
wird in Zülih und Berg der geldrifhe Kanzleigebrauch nachgeahmt worden
fein. Vgl. nody meine Nandtagsatten 1, 72 Anm. 3. Jener Nachweis betrifft
icheinbar nur eine Einzelheit, läßt ſich aber aud) für die Gejchichte der Ber
einflufjung der deutichen Territorien von Weiten ber im allgemeinen vers
werthen und deutet an, wie etwa daS burgundijcheniederländifche Vorbild die
Berwaltungsorganijation in den deutichen Territorien beeinflußt hätte, wenn
Marimilian I. nicht dur jeine Heirath in bejondere Beziehungen zu bem
burgumdifchen Niederlanden getreten wäre. Zur libernapme burgundiſcher
Einrihtungen vgl. auch die Stiftung der neuen Orden (Schmanenorben,
426 G. v. Belom,
Auf dem Gebiete des Gerichtswejend haben ſich die Landes»
herren weiter um die Befeitigung des Fehdeweſens und des Raub»
ritterthums verdient gemadt. Sie haben dabei die Bundes
genofjenichaft der Städte gehabt.) Wir dürfen fogar jagen,
daß die Städte im eigentlichen Mittelalter mehr Eifer für die
Befeitigung jener Übelftände gezeigt. haben. Allein die Haupt
arbeit haben jchließlih die Landesherren gethban. Denn Recht
und Ordnung fonnten nur diejenigen vollitändig herſtellen, welche
die weiten Flächen der Territorien bejaßen.?) Die Städte hätten
dieje Aufgabe nur löfen können, wenn fie jelbft jich zu Territorien
erweitert hätten. So wie aber die Verhältniffe einmal lagen,
fiel die Hauptarbeit bei der Befettigung der im Lande herrichenden
Gewaltjamkeit den ZXerritorialherren und dem Reiche, übrigens
dem ftändifch?) gegliederten Reiche, zu. Die Städte haben Die
nunmehr ein jeder Reichsſsſtand in feinem Lande das Gerichtsweſen auf einen
gewifien Fuß fegen konnte.” — ©. L. v. Maurer 4, 95 ff. geht in dem,
was er über dic Vorbildlichkeit des ftädtiichen Gerichtsweſens fagt, zu weit.
Namentlid darf man nicht in der Weife, wie er es thut, der mittelalterlichen
Stadt das Princip der Trennung von Juſtiz und Verwaltung zufchreiben.
Die Frage nad) der Bertheilung der Kompetenzen zwiſchen Schöffenkollegium
und Stadtrath 3. B. wurde oft genug durch einen einfadyen Kampf um bie
Madıt entichieden.
1 Sch fage abjihtlih: die Bundesgenofienihaft der Städte. Die
Zandesherren haben au jhon im Mittelalter die Sorge für den Landfrieden
feinediveg& den Städten allein überlaffen. Knipping (in der unten zu er
wähnenden Abhandlung über den kölniſchen Jahreshaushalt, S. 144) bemerft
darum mit Redt: „Die gemeiniamen Intereffen der Fürſten und Städte“
haben zum Abfchluß des Landfriedensbundes von 1355 geführt. Vgl. G. v.
Below, Landjtd. Verf. 2, 58; Landtagsalten 1, 113 fj. 13% ff.
2, Vgl. Droyſen a.a.0.6©.105.: „Wie tapfer die Städte jene ver
wilderte Nitterlichleit . . . verfolgen mochten, es war dod) nur bier und da
ein Einzelner, den fie griffen . . .; das Übel auszurotten, mußte eine größere
Macht da fein.” Bücher, Entjtehung der Volkswirthſchaft S. 214 ſchlägt in
diejer Beziehung die Berdienfte der Städte etwas zu hoch an. Charakteriftiich
it es, daB viele Verträge zur Bejeitigung der Öffentlichen Unſicherheit aud«
ſchließlich von Landesherren, ohne Mitwirtung von Städten, abgefchlofien
worden find. Vgl. die in meinen Landtagsaften 1, 212 ff. erwähnten Bors
träge und GScotti, Geſetze von Kleve-Mark 1, Nr. 22 und 35.
3) Vgl. M. Ritter, Deutiche Gejchichte im Zeitalter der @egenreformation
und des Dreißigjährigen Krieges 1, 17: „Ob biefe Behörde (das Reicht⸗
428 G. v. Below,
Unerörtert lafjen wir den Einfluß der Städte auf die Fort⸗
bildung des deutſchen Private, Straf, Prozeßrechtes, da wir
damit von unferem Thema zu weit abjchweifen würden. Es iſt
unbejtreitbar, daß ein jolcher vorhanden ift.!) Er wärc freilich
viel größer geweſen, wenn nicht die Rezeption des römifchen
Rechts dazwiſchen getreten wäre. So aber fteht die Entwidlung
des Rechts in den Territorien wefentlich unter dem Einfluß des
römijchen Rechts. Die Territorien öffneten ſich Ddiefem früher
und weiter als die Städte. Denn „hier hatte jchon im Mittel:
alter eine Reform des materiellen Rechts und des Prozeßrechts
jtattgefunden, welche das Stadtrecht dem fremden Recht gegenüber
widerjtandsfähiger machte. „Das Stadtrecht mar weit for
jervativer in der Erhaltung des einheimischen Rechts als das Land
recht, und jehen wir z.B. am Ojtjeejtrande die Städte lübiſchen
Rechts als Injeln deutichen Rechts Hervorragen, während dad
platte Zand vom römischen Recht überſchwemmt iſt.“?)
3. Das Kriegsmwejen. Arnold legt bejonders großen
Werth auf die Vorbildlichkeit der Städte, injofern ſie den Territorien
für das Kriegsweſen das Mufter geliefert haben. Freilich, wenn
er jagt, daß Feſtungen nicht älter find ala Städte?), jo ftimmen
wir ihm darin nicht bei. Denn wir fennen ja König Heinrich 1.
nicht als Städtegründer, fondern als Burgenerbauer.*) Aud)
dag die Städte in der Art des Feſtungsbaues?) vorbildlich geweſen
) Einiges darüber bei &. X. v. Maurer 4, %fi. Vgl. femer
W. Sidel, Zum älteften deutſchen Zollitrafrecht, Ztichr. f. d. gelammte Strai»
rechtswiſſenſchaft 7, 506 ff. (Nachtrag in Mitt. d. Inſtituts f. öſterreich.
Geihichtsforihung, 3. Ergänzungsband, 5.497). ©. 3.3. 5.518: „Auch Bier
gelangten fie (die Yandeäherren) durd) das Bürgerthum zu der Einficht, daB ihr
eigenes Intereſſe gewinnen würde, falls jie den Gewerbetreibenden die vollite
Sicherheit dafür böten, daß die Verwaltung ihn nicht ungerecht behandeln könne.
2) Worte Sohm’s, Fränkiſches Recht und römiſches Recht, ©. 78. Bgl.
bierzu auch Gierle, Badiſche Stadtredite und Nejormpläne des 15. Jahr:
hunderts, Ztſchr. j. d. Seid). des Oberrheins 1888, S. 129 ff.
®) Arnold 2, 135.
*% Vgl. darüber zulept Sleutgen, Unterjuchungen über den Urſprung der
deutſchen Ztadtverfajjung, S. 42 ff.
2) Qgl. Bierte 2, 858: „mit zum Theil auch äußerer Nachbildung bei
Sdldnerwejens, der jtehenden (sic!) Heere und Feſtungsanlagen“.
430 G. v. Belom,
Prozentſatz, der, bei den reichen Einnahmen Kölns, eine bedeutende
Summe daritelt. Der Kaiſer wie die Fürſten jahen ſich mehr
mals genöthigt, Gejchüge von den Städten zu entleihen.!) lud
wenn die Städte de Mittelalter® den Zandesherren im Felde
begegnen fonnten, jo verdanften fie das hauptſächlich den von
ihnen aufgeftellten jtarfen Söldnerheeren. Wohl haben aud) die
Fürjten jeit dem 11. Sahrhundert?) in jteigendem Maße Söldner
gehalten, wie andcerjeit3 die Städte durch detaillirte Beitimmungen
für die perjönliche Wehrfähigfeit ihrer Bürger geiorgt haben?)
Allein im großen und ganzen dürfen wir doch jagen: im Mittel:
alter haben die Zandesherren hauptſächlich durch Lehnsleute und
Unterthanen*), die Städte durch Söldnerheere gefämpft.°) Im
der Art, wie die Städte durch Ausnugung des Steuerrechtes
große Söldnericharen aufbringen, iſt das jpätere Verfahren der
Zandesherren vorbildlich gezeichnet. Indeſſen handelt es ſich auch
1) Arnold 2, 136 f. Andrerjeit® wird die Gießſtätte des deutjchen
Ordens in Marienburg gerühmt. Gengler, Über AÄneas Sylvius in feiner
Bedeutung für die deutfche Rechtögeichichte, S. 48. Die Stadt Hamburg bezog
übrigens ihre Büchſen von auswärts, jedoch aus einer anderen Stadt (Lübech
und aus Flandern (d. h. wohl aud) aus flandrifchen Städten). Koppmann,
Kämmereirehhnungen der Stadt Hamburg 1, XCVIH und 885.
3) Epannagel, Zur Geſchichte des deutichen Heerwejend vom Beginn
de3 10. bis zum Ausgang des 12. Jahrhunderts, S. TI ff.
2) G. 8. v. Maurer 1, 482 ff.; v. d. Nahmer, Die Wehrverfaffungen
der deutichen Städte in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts (Marburger
Difjertation von 1888); M. Balper, Zur Geſchichte des Danziger Kriegsweſene
im 14. und 15. Jahrhundert (Progr. des Gymnaſiums zu Danzig, Eftern
1893), ©. 5 ff.
* Vgl. ©. v. Below, Landſtd. Verf. 2, 59; Landtagsalten 1, 97 ff.;
Gött. Gel. Anz. 1895, S. 229. N. Schröder, Rechtsgeſchichte 8 47 Anm. 6,
erinnert daran, daB der NRitterjpiegel es für nöthig Hält, die Vorzüge der
„Mannſchaft“ vor den Sölbnern hervorzuheben.
6) Anipping a. a. O. S. 142 ff. Hegel, Chronilen der deutichen Städte 1,
185: „Was man auch von der Kriegstücdtigfeit der Städtebürger im Mittel:
alter rühmen mag, für dieje Zeit ijt nur jo viel wahr, daß der Krieg haupt⸗
ſächlich durch Söldner geführt und mit Geld von den Städten beftritten
wurde.” Zu berüdfichtigen ift biebei die Neigung der Bürger, fi durch
Geldzahlung vom Kriegädienjte zu beireien. Vgl. 3. B. G. L. d. Maurer 2,
840 und 844: 4, 107; v. d. Nahmer S 49.
432 G. v. Below,
anderen Form öfters wiederholt ift: „In den Territorien (im
Gegenjag zu den Städten) find wahre Steuern nicht älter als
geworbene Soldtruppen oder, wenn man will, noch jünger. Ihre
Entftehung fällt in das fünfzehnte und fechzehnte Jahrhundert.“
Allein die landesherrlichen Steuern jind viel älter, als Arnold
angibt. Die Landesherren erheben eine wirkliche Steuer!) jpätejtend
jeit dem 12. Sahrhundert: die Bede, lateinijch: petitio, precaria,
exactio, eine direfte Steuer, hauptfächlich eine Grunditeuer. Ein
Zandesherr des beginnenden 13. Jahrhunderts erklärt jchon, er
müfje Steuern (exactiones) erheben, da er ohne Geld das Land
nicht in Frieden halten fünne.?) Die Bede ift älter oder wenigitend
ebenjo alt wie die deutjche Stadtverfaljung.?) Die Städte find
aljo nicht die erjten Erfinder der Steuern in Deutſchland.
Indeſſen eine Steuer verdankt ihnen allerdings ihr Dajein: die
indirekte Steuer, die im Mittelalter ſog. Acciſe (Ungeld). Sie it
„gewifjermaßen eine Entdedung der Stadtgemeinde*“.*) Sie üt
die ſpezifiſch jtädtiiche Steuer und bleibt die wichtigite ſtädtiſche
Eteuer das Mittelalter hindurch.’) Andere Steuern haben die
1) Bgl. ©. v. Below, Landſtd. Berf. 31, 7 ff.; 9. 3.58, 196 fi. Über
die feitdem binzugefommene Literatur ſ. Metzen, Die ordentlichen direkten
Etaatsjteuern im Bistyum Münjter (Münijter’iche Differtation von 1896).
2) G. v. Below a. a. O. S. 5.
2) Handwörterbuch der Staatswiſſenſchaft 2, 349 fi.
) Sohm, Yahrbüdyer f. Nationalölonomie 34, 260. Freilich trifft
Sohm's Meinung (wie ih in H. 3. 59, 240 f. näher dargelegt habe, nur
infofern zu, als die Erhebung einer Accife auf ftädtifhen Boden zuerjt zur
Anwendung gekommen if. Vom rechtlichen Standpunkte aus ift diefe Accife
dagegen eine landesherrlidhe Steuer, die allerding® regelmäßig gleih am
Anfang den Städten verpadtet, verfauft oder auch frei überlaſſen wirb.
8) Ein jprechender Beweis für die Unkenntnis, die Ripjch auf dem Ger
biete der deutſchen Städtegeichichte auszeichnet, ijt jeine Behauptung (Deutiche
Geſchichte 3, 322): „Die gewöhnliche Grundlage der Einnahmen bildete eine
direfte Vermögensiteuer,; wenn diejelbe nidyt außreichte, wurde ſog. Ungeld,
eine indirefte Verbraudygabgabe erhoben.“ Wan fieht, er tebrt das wahre
Berhältnis völlig um. Vgl. dagegen 3. B. Sohm a. a. O. 5. 260: „Com
der indirekten Steuer, dem fog. Ungeld, war die ftädtifche Yyinanzpermaltung
(wie in Bajel, jo in allen übrigen deutihen Städten) ausgegangen.... Tie
indirefte Steuer blieb auch jernerhin die Grundlage der ftäbtiichen Finanz
wirthſchaft.“ Hegel, Chronilen der deutſchen Städte 1, 281: „Es ift bemeriend
434 G. v. Below,
zu befräftigen. Eine Urfunde von 1388!) liefert ung den Beweis,
daß damals Burggraf Friedrich V. von Nürnberg eine indirekte
Steuer, die die Stadt Nürnberg eingeführt hatte, nach deren
Borgang auch in feinem Territorium erhoben bat. ?)
1) Monum. Zoller. 5, Nr. 204 (©. 213): Urt. König Wenzel’s für
Burggraf Friedrih zu Nürnberg d. d. 1388 5. April: verleiht ihm umd
feinen Erben, dab fie in allen ihren Landen, Gerichten und Gebieten,
in ihren Städten, Märkten und Dörfern „ein ungelt nemen und ufbeben
mugen von allerlei getrant, als daz unfzer und dez reich® purger zu Nuren⸗
berg von unſſer laube zu difien zeiten in der ftat zu Nurenberg einnemen und
aufheben“. Zuerſt hat auf diefen Zufammenhang Hegel, Chroniken der
deutihen Städte 1, 281, aufmerffam gemadt.
2) Später find Vorbild auf dem Gebiet der indirelten Steuern nidt
die Städte, fondern die hulländifchen Generalftaaten (in denen doch aber auch
die Städte im Bordergrunde ftanden) gewejen. So jtellte der ſchwediſche
Kanzler Oxenſtierna unter Beihülfe des holländiihen Kaufmanns Peter Spring
ein neues Syſtem mit erhöhten Zolljägen, den fog. Lizenten, auf, welche den
Handel in den Oſtſeehäfen bejteuerten. Vgl. Lorentzen, Tie ſchwediſche Aımee
im Dreißigjährigen Kriege ©. 1. über den Einfluß Hollands auf die Ein
führung der Acciſe in Brandenburg unter dem großen Kurfüriten ſ. Erd
mannsdörffer, Deutiche Geichichte von 1648 bie 1740, 1, 426. — Bei dieier
Gelegenheit mag noch eine Bemerkung Platz finden, die freilich nicht die Bor
bildlichfeit der Städte betrifit. Wie wir vorhin hervorhoben, iſt die Zeit des
Übergangs vom Mittelalter zur Neuzeit eine Periode der Vergrößerung der
Zerritorien. Someit dieje auf bewußte Handlungen der Regierungen zurüds
gebt, werden wir die Motive in erjter Linie in allgemeinen politischen Er⸗
wägungen zu fuchen haben. Allein es ijt möglih, dab auch noch jpezielle
Wünſche mitgewirkt haben, die ſich aus den auf verichiedenen Gebieten der
ftaatlihen Berwaltung gemachten Beobachtungen ergaben. Dan vente ;. B
an die Schwierigkeiten, die die Appellation und Nonjultation bei @eridte-
jtätten außer Landes verurjachte. Ferner erſchwerten die Kleinheit und die
zerftreute Lage der Territorien außerordentlih die Einführung indirelter
Eteuern. In dieſer Hinficht jind die Verhältnifie von Jülich-Berg lehrreid.
Vol. meine Landtagsakten von Jülich-Berg 1, 736, Anm. 2: Die Bejiger
der Zülicher Unterherrichaiten (ehemals jelbjtändiger Landesherrjchaften, die
nah und nad in größere Abhängigfeit vom Herzog von Jülich geriethen)
erllären, fie wollten nadı Möglichkeit dafür jorgen, „dat in den underher
liheiven mein nod bier niet wolfieler dan uifierhalb derjelben d. h. im
Gebiet des eigentlihen Herzogthbums Nülich) gegeven und verzappt jal werden,
ur dat niemanp oirſach gegeven werde, dahin zu fomen, wairdurd i. f. g.
bewiliigte accijen verlleinert mucditen werden“. Jahrbuch des Düſſeldorfer
Geſchichtsverein 8, 251: „Dweil zu Berdiem und Wondorf die narung bed
436 G. v. Below,
dieſe nicht viel jpäter hervor als ihre jtädtijchen Namensvettern.* )
So iſt denn die Möglichkeit nicht ausgeſchloſſen, daß beide nebert
einander aufgefommen iind, vielleicht eine gemeinfame Wurzel _
die dann wohl ein Beamter der Privatwirtbichaft ?) jein würde,
haben oder auch neben einander aus den Niederlanden?) über-
nommen ıvporden find.
Die Städte des Mittelalters jind nicht bloß durch die Aus
nugung ihrer Steuerfraft mächtig; fie find zugleich „die Mittel-
punkte de Mobiliarkredits“.“ Durchweg tritt bei ihnen eine
auffallend ftarfe Benugung des öffentlichen Kredits zu Tage.)
1) Darauf, daß der territoriale Nentmeijter andere Funktionen hat als
der ſtädtiſche (injojern ihm ein jehr wichtiger Theil der Steuern, die von den
Landſtänden bemilligten, nicht unterjtellt iſt, fondern von diejen jelbft ver:
waltet wird), will ich fein beiondere® Gewicht legen, ebenjowenig wie darani
(ſ. oben), daß die territoriale Rechenkammer andere Funktionen bat ala die
jtädtifche Renttammer.
») Ein analoger Fall wäre der territoriale Hofmeijter, der, wie G. Sees
liger, das Teutjche Hofmeifteramt ©. 1 ff. nachweiſt, aus der Privatwirthichaft,
ipeziell der Mlöfterlichen, jtammt. Für den Urjprung des Rentmeifteramteß
aus der Privatwirthſchaft fünnte auf den magister censuum und ähnliche
Bezeihnungen, die Waitz, Verfaſſungsgeſchichte 5 (zweite Auflage, beraudg.
von Zeumer), 257 fi. anführt, vermwiejen werden.
2) Über Rentmeifter in niederländifchen Territorien j. vorhin Nijhoff.
Bgl. ferner S. Muller, De registers en rekeningen van het bisdom
Utrecht, deel 1 (1889), 263 Wr. 241 (lirt. v. 1329): Stephanus de Zulen
miles ... in officio renthmagistratus sibi per nos (den Biſchof von
Utreht) commisro. Nr. 242 (Urk. von demielben Sabre): renthmeester,
van den renthmeesterambacht. über Rentmeijter in niederländifchen
Städten f. Firenne, Histoire de la constitution de la ville de Dinant,
S. 62; Note sur un cartulaire de Bruxelles (Bulletins de la commission
royale d’histoire de Belgique, tom. 4), S. 22 (1342); H. van der Linden,
Histoire de la constitution de la ville de Louvain, ©. 118.
*) Sohm, Jahrbücher f. Nationalötunomie 34, 264.
6, Zur Geſchichte des öffentlichen Kredits in den Städten des Mittel-
alter8 vgl. außer den befannten Arbeiten von Schönberg und Sohm,
welche zuerjt belleres Nicht über diefe Verhältniſſe verbreitet haben, Pirenne
a. a. ©. S. 60 Anm. 1; 9. van der Linden a.a. ©. ©. 125; Havemann,
Haushalt der Stadt Göttingen, Zeitſchr. des hiftor. Vereins f. Niederſachſen
1857, ©. 206. Die widtigite Unterſuchung aus neuelter Zeit hat Knipping
geliefert: Das Schuldenweien der Stadt Köln im 14. und 15. Jahrhundert,
438 ©. v. Below,
das der jog. inneren Verwaltung, der Polizei?), wie mar mn
jeit dem Ende des Mittelalters zu jagen pflegt. Dieser
hat die Stadt im Verhältnis zum Territorium am meiften jelr Zeib-
jtändiges hervorgebracht. Man darf ſich nicht durch die Zahle— Men
des Stadthaushaltes täufchen laſſen. Allerdings übertreffen — ja
die Ausgaben für die Sicherung der Stadt nad aufen und der die
Erhaltung der ftädtichen Selbjtändigfeit um ein mehrfacdes = die
Ausgaben für die innere Verwaltung, während Die moderne Staus -adt
ihre Einnahmen fajt ganz auf Kultur- und Wohljahrtszwede vn er⸗
wendet. Indeſſen die mittelalterliche Stadt ift eben nicht bl S Sloß
Stadt im modernen Sinne. Wenigjtens die größeren Kommunen
haben auch diejenigen Funktionen wahrgenommen, welche her —eute
in den Aufgabenbereich des Staates fallen: die Aufrechterhat
der Rechtsordnung im Innern und den Schug nach außen?) &
it ein durchaus faljches Bild, wenn Herder die Wohlthaten, die
wir den Städten des Mittelalter8 verdanken, „im Schatten eier wine
friedlichen Stadtregiments“ hervorgebracht jein läßt. Nie hal ben
fi) Städte jo fehr und fo anhaltend im Kampfe befunden wie
die des Mittelalters. Politiſche Selbjtändigfeit und Macht ha Sben
fie mit dem größten Eifer erjtrebt. Kaum haben fie auf etm—vas
mehr Gewicht gelegt als auf eigene Rechtſprechung, politi Sſche
Selbjtändigfeit und militäriihe Macht, Dennoch dürfen wir
jagen, daß das Gebiet, auf dem fie recht eigentlich original End,
das der inneren Verwaltung iſt. Original gegenüber dem gieSich⸗
zeitigen Territorialftaat und dem Reich: Territorium und Meich
fümmerten ſich gar nicht oder jo gut wie gar nicht um bie
Zwede der inneren Verwaltung. Nicht ſowohl an dem, was bie
mittelalterliche Stadt als Staat, als vielmehr an dem, was fie
als Gemeinde geichaffen hat, haftet das weltgeſchichte ade
4) Über Begriff und Gejchichte des Wortes Polizei ſ. Loening im gand-
wörterbuch der Staatswiſſenſchaften 5, 159 fj.; ©. v. Belom,
atten 1, 138. 335. 584. Das Wort wurde aus Frantreich übernommen,
wie ſo viele technifche Bezeichnungen und Einrichtungen: jener Zeit. Übrigens
umfafjen die ftäbtifden und territorialen Polizeiverorinungen mod) era
mehr als das, was wir „innere Verwaltung“ nennen.
2) Bol. Knipping, Jahreshaushalt ©. 181.
440 G. v. Below,
für das Straßenweien !), die Gejundheite-, die Sittenpolizei,
Geſetze gegen den Luxus?), über den Zinskauf.
Die Territorien folgen den Städten in dieſer Xhätigfeit
erjt jeit dem 15.3), hauptſächlich aber erit jeit dem 16. Jahre
— — — — — —
Vgl. Schmoller, Jahrbuch für Geſetzgebung 1884, S. 25 fi. Bemerkenswerth
iſt es, daB in ber aus der Zeit des Bauernaufſtandes ftammenden Schrift
„Reformation Friedrich's III.“ Einheit von Münze, Maß und Gewicht vers
langt wird. F. v. Bezold, Geſch. der deutihen Reformation S. 463.
1) Über die Thätigfeit der Städte auf diefem Gebiete j. Gasner, Zum
deutjchen Straßenweſen von der älteiten Zeit bis zur Mitte des 17. Jahr⸗
hunderte (Xeipzig 1889; dazu liter. Gentralbl. 1890, Sp. 790 und Deutiche
Literaturztg. 1890, Sp. 1844); oh. Fritz, Zur Geſchichte des deutjch-[om:
bardiihen Handels, Ztichr. f. d. Geſch. des Oberrheins 1891, E. 320 F.;
Kinipping, Jahreshaushalt a. a. O. S. 136 und 147; Havemann a. a KL.
5.207 und 220. Über die Fürforge der Kandesherren für das Straße:
wefen jeit dem Ende des Mittelalters j. Sasner S. 63 f.; Niezler, Geſchichte
Baierns 3, 775; Lamprecht, Wirthichaftzleben 2, 242; ©. v. Below, Landtage⸗
alten 1, 587. 634. 193.
2) Vgl. Sommerlad, Art. Luxus im Handmwörterbudy der Staatömifien
ihaften 4, 1077 fi. Schon das ziveite Straßburger Stadtredit (ca. 1200)
enthält Beftimmungen über den bei Hochzeiten und fonjt zuläffigen Auiwand
(845 ff.). Weinhold, Tie deutichen Frauen (zweite Auflage) 2, 257 Anm. ]
erwähnt Beitimmungen aus wmittelalterlihen Ordnungen der Etadt Ulm über
da® Tragen von Hermelin. Tie Reich&polizeiordnung von 1548 erklärt es
dann für einen Vorrang des Fürjtenitandes, Hermelin zu tragen. — übrigen⸗
jteht die Entwicdlung der Luxusgeſetzgebung auch unter kirchlichem Cinilus,
namentlich unter dem der Synodalbeſchlüſſe. Vgl. Weinhold a a. O. 5. 265
Anm. 2 und Sommerlad a. a. O.
®) Bereinzelte kleine Anfänge laſſen jih wohl aud) ſchon aus dem 14. Jahr:
hundert anführen. Vgl. 3. B. die Tiroler Kandesordnung aus dem Jahre 1352
über die Rechtsverhältnijje der Bauern und Handwerker bei E. v. Schwind
und U. Dopſch, Urkunden zur Berfafiungsgefchichte der deutfch-öfterreichiichen
Erblande im Mittelalter, S. 184. Yu den ältejten territorialen Polizer
vrönungen (übrigens noch nidyt mit diejem Namen) gehören die Befege der
Hochmeiſter und die Landtagsbeſchlüſſe aus dem deutſchen Ordenslande.
Vgl. Töppen, Alten der Ständetage Preußens unter der Herrſchaft des
deutſchen Crdens 1, 36 fi. Schon fehr früh (etwa 1335) werden im Ordens:
lande Beichlüfjje über Mat und Gewicht gefaßt (j. a.a. C. S.32 ff.). Allein
ed ift charakterijtiih, daB der Hochmeiſter hierbei nur Städte, nit aud
Landbewohner zuzieht.
442 &. v. Below,
fall ift die Entwicklung in den Städten auch Hier wieder typiſch
für die in den Territorien gewejen.
Wir widmen jet einzelnen Zweigen der inneren Verwaltung
eine ausführlichere Daritellung.
6. Das Gewerbeweſen. Das Gewerbeweien des Mittel:
alters ift lofal geordnet.!) Jede Stadt hat für id) ihre Zunft
jtatuten. Mit dem Beginn der Neuzeit tritt an die Stelle der
(ofalen Ordnung des Gewerbeweſens oder wenigitend neben jie
die territoriale.
Die territoriale Ordnung iſt nicht überall der Art, daß jic
gerade von einem Landesheren gejichaffen wird. Die jtädtijchen
Kreiſe haben jelbjt das Bedürfnis der Herftellung größerer Ver
bände empfunden und es vielfach ohne Rüdjicht auf bejtimmte
territoriale Grenzen vermwirfliht. So treten gerade am Schluß
des Meittelalterg die Steinmegen ?) zu größeren und fleineren,
mehr jih an Stammes» als an Territorialgrenzen anjchliegenden
Vereinigungen zujammen. Und fie jtehen in diejer Beziehung
älteften Neich8polizeiordnungen, fo werden ſie auch von jenen beeinflußt
worden fein. Wie es ſich aber mit ihrem Urſprung verhalten mag, jedenfalld
haben fie auf die territoriale Verwaltung eingewirtt. In manden Puntten
wird die territoriale Verwaltung jedoch weder vom Reich noch von der Kirche
noch von den Städten beeinflußt, jondern felbftjtändig fein. So 3. B. aui
dem Gebiet der Waldordnungen (vgl. Handwörterbuh der Staatswiſſen⸗
ihaften 3, 592 f.; Mitteil. des Inſtituts f. djterr. Geſchichtsforſchung 189,
S. 189; ©. v. Below, Landtagdatten 1, 146 und 709 8 4) Denn die
Waldordnungen, die etiva mittelalterliche Städte für ihren doch verhältnismäßig
tleinen Waldbejig erließen, fünnen ſchwerlich als Muſter in Betracht kommen.
1) Bol. hierzu und zum folgenden 9. 3. 58, 151 j.; Schmoller im Jahr:
buch für Gejepgebung 1884, S. 23 ff. und Straßburger Tucher- und Weberzunit
S. 539 f.; Lexis im Handwörterbud) der Staatswiſſenſchaften 6, 469 fj.:
Bothein, Wirthſchaftsgeſchichte des Schwarzwaldes 1, 893 ff.; Eulenburg,
Ztſchr. f. Soz.⸗ u. Wirthichaftsgeih. 2, 62 fi. S. auch Jahrbuch für Geſeß⸗
gebung 1894, ©. 318 ff.
°) Janner, Die Bauhütten des deutſchen Mittelalterd (Leipzig 1876),
S. 54 ff; Schmoller, Forihungen zur Brandenburg. und Preuß. Geſchichte
1, 70 ff.; A. Luſchin v. Ebengreuth‘, Das Admonter Hüttenbuch und die
Regensburger Steinmegordnung vom Jahre 1459 (Mittheilungen der 8. 8.
Gentraltommijlion 3. Eriorihung der Kunſt⸗ und hiſtor. Dentinale 18M,
Heft 3/4).
444 G. v. Below,
Ein charafteriftiiches Beiipiel mag hier zum Beweije dajür an-
geführt werden, wie jehr die Zandesregierungen jegt geneigt find,
das Gewerberecht der Städte, felbft fremder Städte, nicht bloß
der zum eigenen Territorium gehörenden, zu benugen. Im
Sahre 1547) wird auf einem jülicher Zandtage der Beſchluß
gefaßt, es follten einige von der Landſchaft fi) über die Dienſt⸗
boten und Werkleute befprechen und ihr Bedenken dem Herzog
vorbringen; der Herzog wolle dann „ſolichs durchjehen und mit
den jtetten Coln und Aich, dergleichen mit dem adminiftrator
Coln darvon auch handlen laffen“. Darauf werden bejtimmte
Perjonen beauftragt, die Städte Köln und Machen um Mittheilung
ihrer Ordnungen zu erjuchen.*)
1) G. v. Below, Landtagsaften 1, 584 und 587. Über den Begrif
„Werkleute“ ſ. die Ordnung der Stadt Düren von 1588 bei Yonn, Rumpel
und Fiſchbach, Materialien zur Geihichte der Stadt Düren, ©. 131 f.
7 ch theile hier die Antwort der Stadt Köln (d. d. 1547 Dezember 15)
mit; ich verdanke eine Abjchriit der Liebenswürdigleit R. Knipping's (aus
dem Kölner Stadtarhiv, Briefbuch 68 f. 67 d). Köln an ben Herzog von
Jülich: Unfern willigen bereiden dienft und vermogen zuvör. Hochgeborner
turit, befonder lieber ber. Der hochgelerte Gobdart Gröpper, der redyten
doctor, hat uns nach verlejung u. f. g. befegelter credenzen (d. 8.1547 Dzb 11)
muntlid) vorgetragen, das e. f. g. begeren, von und bericht zu werden, welcher
mäjjen die ordnunge der taglöner und werfleute in unjer jtat gehalten umd
was inen nach gelegenheit der zeit zu belonung gegeben werde. Darui wollen
wir u. f. g. zu dienſtlicher und nachbarlicher antwort nit verhalten, das bei
ung van althere gute ordnung darinne gehalten worden, die fid) aber nuhe
in diefen leiten duren jaren etwas verlaufen, aljo das nıan jedem werfman,
der eind meiſters wert iſt, teglich uf feine eigne beköftigung 8 alb. Taufenbs
paimeng unb uf der burger coiten 5 derjelbiger alb. in einem jommerlicyen
tage gegeben bat und zu winterzeit teglichen 7’; alb. und ut der burger
cojten 4!’ alb.:; dergleichen einem vopperfnedht fomertags uf feine coften 5 und
zu winterzeit 41; alb., aber uf der burger coften 3 alb. Nuhe ift man mit
de ampten jteinmeber, zimmerleut und andern bouleuden in handlung ber
meinong, einmal bejtendige ordnung darinne ujzuridten. So balde man
derjelbiger verglichen, wollen wir unbeſchwert fein, diefelbige u. f.g. auch zu⸗
zuftellen. Und was wir junft u. f. g. zun eren und dienftlichen gefallen
bewifen mochten, des ſollen wir ieder zeit nadhbarlid und gutwillig geſpurt
werden. Tas erfen Got almedtig, der u. }. g. in furfilicher regierung und
itande fröfihd und geſunt beware. Gefchreven am XV. decembrid. — Die
446 ®. v. Below,
Wir wollen nun die Abhängigkeit der territorialen Gele
gebung von der ftädtifchen nicht übertreiben. E8 war ja aud
mandes, was die ftädtijchen Gewerbeordnungen enthielten, für
dad Territorium nicht brauchbar. Immerhin jedoch zeigt ſich
und hier wie auf anderen Gebieten die Worbildlichkeit der
jtädtijchen Gefeßgebung des Mittelalters. !)
Die Erjegung oder wenigſtens Ergänzung ber Iofalen Orb
nung des Gewerbeweſens durch die territoriale ruhte, wie fchon
‘angedeutet, auf einem lebhaft empfundenen Bedürfnis. Die Ur
fachen der Anderungen bier eingehend zu erörten, würde zu weit
führen. Nur ein Moment fei hervorgehoben. Wielleicht am
meilten hat die Zandesregierungen zum Eingreifen in die gewerb
lihen Verhältniſſe das Anwachfen des Handwerfs auf dem
platten Lande 2) veranlaßt. Im Mittelalter waren die Städte
die privilegirten Stätten für Handel und Gewerbe. Durch das
GSäjterecht?), das Bannmeilenreht, das Verbot des Landhand
werks in größerem oder geringerem Umfange hielten fie das um
liegende platte Land in einer gewiſſen wirtbichaftlichen Abs
bängigfeit. Nun mehrten ſich aber feit dem Ende des Mittel
alter8 die auf dem Lande betriebenen Gewerbe, theil® in ‘Folge
einer näheren Entwidlung der Dinge, theil® weil man unmittelbar
für die ländliche Kundichaft arbeiten oder die billigeren PBroduftione
fojten ausnutzen oder auch ſich vom Zwang der ftädtifhen Zunft
ordnung losmachen wollte.*) Dieje Kreije wollten die wirth
ſchaftliche Herrſchaft der Städte nicht anerfennen. Aber aud
der einfache Landwirth empfand die Forderung der Städte, dab
er jeine Produkte nur in ihnen abjeten jollte, als drüdende
1) N. Wuttke, Gefindeordnungen und Gefindezwangsdienft in Sachſen
bis zum Jahre 1835 (Schmoller, Forſchungen 12%, ©. 7 erwähnt, daß
Sachſen aus dem Mittelalter nur eine Gefindeordnung befipt, und dies if
eine ſtädtiſche.
2) Vgl. M. Ritter 1, 29 und 40 5.; Scmoller, Jahrbuch f. Geſey⸗
gebung 1884, S. 27. und 295. und 1887, ©. 792, Forſchungen zur
Brandenb. und Preuß. Geſch. 1, 65 und 104; Gothein a. a. O.; G. v. Belom,
Sandtagsalten 1, 145.
° Bol. Handwörterbuch der Staatswiſſenſchaften 2, 791 f.
+) Mitter 1, 29.
448 G. v. Below,
die entgegengejegten Anſprüche ihrer Städte auözugleichen und
das Stapelrecht ihrer Städte gegen das fremder Städte zu ver
theidigen und zu erweitern. Das Territorium wird mehr und
mehr al3 eine wirthichaftliche Einheit aufgefaht. Eben aus dieſem
Geſichtspunkt ergab ich freilid) nod) eine weitere Neuerung
gegenüber dem Mittelalter: die große Zahl der kleinen Stapel:
rechte innerhalb des Territoriums wurde eingejchränft.?)
So energijch indefjen die deutjchen Zandesherren die Intereiien
ihrer Städte gegen einander wahrten, ihr Xerritorium war dod
zu flein und ihre Intereſſen zu eng, als daß ſie den deutſchen
Handel auch den außerdeutichen Staaten gegenüber hätten jchügen
fönnen.?) Auf die Reichögewalt war gleihfall® nicht zu rechnen.
Daraus erflärt ſich dag Schidjal der Hanfa. Sie Hätte fich,
unter den veränderten Berbhältniffen, nur behaupten fünnen, wenn
fie, wie etwa die englische Kaufmannjchaft, den Nüdhalt cines
großen und fräftigen Staates gehabt hätte. Nicht genug aber,
daß ein joldher fehlte; die deutichen Territorialherren jtanden
überdies der Hanja wegen der Eelbftändigfeit ihrer Glieder miß—
günjtig gegenüber. Die Gründe für den Fall der Hanja Liegen
in eriter Linie auf politiichem Gebiet. °)
Das Gewerbe und den Handel betrifft in gleicher Weije die
jtädtiiche Theuerungspolitif, die im Mittelalter ſchon in großartiger
Weiſe ausgebildet worden war. Das Reich und die Territorien
haben auf diejen Gebiet in jener Zeit faun etwas aufzumeijen.*)
Seit den Ende des Mittelalters gibt es jedod) auch eine lande&
herrliche Theuerungspolitif.5) Sie findet namentlich) in zwei
u Vgl. Schmoller a. a. O. ©. 30.
" Bon allen deutihen Territorien bat nur die Negierung der bur-
gundiſchen Niederlande eine erfolgreiche Handel@politif nad) auswärts ausgeübt.
Ritter 1, 45 f.
:s. Schäfer, Handwörterbud der Staatöiwijienichaiten 4, 389 j.; Ritter 1,
54 f., 2, 22 f. und 411 fi.. .
© Über eine Ausnahme vgl. ©. Küntzel, Über die Berwaltung dei
Maß- und Gewichtsweſens in Teutichland während ded Mittelalters, S. 58.
6. Ritter 1,43. 48. Schmoller, Jahıb. j. Befepgeb. 1851, S. 32. G. Adler,
Tie ‚sleifchtheuerungspolitif der deutfchen Städte beim Ausgang des Mittel»
alters, 2.103 ff. ©. v. Below, Maßnahmen der Theuerungspolitit im Jahre
1557 am Miederrhein, Itſchr. j Soziale und Wirihſchaftsgeſchichte 3, 468 ff.
450 G. v. Below,
gegeben. Indeſſen wirklich fruchtbare Neuordnungen vermochte ed
nicht durchzuführen. „Das große Fürſtenthum allein unterzog
jih Ddiefer Aufgabe mit einer wenigitens alle jeine Nebenbuhler
übertreffenden Kraft.“)
Von einer Nachahmung des jtädtifchen Münzweſens durd
die Qandesherren läßt fich jeit dem 16. Jahrhundert nicht eigent-
(ich ſprechen. Diele gehört dem Mittelalter an.?)
9. Das Bergwefen. Ein beſonders ruhmvolles Kapitel
aus der deutfchen Rechtögeichichte bildet die Gefchichte des deutſchen
Bergrechts. Das deutiche Bergrecht hat ich ohne Beeinfluffung
von außen entwidelt und einen Siegeszug weit über Deutfchlands
Grenzen hinaus gehalten. Der moderne Bergbau ijt zum großen
Theil deuticher Kulturarbeit zu danfen.
1) Ritter 1, 56 f.
2) Vgl. Eheberg S. 96: Kaifer Karl IV. gewährt dem Burggrafen von
Nürnberg das Recht, in feinen Städten Baireutd und Kulmbach Riennige
und ‚Heller ſchlagen zu lafien nad dem Korn, nad der Aufzahl, jv man
Piennige und Heller zu Nürnberg, zu Laufen oder in anderen Städten
ſchlägt. K. Kunze macht mid; ferner noch auf folgende interejianten Urkunden
anfmerljam. 1386 geitattet Hz. Wilhelm von Berg (Preuß⸗Falkmann. Lipp.
Negeiten 2, Nr. 1346) der ravensbergifhen Münze in Bielefeld, unter jeinem
Wappen weiße Tfennige wie die Städte Xübed, Hanıburg, Lüneburg und
Wismar zu prägen. 1389 Oftober 10 verleiht Hz. Bogiölat VI. von
Pommern (Dähnert, Sammlung Ronmerifher und Rügiiher Landee⸗
urtunden; fünjtig im Hanſ. UB. Bd. 4) der Stadt Wreifdwald de munte,
der tho brukende unde pennynghe tho slande like aus anderen
steden Lubek, Wismar, Rostock unde Stralessund, also «at ze de
munte nicht ergher slan scolen laten we de anderen stede vorebeno-
med. Were ok. dat de stede vorebenomed nicht een droghen edder
tweyeden an der munte, so gheve wy unde ghunnen den sulven unsen
borghermesteren, raatmannen unde menheyt unser stad vorbenomed,
dat ze moghen de munte slaen laten, alzo de van deme Sunde do
en, also dat ze mid der stad Stralessund allyke ghud ghelt alsen
unde nicht ergher. Were dat ze de ınunte nicht also ghud een
sloghen alao de van deme Sunde, dat uns, unsen mannen, unsen
steden unde landen witlik worde, so moghen wy de munte wedder
ropen. Vgl. nody zur Geſchichte des wendiſchen Münzvereine Koppmann,
Hanferezefie 2, Ar. 172 (1379) und 224 (1381); v. d. Ropp, Hanſerezeſſe 7,
Nr. 527 (1422) und 740 (1424),
452 G. v Belom,
Charakteriſtiſch aber iſt es wiederum, daß die Landesherren auch bei
jenen Bergordnungen noch unmittelbar die bewährte Bergrechts⸗
funde des Freiberger Rathes benugten.!) Die Annaberger Orb
nung von 1509 wurde dann theil durch direkte Übertragung
theil3 durch die Vermittlung der auf ihr beruhenden Joachimsthaler
Trönungen (namentlich der Bergordnung von 1548) die Mutter
der meilten neueren Landesbergordnungen in Deutfchland.?)
Das Bergrecht der Stadt Freiberg befaß jchon im 13. Jahr
hundert weite Verbreitung.°) E& war u.a. au) nach Iglau ge
fommen. Das Iglauer, d. h. dem Urjprung nach, zweifellos Frei⸗
berger*) Bergrecht wurde dann wiederum jehr weit verbreitet: Durch
Deutichland, bis Venedig, bi8 Spanien und von dort aus im
Zeitalter der Entdedungen über den Ozean bis in die neue Welt.
Und es ift abermal3 (mwenigjtend von Haus aus) der Iglauer
Stadtrath, der diefe Mittheilungen nach auswärts gegeben hat.°)
10. Die Kirche. In neuerer Zeit ift mit bejonderem Nady
drud auf die Bedeutung hingewieſen worden, welche dem jchon
vor der Reformation ausgebildeten Landeskirchenthum zutommt.®
1) Ermiſch S. CLXII.
» Ermiſch S. LXIV. Gothein S. 651. C. Neuburg, Goslars Berg
bau bis 1552 (Hannover 1892) ©. 365. Über die Übertragung des ſächſiſchen
Bergrechts nach dem Niederrhein j. meine Yandtagsatten 1, 506. Urfprünglid
iheint man in Jülich-Berg mehr an das Borbild von Lüttich gedacht zu
haben (f. ebenda S. 210 f.).
9 Ermiſch S. XLVI ff.
*% Ermiſch S. XLVIII fi.
) Ermiſch S. LXVIII ij. Es mag hier noch erwähnt werden, daj
Kurfürſt Friedrich II. von Sachſen im Jahre 1444 mit einem Ausländer,
nämlich mit Adrian Spierinc, dem wegen feines Geſchicks in der Auffindung
pon Metallen belannten Bergmeilter des Königreich England (magister
minerarum regni Anglie), Verhandlungen angefnüpft bat, um ihn zu einer
Reiſe nadı Sachſen behufs Aufſuchung neuer Erzlagerftätten zu veranlaflen.
Wir willen jedoch nicht, ob fie Erjolg Hatten. Ermiih S. CXLVLU. Hiezu
vergleihe man, daB das ältejte Privileg für die Klingenjchmiede von Solingen
fajt genau mit dem hundert Jahre früher den Scleijern in Sheffield er
theilten übereinjtimmt. Alph. Thun, Die Induſtrie am Niederrhein 2. Theil
(Leipzig 1879) ©. 8.
79 Bgl. darüber zulegt Sohm, Kirchenrecht 1, 560; Friedberg, Lehrbud
des fatholiihen und evangeliihen Kirchenrechts (vierte Aufl) ©. BI f.;
454 G. v. Below,
einzujchreiten. Das hatten die Landesherren lange ſchon gethan.
Das fonnten damald auch mehr oder weniger katholische Fürſten
thun, wie denn thatfächlich geiftliche Fürſten Amortifationsgejege
erlafien!) und jo eifrige Gegner des Protejtantismus wie Georg
von Sacjen?) und Marimilian von Baiern?) ein Landeskirchen⸗
thum ausgeübt haben. Die Reformation hat freilich den Einfluß
des Staates in firdhlihen Dingen noch gefteigert, indem fie der
weltlichen Gewalt erſt wirkliche Selbitändigfeit verlieh*) und ferner
dem Landeskirchenthum mehr fonitruftive Ideen gab°); cine
Steigerung, die übrigens mittelbar auch auf die Verhältniſſe
in den fatholijchen Territorien einmwirkte. 6)
Im mejentlihen in derſelben Weije wie die Landesherren
find nun auch die Städte auf firchlichem Gebiete thätig geweſen.))
Allein während wir jonjt jo oft fanden, daß die Städte den
Zandesherren vorauseilten, iſt das hier nur in beichränftem
Maße der Fall. Unbedingt haben fie den Vorſprung bloß
in Bezug auf die Amortifationsgefege: die jtädtifchen ftamnten
Ihon aus dem 13.°), die territorialen erjt aus dem 14. Jahr
1) Eo in Kurmainz jeit 1462. Kahl, Amortiſationsgeſetze S. 126;
Handmwörterbuh der Staatswifjenichaften 1, 242. S. auch Varges, Jahrbücher
f. Rationalölonomie 64, 520.
2) Maurenbrecdher, Geſch. d. kath. Retormation 1, 97 7.
3) F. Stieve, Das kirchliche Rolizeivegiment in Baiern unter Marimilion J
(Münden 1876), S. 2 fi. Rojenthal, Verwaltungsorganifation Baierns 1, 337.
*%) Sohm, Kirchenrecht 1, 544. Lenz, Preußiſche Jahrbücher 75, 432.
6) Vgl. Kahl, Kirchenrecht 1, 263.
6, Richter-⸗Dove-Kahl, Kirchenrecht (achte Aufl.) 8 74. — Man vergleiche,
in welcher wenig ſachgemäßen Weife Nipich, Deutiche Geſchichte 3, 426 über
die politiihe Wirkung der Reformation jpridt.
’) Bgl. Hiezu im allgemeinen © L. v. Maurer, Städteverfaflung
3, 187 ff. 4, 102 ff.
®), Kahl, Die deutſchen Amortifationsgejege (Tübingen 1879) ©. 51
Anm. 70 (Erfurt 1281: jept bei Beyer, Urfundenbud der Stadt Erfurt
3. 1, Nr. 311); S. 53 Anm. 71 (Goslar 1219), Arnold 2, 177.
G. v. Below, Landſtänd. Verf. 2, 40 (Wipperfürth 1282). Zeumer, Städte:
jteuern S. 80. Mandye von den alten ftädtifhen Amortifationdgefegen find
Privilegien, die der Stadtherr ertheilt; aber fie werden eben nur für dad
Gebiet der Stadt ertheilt und müfien deshalb als jtädtifdhe, nicht als terris
toriale Amortijationagefege angejehen werden.
|
‚Die ftädtijhe Verwaltung des Mittelalters zc. 455
Hundert.) Ob dabei an Entlehnung zu denfen ift oder bie
Die auffommenden Städte die Wahl des Pfarrerd oder wenig-
ſtens ein Recht der Mitwirkung bei jeiner Bejtellung zu
gewinnen juchen®), fo darf man ſolche Fälle nicht mit den
Bemühungen der Landesherren, das Stellenbejegungsrecht
Kirchliche Kollatoren, gar des Papſtes einzufchränfen, auf
eine Linie jtellen. Denn es handelt jich dort doch nur
am dem Übergang der Patronatsrechte des Stadtherrn auf
Die Gemeinde. Yon dem Kampf gegen die geiftliche Juris—
Diftion ſodann läßt ſich wohl jagen, daß er gleich früh,
nämlih im 13. Jahrhundert, in den Städten?) und in den
") Kahl ©. 226. 315. Friedberg, De finium ete. ©. 193 — 106
@. ». Below, Landjtänd. Verf. a. a. O.; Landtagsatten 1, 142 ff. Das
ältefte landesherrliche Amortijationsgeje ſcheint Friedrich der Schöne vom
Öfterreich (vor 1311) erfaffen zu haben (geiflihe Berfonen dürſen liegende
Er nicht ohne ausdrüdliche landesherrliche Bewilligung anfaujen). Über
ögefep des Grafen Wilhelm von Holland von 1928 f. Gött.
ee 1781 ©. 1288. Was Friedberg und Kahl don landesherrlichen
Anortifationsgefepen aus dem 13. Jahrhundert anführen, reduzirt ſich darauf,
daß ein Sandesherr den Übergang einer Beſihung an ein kirchliches Inftitut
genehmigt oder beftätigt. Bon ſolchen Fällen hat aber ſchon Kahl felbit (S. 50
Anm. 69) bemerkt, dab die landesherrliche (oder ſtädtiſche) Bejtätigung manch-
mal nicht Bedingung der Giltigfeit war, ſondern nur zu größerer Sicherheit
des Mechtöbeftandes der Zumendung erbeten und gegeben wurde. Überdies
Hängt die Beftätigung mitunter mit einem nicht immer jofort erfennbaren
beſonderen Rechtstitel zuſammen.
9 ©. v. Below, Die Entſtehung der deutſchen Stadtgemeinde S. 111,
Bol. übrigens auch W. Stein in der Meviſſen-Feſtſchrift © 32.
®) Beifpiele aus dem 13. Jahrhundert bei Hinſchius, Kirchenrecht 5, 445 |.
‚Die Berbote der Ladung vor ein ausmärtiges geiſtliches Gericht (Hift. Ziſchr
59, 201 Anm. 7; Ennen, Quellen 2, 196) laſſen fih nur in bejchränftem
Mahe Hierher ziehen. Sonſt tönnte man aus dem 12. Jahrhundert für
unfer Thema ſchon das Stadtrecht von Medebach $ 16 (Gengfer, Stadtrechte
©. 284) anführen. Was Hinfcius jonft aus dem 12. Jahrhundert erwähnt,
k fih) auf flandrijge Städte. — S 435 Anm. 3 und ©, 437 Anm. 3
Hinjhius die irrigen Angaben Köhne's über die Stellung der Send»
- gerichte im den Städten zurüd.
456 G. v. Belom,
Territorien?) einjegt. Im übrigen?) aber wird den Landes:
herren der Vorrang zuzuerfennen jein. Sedenjalls ift ihre
Kirchenpolitift ſchon im Mittelalter umfafjender und groß:
artiger ald die der Städte. Die Privilegien, die jie 3. B.
vom Papſte zu erlangen wußten, find zahlreicher und bedeuten:
der als die, welche die Städte?) erhielten. Sie vermochten,
wenn ein ſchismatiſcher Papſt jeine Obedien; erweitern oder ein
Papſt ſich gegen das ihn bedrohende Konzil jichern wollte, mehr
in die Waagichale zu werfen al® die Städte Auch mag er:
wähnt werden, daß die Städte bei den Mapßregeln, die fie auf
kirchlichem Gebiet ergriffen, mehrmals gerade von den Landes
herren unterftügt wurden.*) Andrerſeits haben jie nod im
Reformationgzeitalter und ganz bejonders damals jehr oft ihren
y Hinihius ©. 447 Anm. 2. of. Hanjen, Rheinland und Weſijfalen
im 15. Jahrhundert 1 (Publ. a. d. kgl. Preuß. Staatdardiven Bd. 34),
Einl. ©. 4 f.
2) Gerade die älteſten Nachrichten über die landesherrliche Bede jind
lagen über Befteuerung des Kirchengutes durch die Landeöherren. Die
Iandeöherrliche Bede aber ift, wie oben bemerft, älter oder mindejtend ebenſo
alt wie die Stadtverfaſſung. Allerdingd haben im meiteren Berlauje des
Mittelalterd die Städte die Steuerjreiheit des Klerus im einzelnen noch jtärfer
ignorirt als die Landesherren.
>) Über päpftlihe Privilegien für die Landesherren ſ. Friedberg, De
finium etc. ©. 179; Barrentrapp, Hermann von ®ied 2,5; Hanfen a. a. O.
S.65 ff. Über folhe für Städte ſ. Chronifen der deutichen Städte 16 (Braum⸗
ſchweig, Bd. 2, Herausg. von Hänfelmann), XVII fi.; Hanjen S. 5 Anm. 3.
*) Luther's Werte 12,5. 9. v. Schubert ©. 34. — Zum Schluß mag
bier noch eine? Parallelismus zwijchen ftädtifcher und territorialer Verwaltung
gedadyt werden. Die Städte halten im Mittelalter ſich geiftliche Käthe
(„oberjte Pfaffen“ oder „Prälaten” der Stadt genannt). Bol. W. Stein in
der Meviſſen-Feſtſchrift S. 45 ff. Ebenſo haben die Landesherren fchon vor
der Reformation „geiftlihe Räthe“, die fie jpeziell für irchliche Angelegen⸗
heiten (Eheſachen einſchließlich) gebrauden. Vgl. Hiftor. Tafchenbucd 1887
©. 316 f.; Roſenthal, Benvaltungsorganijation Baiernd 1, 509 Anm. 3. Die
Cinrihtung wird in den Städten und Territorien ziemlich gleich alt fein.
Denn nicht jeder Klerifer, der im Dienfte der Stadt fteht, kann Hierher
gerechnet werden. — Über die den proteftantifchen Konfiftorien entſprechenden
Behörden, welche katholiſche Territorien feit der Reformation haben, vgl.
Rofenthal S. 506 ff.: Richter⸗Dove⸗Kahl a. a. ©. Anm. 2.
458 &. dv. Below,
dieſes Streited darf man jedoch nicht zu tief ſuchen: er entipringt
aus mejentlich äußeren Rüdfichten und Intereſſen. An einen
prinzipiellen Gegenjag it fchon deshalb nicht zu denken, weil
oft Päpſte, Biichöfe und Domjcholafter den Städten zum Siege
verholfen haben. Dennoch iſt es von folgenreicher Bedeutung,
dag jeßt nicht mehr bloß die Slirche, jondern neben ihr noch eine
andere Macht für den Unterricht jorgt.
Seit dem Neformationgzcitalter folgen die Landesherren dem
jtädtiichen Beiſpiel: hauptjächlich unter dem Einfluß der Eirchlichen
Reformation!) gründen jegt aud) fie Schulen, und zwar Schulen
nicht bloß für den höheren, jondern auch den mittleren Unterricht.
Sie erlajjen ferner allgemeine Schulordnungen.?) Freilich haben
fie damit das jtädtiiche Schulweſen keineswegs bejeitigt, wie aud
die Kirche (fatholiiche wie proteftantifche) jeit der Reformation
dem Unterricht noch ihre Pflege widmete. Die Städte entwideln
im 16. Jahrhundert vielleicht Jogar mehr Eifer in diejer Beziehung
ald im Mittelalter. Iener Schulitreit wird fortgejegt?) umd
erhält jegt, im Zufammenhang mit den in der firdjlichen Refor-
mation bervortretenden Beitrebungen, einen tieferen Hintergrund.
In Bezug auf Gründung von liniverfitäten übertreffen Die Landes⸗
herren die Städte jegt noch mehr ald im Mittelalter. Im die
Pflege des mittleren Unterrichts theilen jich beide etwa gleid)
mäßig. Won den berühmten Pädagogen des 16. Zuhrhunderts
z. B., die man „die vier großen protejtantifchen Reftoren des
16. Sahrhunderts”*) zu nennen pflegt, find zwei an jtädtijchen
Schulen thätig gemein — Joh. Sturm in Straßburg und
Dieronymus Wolf in Augsburg —, zwei an landesherrlichen —
', Über die ungünftige Wirkung der Segenreformation auf das Schul:
iwejen dal. andrerjeits Kluckhohn a a. O. S. 174.
2) Vgl. Möller, Lehrbuch der Kirchengeſchichte 3 (herausg. von Kawerau),
3917. Die ältejte baieriſche Sculordnung jtammt aus dem Jahre 1548
von Herzog Wilhelm IV.). Kluckhohn S 175.
3) Vgl. 3.8. ©. v. Below, Landtagsaften 1, 147. 210. über die
Berdienjte der Städte um das Schulweſen feit der Reformation vgl. u. N.
Bartgold, Geſch. der deutjchen Städte 4, 414, Koldewey S. 30 ff. und die
vorhin angejührten allgemeinen Werte.
“Schmid a.a. TC. 2°, 276 ff.
460 G. v. Below,
die Grundlage für die Qüneburger Ordnung von 1564 iſt. Dies
Beilpiel zeigt zugleich, wie noch die ftädtiichen Ordnungen des
16. Jahrhunderts al8 Mujter dienen konnten, und ferner, wie
doch ſchließlich das ftädtifche Vorbild verlaffen wurde (indem
man fich an eine landeöherrliche Ordnung felbjtändigen Urfprungs,
die Württemberger, anlehnte).
12. Die Urmenpflege. Die Geichichte der Armenpflege
verläuft vollfommen parallel der des Schulweſens. Bon Haus
aus ruht fie cbenfe wie die Schule in der Hand der Kirche (reip.
in der von Genoffenjchaften wie Zünften und Brüderjchaften).
In der zweiten Hälfte des Mittelalters tritt neben die Firchliche
die ftädtiiche Armenpflege.!) Die Fürſorge der Städte für das
Armenweſen äußert fi) namentlich in folgenden Punkten. Der
Stadtraih nimmt in immer weiterem Umfang einen Antheil an
der Spitalverwaltung für ſich in Anjprud.?) Neben dem firdy
lichen Armenvermögen jammelt fich jegt ein jtädtiiches an. Es
werden Bettelordnungen von Stadt wegen erlafjen. Wereinzelt
fommen auch jchon von der Stadt angeitellte Armenpfleger vor.?)
Mit der Reformation ändern ſich die allgemeinen Anſchauungen
über das Armenwejen.t) Sie bejeitigt insbeſondere die Anficht
1) G. L. v. Maurer, Städteverfajjung 3, 41 fi. Reinhold, Verfaſſungs⸗
geih. von Weſel S. 99. V. v. Woilowäty-Biedau, Das Armenweſen des
mittelalterlihen Köln (Breslauer Difj. von 1891). Bgl. dazu Keuſſen in der
Deutichen Literaturztg. 1892 Sp. 601 j. Knipping, Jahreshaushalt ©. 151.
Die beite Überfiht gibt Uhlhorn in feinem ausgezeichneten Buche: Die chriſt⸗
lihe Liebesthätigleit 2, 431 ff. (j. auch Handwörterbuch der Staatswiſſen⸗
idaften 1,824 ff.). S. 449 f. ſpricht er über die Armenpflege in den mittel
alterlihen Landgemeinden und den Zujfammenbang der jtädtifchen mit diefer,
S. 396 ff. über die genofjenichaftlihe Armenpflege.
2) Vgl. G. Rapinger, Geſch. der kirchlichen Armenpflege (isreiburg i. B.
1868) 5.280: „Tie Bürgergemeinden behielten ſich regelmäßig die Adminiftre-
tion der Temporalien eines Hojpital® vor und fügten zur frommen Gefinnung,
welche jolhe Gefinnungen in's Leben rief, noch die Kunſt einer umfichtigers
Berwaltung und die Sorgjalt eine® guten Haushalts hinzu.“
2) Uhlhorn S. 458. In England, das ja in der ftaatlichen Entwidiung
Deutſchland voraus war, gibt es aus dem Mittelalter auch ſchon ftaatlide
Bettelordnungen. Uhlhorn 3, 498.
% Bgl. Uhlhorn 3, 13. 16.
Die ftädtifche Verwaltung bes Mittelaltero ıc. 401
von der Verdienſtlichkeit des Bettlertyums. Sie wandelt ferner
den äußeren Charafter der Armenpflege um: die mittelalterliche
Armenpflege ist anftaltlicher Natur; die proteftantijche ift Gemeinde⸗
armenpflege. Diejer Änderung hatten ſchon die Städte vor-
gearbeitet.
Die Gemeinden, welche jegt die Armenpflege übernehmen,
jtehen freilich feineswegd im Gegenſatz zur Kirde. Sie find,
wenigitens in dem lutherischen Landſchaften, vielmehr bürgerlid;e
und firchlihe Gemeinden zugleih; und fo auch in manchen
rejormirten Gegenden. Andere reformirte Gemeinden, nanentlic)
ſolche in Zerritorien, deren Herrichaft einem anderen Glaubene-
befenntnis anhing (z. B. am Niederrhein), find fogar rein kirch⸗
ide Körper. Der religiögsjittlihe Ernſt der reformirten Kirche
bat hier eine großartige kirchliche Armenpflege hervorgebradt.’)
Gemeindearmenpjlege iſt jedoch aud) dieie, im Gegenſatz zum
mittelalterlihen Eyjjtem.
Sen der Reiormation widmen ſich nun weiter, zum großen
Ihe wwtolge der reformatoriichen Bewegung?,, aud) die Lanves-
berser der Armenpilege.’, Eie erlaiien Armenorönungen tür ihr
Terre uud errichten Sondeshoipitäfler.* Tie örtlide Armen
sie zu eimzrimen bleibt ireilit den Gemeinden. Eben wegen
”i zur Uemandes fonnten die Sandexherten 14, um’omett
er nütende Eimrıhnungen anitlieger.'
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462 Die jtädtifche Verfafjung im Mittelalter zc.
Wie aus dem Gejagten bereit hervorgeht, find die Landes
herren auf dem Gebiet der Armenpflege keineswegs etwa mit dem
Beginn der Neuzeit ganz an die Stelle der Städte getreten. Die
deutichen Städte haben hier vielmehr bis in die neueite Zeit und
gerade in diefer eine höchft bedeutungsvolle jelbitändige Thätigfeit
entwidelt.!) Das Syſtem der Armenpflege, das eine deutſche Stadt
des 19. Jahrhunderts hervorgebracht hat, das Elberfelder *) Syitem,
wird Heute von der nationalökonomiſchen Wiſſenſchaft jogar als
Mufter der Armenpflege bezeichnet und bat nicht nur in vielen
deutjchen Städten, jondern auch über Deutichlande Grenzen
hinaus Aufnahme gefunden. Die Fürſorge ded Staates für die
Armen jchließt die Thätigfeit der Gemeinden nicht aus, wie
ebenjo feit der Trennung der bürgerlichen und firchlichen &e
meinden und der Ausbildung einer rein bürgerlichen Armenpflege
die rein firchliche noch immer ihre Berechtigung behält.°)
In den vorftehenden Ausführungen Haben wir zwiſchen
direfter Nachahmung und einfacher typiicher Entwidlung unter
ichieden. Auch die Errungenschaften der Städte, welche nicht
unmittelbare Nachahmung in den “Territorien gefunden haben,
find nicht vergeblich geweien. Die indirefte Wirfung, die eine
Einrichtung ausübt, iſt oft nicht weniger bedeutjam als die direkte.
mitunter andere, ältere jtädtifche Einrichtungen als Muſter gedient. Uhlhorn
3.89: „Man jhuf in dem Kollegium der Kaſtenherren einen ganz ähnlichen
Verwaltungskörper, wie man deren für jtädtiihe Angelegenheiten befad.”
2.%: „Hatte man doch ... dad warnende Beijpiel fo vieler durch unordents
lihe Wirthſchaft heruntergefommenen Klöſter und Spitäler und anbrerfeits
das gute Vorbild der jorgjamen jtädtiichen Finanzverwaltung und ihres ſchon
jehr ausgebildeten Nechnungdivefen® vor Augen.”
1) Über die Verdienſte der Städte um die Armenpflege jeit der Refors
mation vgl. z. B. Barthold 4, 337; Jahrbuch f. Befepgebung 1884 5. 286 ff.
und 1895 ©. 674. Für Luther's Stellung zur Armenpflege iſt die Kaftens
ordnung don Xeidnig eine der mwichtigften Quellen. Über die ihrer Eins
führung entgegengejegten Schwierigkeiten |. Luther's Werfe 12,6. Bgl. auch
die Literaturangaben ebenda S. 81.
2) Uhlhorn 3, 453 fi. Handwörterbuch der Staatswiflenidyaiten 3, 227 fi.
s; Vgl. Simons S. 148 fi.
Zur Geſchichte der Begründung der ſchwediſch—
norwegiſchen Union.
Von
Dietrich Schäfer.
In der reichen Literatur über die Begründung der ſchwediſch⸗
norwegiſchen Union, welche der Zwiſt zwiſchen den beiden Staaten
hervorgerufen hat, iſt die neueſte darſtellende Publikation eine
Schrift von Nils Eden. Betitelt Kiel-Freden och Unionen
(Upſala 1894. 143 ©. 8°), iſt fie jetzt auch in deutſcher Über
jegung erichienen: Die jchwediich- norwegische Union und der
Kieler Friede. Eine hiſtoriſch⸗-ſtaatsrechtliche Unterſuchung von
Nils Eden. Autorifirte deutiche Ausgabe. Mit einer Vor
bemerfung von Frig Arnheim. (Leipzig, Dunder & Humblot.
1895. 155 S. 8°.) Die Thatjache, daß fie als erfte jelbjtändig
ericheinende Schrift über dieje Frage dem deutichen Publikum
vorgelegt wird, rechtfertigt wohl ein bejondere® Eingehen auf
fie. Leider führt ein folches zu dem NRefultate, daß Eden's
Arbeit nicht geeignet ift, in irgend einem wejentlicden Punkte
die Kenntnis oder Beurtheilung der einjchlägigen Hergänge zu
fördern, wohl aber die Verwirrung und Erbitterung in ben
Tagesfämpfen zu fteigern.
Der Berfaffer will, bejonders in Anlaß der Bublifationen
Aubert's und Nielfen’3!), die Frage beantworten: „Sit der Kieler
)Y L. M. B. Aubert, Kielertraktatens Opgivelse som Unionens
retslige Grundlag. Christiania 1894. 55 ©. 8°. — Y. Nielsen, 1814.
Fra Kiel til Moss. Christiania 184. 875 8.
466 Dietrich Schäfer,
aft, ohne jede rechtliche Grundlage? Und was die Norweger
1536 über ſich ergehen ließen und ergehen laffen mußten, weil es
zwar feinerlei völfer- oder jtaatsrechtliche, wohl aber, bei der ba-
maligen Schwäche und Ohnmacht des norwegifchen Volkes, eine
genügende politische Grundlage hatte, weil e8 der Ausdrud der
beitehenden Machtverhältniſſe war, das jollten fie verpflichtet fein,
für alle Zeiten zu ertragen? Sie jollten keinerlei Recht haben,
zu gelegener Stunde, gejtügt auf eine in falt ununterbrochen
auffteigender Entwidlung wieder erjtarfte Volkskraft, die alt-
beſeſſene politijche Selbftändigfeit wieder zu beanspruchen? Was
ift das für eine völferrechtliche Gelehrjamleit, die von einem der:
artigen Rechte nichts weiß?
Aber gleichwohl, darüber kaun ja gar fein Zweifel jein, daß
der König von Schweden das Recht beſaß, den Stieler ‘Frieden
mit den Waffen in der Hand zur Durchführung zu bringen, die
Norweger unter jeine Herrichaft zu zwingen. Wenn fie ihrer
jeitö politiiche Selbitändigfeit beanjpruchten, jo hing der Erfolg
davon ab, ob jie Manns genug waren, jolche Selbitändigfeit zu
erringen und zu behaupten. Die Sadhlage war eben die, daß fi
bier von vornherein Beitrebungen gegenüberjtanden, von denen
feine fich eines bejjeren Rechts als die andere rühmen fonnte.
Die Norweger waren eine unleugbar beftehende, wenn auch ohne
politiiche Selbitändigfeit beitehende Nation; fie hatten zwar fein
völfer- oder ftaatsrechtlich ftipulirtes, wohl aber ein zweifelloſes
fittliche8 Recht, in einem Augenblide, wo fie als corpus vile
aus der Hand einer Macht in die einer andern gegeben werben
jollten, die ihnen dereinjt rechtlos entfremdete politiiche Selb
Itändigfeit wieder zu beanjpruchen. Schweden andrerjeit3 war
aud in jeinem Rechte, wenn es auf Grund des Stieler Friedens
Unterwerfung forderte. Diefe Sachlage iſt e8, die Verfaſſer mit
feiner doftrinären Aufruhrstheorie völlig überfieht.
Die weitere Entwidlung ijt denn auch nur ein Ausgleich
zwijchen diejen beiden Standpunften gewejen und zwar ein Aus—
gleich, der ganz überwiegend in norwegiihem Sinne ausgefallen
ift. Schon der Kieler Friede loderte die Bande der Abhängigkeit,
in der Norwegen bislang geitanden hatte. Er beftimmte, dab
468 Dietrich Echäfer,
Motiven, kann zunächſt gleichgültig jein — an die Spike der
norwegifchen Erhebung geftellt, Hat ihr Führung und Mittelpunft
gegeben. Eine Nationalverfammlung trat im April in Eidsvold
zujammen, arbeitete ein Neichögrundgejeg aus und wählte an
demfelben Tage, wo dieſes angenommen wurde, Chriltian Friedrich
zu Norwegens König. Einem ſolchen Vorgehen gegenüber fonnte
Schweden, wenn es jein Recht nicht ganz aufgeben wollte, nur
noch an die Waffen appelliren.
Hier erlangt nun das Machtverhältnis der beiden Völker
eine Bedeutung. Wäre die Überlegenheit Schwedens eine einiger
maßen erdrüdende gemwejen, jo hätte es die norwegiſche Selb
jtändigfeitsbewegung in ihren erften Anfängen erjtiden können.
Aber das war doch entfernt nicht der Fall. Der beite Theil
von Echwedens Streitfräften ftand im Heere der Verbündeten
gegen Napoleon und wurde erjt frei durch deflen Sturz. Was
im Reiche zurüdgeblieben war, reichte nicht Hin, auch nur einen
Verſuch zu machen. Erft ald Karl Johann (Bernadotte) mit jeiner
Armee zurüdgefehrt und weitere Rüftungen vollendet waren, fühlte
man ſich Itarf genug (Ende Juli), In einem ziemlich unblutig
verlaufenden Feldzuge drang man ungefähr 50 km weit in Feindes⸗
land ein. Aber jchon am 14. Auguſt machte die Konvention von
Mop allen friegeriichen Mapregeln ein Ende.
Es ijt neuerdinge zweimal, und zwar beidemal von
ſchwediſcher Seite, die Trage unterjucht worden, ob Schweden
militärich im Stande geweien wäre, den Widerftand der Norweger
völlig zu brechen, e8 zu willenlojfer Unterwerfung zu bringen.
Mankell möchte dieje Frage verneinen, Björlin, gewiß der weit
gründlichere und beſſer unterrichtete Forſcher, fie bejahen.!)
Zweifellos waren die Schweden den Norwegern militäriich weſent⸗
(ich überlegen. Referent möchte ſich auch der Meinung Bjdrlin’s
anſchließen. Aber für die Frage nad) der Begründung der Union,
ı. J. Mankell, Fälttäget i Norge är 1814. Stockholm 1887. Bgl.
Hiſt. Ztſchr. 69, 157. 162 5. 8%. — Björlin's Bud iſt auch deutſch er⸗
dienen: Ter Strieg in Norwegen 1814. Nach amtlihen Quellen und Auf
zeichnungen dargeitellt von Guftaf Pijdrlin. Stuttgart: Stodholm 18985.
854 S. 8°.
470 Dietrich Schäfer,
Konftitution anzunehmen und feine anderen Abänderungen der:
jelben vorzufchlagen, als für die Vereinigung beider Reiche noth-
wendig jind, ſolche Abänderungen aber nur im Einverjtändnis
mit dem Reichstage vorzunehmen. Wo bleibt da der Slieler Friede?
Der König von Schweden jtellt jich ja fait vollftändig auf den
Standpunkt des „aufrühreriichen“ norwegiſchen Volks, erfennt
rundweg die vornehmfte Frucht dieſes „Aufruhrs“, Die jelbit-
gegebene Berfaflung an. Selbitverftändlich, wenn diefen Ber
einbarungen eine dauernde Verftändigung nicht folgte, fo blieb
e8 dem Könige von Schweden unbenommen, auf den Sieler
Frieden zurüdzugreifen; ſchon deshalb konnte er nicht ausdrüd:
lich verzichten. Aber diefer Fall ift ja nicht eingetreten. Es ift
ja eine Verſiändigung erfolgt. Und dieje Verftändigung, bei der
e8 ausdrücklich ausgeſprochen wird, daß Norwegen ein freie?
und jelbjtändiges, aber mit Schweden unter einem Könige ver:
einigtes Reich jein jol, die bildet zufammen mit den voranf-
gehenden ftaatsrechtlichen Akten, der Aufrihtung einer Neid)“
verfaffung am 17. Mai und der Moß-Konvention vom 14. Auguſt,
die Grundlage der gegenwärtig beftehenden ſchwediſch-⸗norwegiſchen
Union, nicht aber der Sieler Friede. Norwegen gegenüber hat
der Kieler riede für Schweden nicht mehr Bedeutung, als für
den König der Niederlande gegenüber Belgien die Beitimmungen
des Wiener Kongreſſes. Gegen Dänemark und jede dritte Macht
iſt allerdings dieſer Friede noch heute ein Rechtötitel für Schwedens
Anſprüche an Norwegen, aber ein Rechtstitel, der im Grunde
genommen auc, entbehrlich gemacht worden ift durd) die zwiſchen
Schweden und Norwegen aufgerichtete Union. Beſteht dieſe, To
ift fie eine völlig genügende rechtliche Grundlage, um Anjprüde
jeder dritten Macht zurückzuweiſen.
Der Verfaſſer widmet lange Ausführungen den Einzelheiten
der Verhandlungen und dem Bemühen, feine Auffaffung durch
die Haltung der Großmächte zu fügen. Er hat da in Diefer
und jener Nebenfrage gegenüber norwegischen Auslafjungen nicht
immer Unrecht, aber in der Hauptfache kämpft er gegen Wind
mühlen, weil er die Thatjachen gegenüber Worten und Formen
glaubt völlig überjehen zu können. Charafteriftiih für feine
472 Dietrih Schäfer,
völlige gewaltjame Nicderwerfung der Norweger denn doch aud)
Schweden menjchlichem Ermejjen nad) viel Blut und Geld ge
foftet haben würde; dann Zweifel, ob auf diefem Wege ein
dauernder und ruhiger Anjchluß Norwegend an Schweden zu
jihern fei, Zweifel, die in der Art und Denfweije der leitenden
Berjönlichkeiten eine Stüße fanden; drittend die Haltung der
Großmächte, die einem friedlichen Ausgleich entichieden das Wort
redeten. Auf die fich eröffnende Möglichkeit, ohne weiteren Krieg
in den Belig Norwegens zu gelangen, ift Karl Johann alsbald
eingegangen. Dieje Möglichkeit eröffnete ich in dem Augenblide,
wo Chriftian Friedrich ich nicht mehr entjchieden fträubte, jeinen
Aniprühen auf Norwegen endgültig und ohne Vorbehalt zu
entjagen. &8 lag eben jo, daß Ehriftian Friedrich das Ichwierigite,
ja das einzige nennenswerthe Hindernis zwiſchen dem norwegiſchen
Bolfe und dem jchwediichen Könige geworden war. Es ift nun
ſelbſtverſtändlich, daß Schweden, indem es die Stonvention von
Moß einging und die Entfernung Chriſtian Friedrich's aus feiner
bisherigen Stellung mit der thatlächlichen Anerfennung der Eide
volder Verfaſſung erfaufte, doch bemüht war, möglichjt wenig
von feiner bisherigen Auffaffung preiszugeben. Und diefem Be
ſtreben entipringen die Beitimmungen der Konvention über die
Form des Zurüdtretens Chrijtian Friedrich'ſs von der geübten
Gewalt, ihrer Übertragung auf Andere, über die Führung der
Geſchäfte bis zur Verſammlung des Reichstags durch den Staats⸗
rat „auf hohen Befehl“, eine Klauſel, welche die Streitfrage,
ob im Namen des ſchwediſchen Königs regiert werde oder nicht,
unentjchieden lieh. Das find „mezzi termini“, unter denen die
gegenüberjtehenden Auffajfungen gewahrt blieben, YAuffaffungen,
die gewahrt bleiben mußten, wenn man zu einer Berftändigung
fommen wollte, da feine der andern zu weichen bereit war. In
den weiteren Verhandlungen, die mit der Wahl Karl’8 XIII. zu
Norwegens König (4. Nov. 1814) ihren Abſchluß fanden, gerieten
aber Schwedens PBertreter vor allem dadurch in Nachtheil, daB
Karl Johann die Bereinigung jo ziemlic” um jeden Preis herbei.
führen wollte. So fam e8, daß, wenn auch formell und ausdrüd»
fich niemals der alte Standpunkt aufgegeben und nie für gejeglich
474 Dietrich Schäfer,
zwei fchwedijche entgegen, einmal, da8 Bruderland möge Schweden
feinen Anlaß geben, auf den Stieler Frieden zurüdzugreifen, zum
andern, „Norwegen? Männer der Wiſſenſchaft mögen Redensarten
vermeiden wie die, daß dieſes oder jenes geeignet fei, bei allen
Norwegern böjes Blut zu erregen“. Ich ftehe meinerſeits nicht
an, zu erflären, daß gerade gegenüber Verjuchen, wie Eden fie
unternommen hat, Aubert’3 Wunfch feine volle Berechtigung bat.
Berfuche, die norwegiiche Bewegung von 1814 als bloßen „Aufruhr“
zu ſtempeln, alle8 „Recht“ auf fchwedifcher, feines auf norwegiſcher
Seite zu finden, die find gewiß nur zu geeignet, böjes Blut zu
machen, und erjchweren allen unionsfreundlicden Männern Nor—
wegens — und Sie find heute vielleicht nicht mehr der größere, aber
jedeufall® noch der beilere Theil der Nation — ihre Stellung ganz
außerordentlid. Sowohl von praftijchepolitifchen wie von wiſſen⸗
Ihaftlichen Gefihtspunften aus iſt Eden’3 Buch in feinem Haupt
inhalt verfehlt, und Deutjchlands dffentliche Meinung würde
völlig irre gehen, wenu fie fich diefe Darlegungen aneignen mollte,
eine Gefahr, die auch wohl kaum beſteht.
Übrigens find auch ſchon von ſchwediſcher, und zwar autori«
tativer Seite, Eden's Deduftionen nachdrücklich zurüdgemielen
worden (Svensk Historisk Tidskrift XIV, Öfversikter 102 ff.
von [Etaatsrath] C. G. Hfammarskjöld)). Mit Recht wird hier
u. a. hervorgehoben, daß Schweden nicht nöthig Habe, im Falle
eines Bruches der Union von norwegifcher Seite auf den Kieler
Frieden zurüdzugreifen, wenn ed wirklich dem Gedanken der
Gemwaltanwendung näher treten wolle; die Thatjache eines Bruches
der Union, als eines ftaatsrechtlich bindenden Altes, genüge, um
Schweden freie Hand zu geben in Anwendung der Mittel, welche
die Wiederaufrichtung einer ſchwediſch-norwegiſchen Verbindung
ſichern könnten. Alſo auch für die ultima ratio bedarf es jo
doftrinärer Auffaſſung nicht, wie Eden fie beliebt hat, und damit
jinft die legte Berechtigung jeiner Schrift dahin, ſoweit wenigitens
ihr Hauptinhalt in Frage kommt.
Europa verfolgt den nordiihen Zwift mit XTheilnahme.
Man darf wohl jagen, daß es in jeiner weitaus größten WMajorität
die Qöjung der Union tief beffagen würde Mit dem Treiben
Bur Geſchichte der Begründung der jcywediichenorwegijchen Union. 475
der norwegischen Radikalen iſt wohl nur in principiell republi-
faniichen Streifen Sympathie vorhanden; andrerfeit3 kann nicht
leicht jemand der fejten, ruhigen und befonnenen Haltung
des regierenden Königs feine Anerfennung verjagen. Xroß-
dem ift, wenn ein glüdficher Abjchluß der fchwebenden Fragen
erreicht werden foll, von größter Wichtigfeit, daß ſchwediſche
Bubliziften nicht DI in's Feuer gießen, indem fie Auffaffungen
vertreten, gegen die jeder Norweger Front machen muß. Heute
ihwebt der Streit in der Hauptjache noch zwiſchen Norwegens
Unionsfreunden und Uniondgegnern, und noch liegt fein Anlaß
vor, an dem endlichen Siege der Erjteren zu verzweifeln. Zu
widerfinnig wäre die völlige Trennung der beiden Nachbar:
völfer. Nimmt der Kampf aber einmal die Form eines Streites
von Bolf zu Volt an, fo möchte die Union aus dem Bereiche
der Möglichkeiten zurüdtreten. Es würden fich dann zweifellos
auch Europas Sympathien weit mehr theilen, als das heute der
Fall iſt.
Miscellen.
Das vermeintliche Schreiben Wiclif's an Urban VI. um
einige verlorene Flugſchriften Wielifes aus feinen letzten
Rebenstagen.
Bon 3. Coſerth.
Viele WiclifeForjcher verlegen in da8 Jahr 1384 ein Schreiben,
dad Wichf an den Papſt Urban VI. gerichtet hat.!) Wiclif jagt darin,
er freue Sich Tebhaft, wenn es ihm vergönnt jei, Jedermann feinen
Glauben darzuthun; bejonders Tebhaft jei dieſe Freude, wenn er die
dem Papſte gegenüber thun könne: denn der werde den Glauben,
wofern es der rechte „in Demuth“ bejtärken, wofern er aber irrig fei,
verbejiern. Man envartet nun ein förmliche® Glaubensbelenntnis.
Statt defjen werden nur fünf Punfte dargelegt, die insgeſammt auf
ein und dasſelbe Ziel führen: 1. Das Evangelium hat unbedingte
Autorität; 2. jeder Chrift, vor allem der Papſt, ald Stellvertreter
Chriſti auf Erden, Hat ſich nad diefem Geſetze Gottes zu richten;
3. Chriſtus — fo ſteht in diefem Geſetz — war ald Menſch der
Armſte und wies jede weltliche Herrſchaft von ſich; 4. kein Gläubiger
darf dem Bapite, ja ſelbſt einem Heiligen nachfolgen, wenn dieſe
Nachfolge nicht auf dem Borbilde Chrifti beruht. Daraus folgt
5., daß der Papſt die weltliche Herrichaft preißgeben und dazu aud)
jeinen Klerus anhalten muß.
Wenn ich in diefen Punkten, jagt Wiclif, geirrt haben follte, jo bin
id) bereit, mich jeder Buße zu unterziehen. Er wäre für jeine Berfon
bereit, fih dem Papſte zu jtellen, aber er jei aus dem Evangelium
1) Zulept gedrudt bei Ledler, Johann v. Wiclif 2, 633 — 6834. Die
übrigen lateiniihen und engliihen Drude ebenda 1, 713.
478 3. Loſerth,
So kann Riclif nad) der Cruciata über den Papſt Urban VL nidt
mehr gedacht und gejchrieben Haben; ſchon im Trialogus, der im
Jahre 1381 verfaßt wurde, lieft man: „Nach dem eben Gejagten muß
man glauben, daß fein Papft nad) Chrifti Anordnung nothwendig ift,
ja daß er nur dur Zug und Trug des Satan in die Kirche ein-
geführt wurde: Et sic supposito quod non est aliquis talis in
ecclesia militante per legem scripture quam habent fideles, et per
adiutorium episcopi animarum, qui est supra in ecclesia trium-
phante, stabilius staret nostra ecclesia, quam stat modo. Man
liebt, hier bat er mit dem Papſtthum jchon abgeſchloſſen. E8 wäre
für die Kirde — lehrt er bier und in anderen Schriften — viel
bejjer, wenn e3 ein Bapitthum nicht gäbe. Dem Papftthum, wie e3
beiteht, dankt man das Aufkommen des Sarazenenthums, die Spaltung
zwiſchen morgen= und abendländifcher Kirche u. ſ. w. Als die Kirche
ihre Dotation und die weltliche Herrfchajt noch nicht bejaß, da wuchs
fie gar prädtig: et statim post dotationem Caesaream cecidit
secta Saracenica et post divisa est ecclesia Graeca cum aliis
ecclesiis particularibus, quibus est longe tolerabilius quam est
nobis. So lehrt er aud) im Trialogus, man müfje die Fürjten dieſer
Welt auffordern, ji vor dem Raub ded Antichriſt zu vertheidigen;
die Kleriker, die er in’& Land bringe, müſſe man verjagen, ihn jelbit
dürfe niemand unterjtügen. Von den Klerikern müfje man verlangen,
aus der Bibel den Beweis zu erbringen, daß dad Papſtthum in die
Kirche nur eingejhmuggelt worden ſei.
Am ſchärfſten äußert er fih in feinen legten Werte — dem
Buh von Antichriſt. Hier ift der Papſt die abhominatio in ab-
stracto, der Greuel der Verwüjtung am hl. Orte. Heilig, grade fo
ironifch zu nehmen, wie wenn man fage „Deiligiter Vater“. Es fe
geradezu fchrediih für alle Chriſtenmenſchen zu hören, daß ein ſolches
Teufelshaupt (tale caput diaboli) jih den Stellvertreter Gottes auf
Erden nennt: Hoc ergo est abhominacio in abstracto quam
Daniel prophetavit. Sicut facit se nonıinari patrem beatissimum,
sic facit curiam suam specialem nidum diaboli eimonie atque
omnis mendacii vocari sedem sacratissimam.
Wenn es demnad im Jahre 1384 jeinen beftigjten Zorn erregt,
daß der Papſt ſich nenne immediate Christi vicarius, wie fann er zu
derjelben Zeit ihm ein Schreiben zugejandt haben, darin er den Papft
geradezu jo nennt: Suppono iterum quod Romanus pontifex, cum
sit summus vicarius Christi in terris, sit ad istam legem evangelü
480 J. Loſerth, Das vermeintliche Schreiben Wiclif8 an Urban VL x.
Keber anzufehen und danad) zu behandeln. Unter allen vier Punkten
liegt ihm die Lehre vom Leib des Herm am meiften am Herzen.
Über den modernen Gößendienft müflen Könige, geiftliche und welt
lie Obrigfeiten aufgeklärt werden. !)
Man fieht demnach, daß die Briefe oder richtiger die Flug⸗
ſchriften, die Wichf und jeine Anhänger 1384 in die Welt hinause
jandten, mehr enthielten, als da8 fogenannte Schreiben an Urban VL:
jie behandelten nody die Lehre vom Altarsſakrament und die Frage
der geiftlidden Orden.
1) Ad cognoscendum autem si sint fideles, foret medium empiri-
cum neutrum eorum suscipere tamquam papam, antequam fidem suam
sufficienter declaraverint de sacramento altaris, de vita paupere et
exproprietaria clericorum, de extollencia secte Christi super sectas
alias introductas ...
482 Literaturbericht.
Ebenſo ſehr überraſcht hat den Ref. das Fehlen jeder Erörterung
über die Grundſätze der hiſtoriſchen Kritik in ihrer Anwendung auf
die Geſchichte des Alterthums. Und doch herrſchen gerade auf dieſem
Gebiete noch immer die ſchroffſten Meinungsverſchiedenheiten; man
denke z. B. an die Behandlung der älteren griechiſchen Geſchichte durch
Wilamowitz einerſeits, Eduard Meyer und den Ref. andrerſeits. Eine
Orientirung des Leſers über dieſe und ähnliche Fragen war doch uns
bedingt nothwendig; die gelegentlichen Bemerkungen darüber bei der
Beſprechung der einzelnen hiſtoriſchen Hauptwerke jind ganz ungenügend.
Cehr jtiefmütterlid ijt auch die Chronologie behandelt; was
darüber auf ganzen 23 Seiten gejagt wird, betrifft nur daS Kalender:
wejen und die SSahreszählungen. Daß ganze große Gebiet der an⸗
gewandten Chronologie wird mit feinem Worte berührt, und doch it
died für den Hiftorifer bei weitem die Hauptſache. Es ıwar unbedingt
nothwendig, die Grundlagen darzulegen, auf denen die Datirung der
Ereignifje der alten Geſchichte beruht, und die widhtigiten Probleme
hervorzuheben, die ihrer Löjung noch harren. Sehr dankenswerth ift
dagegen der Abdrud des ptolemäiichen Königskanons (©. 305f.); nod
weitere derartige Beigaben wären eriwünjcht gemwefen.
So iſt es denn faft ausſchließlich Onellenfunde, was der Bi. und
bietet. Auch hier aber ijt er der ihm gejtellten Aufgabe keineswegs
in vollem Maße gerecht geworden. Schon gegen die Abgrenzung
zwijchen dem „allgemeinen“ und dem „bejonderen“ Theil ließe ſich
vieles einwenden; ganz verfehlt aber ijt die Anordnung des jpeziellen
Theils nad) dem ethnographiichen Princip, wobei wir denn zu unterer
Verwunderung Polybios unter den „talifern“ finden. Ebenſo vers
fehlt ift die Ökonomie des Buches: Bf. widmet den Quellen zur
orientalifhen Geſchichte jajt denjelben Raum, wie den Quellen zur
Geſchichte der beiden Hajlischen Völker zufammen, und dod iſt er im
der Geſchichte des Trients nicht ſelbſt Fachmann und ninımt alfo fein
Material aus zweiter Hand. Ta gehen wir dod) lieber gleich an die
Quelle und greifen zu Eduard Meyer oder zu den Handbüchern der
Verthes’ihen Sammlung. So bleibt denn freilich zu einer gründlichen
Behandlung der griehijchen und römiſchen Hiftorifer nicht der nöthige
Kaum; namentlich fehlt e8 faſt durchaus an einer jtrengen Quellen⸗
analyie, und der Lejer wird mit allgemeinen Redensarten abgejpeilt.
Ein Vergleih mit den entiprechenden Abjchnitten von Sufemihl’s
Literaturgefchichte der Alerandrinerzeit jällt fehr zu unguniten des Bf.
aus. Dazu kommt dann weiter, daß der Vf. jich viel zu fehr auf
484 Riteraturberidt.
Gerade diefe Partieen, welche dem Bf. völlig vertraute Gebiete
behandeln, find die beiten des Buches. Störender wirft ſchon
die Ungleichheit der Behandlung der verjchiedenen Zeitabfchnitte im
der Daritellung einzelner Inſtitute. Am fchlechteften kommt das Mittels
alter weg, welches oft ganz ausfällt. So begnügt fid) der Vf. beim
Erbredt der Schwaben, Baiern und Nipuarier für das eigentliche
Mittelalter mit der Bemerkung, daß es bier nod) an genügenden
Unterſuchungen fehle (S. 351. 353. 359). Ich meine, wenn man aud
von dem Bf. eine Lehrbuches nicht verlangen kann, daß er überall aus
den Quellen heraus den Stoff neu bearbeiten fol, — daß ein ſolches
Verfahren doch nicht zu billigen it. Es gibt für alle diefe Gebiete
reichliches Material keineswegs entlegener Duellen, die zu Rathe ges
zogen werden mußten; und an Vorarbeiten fehlt es im Einzelnen auch
nit. Anı beiten ausgeführt ift die neuere Zeit. Hier lieft man die
Daritellung vielfah mit Intereſſe. Dagegen ftehen die Partieen,
welche jidy mit Der älteren Zeit befafien, m. €. tief unter den Ans
forderungen, welche man an eine wijjenfchaftlicdde Arbeit jtellen muß.
Das Urtheil klingt hart gegenüber der Leiftung eines Mannes, defien
Name früher auf dem Gebiete rechtdgeichichtliher Forichung wohl⸗
angejehen war. Ich denke aber, daß die folgenden Ausführungen
es begründen werden.
E3 fehlt vor allem an hiftorifcher Kritif und Methode. Duellen-
jtellen der ältejten Zeit werden unvermittelt neben 1000 Sabre jüngeren
vermwerthet. Dieſes Verfahren ergibt überrafchende Reſultate. So
heißt e8 ©. 191f.: „Eine allgemein verbreitete, bis in's 16. Jahr⸗
hundert fortdauernde Benennung (der unehelich Geborenen) war
„sönigsfind‘, was in der Lex Salica und Ripuaria mit puer regis
überfegt ift“. Dazu merden angeführt eine Urkunde von 1468 in
Haltaus’ Glossarium: „all u. jeglich baftarten, genandt ‚königs Finder‘
in der Marggrafichaft Baden“ ; jowie Lex Sal. 13, 4.5; 54, 1. Lex
Rip. 53 (55), 1. ©. 192 U. 3 wird dann nacdjgetragen: „In Lex
Burg. 49, 4 und 76, 1—4 ind pueri regis Leute, weldye die Urtheile
vollitreden, VBfändungen vomehmen und heißen auch wittiscalei. —
Hienad, fünnte es üblich geweſen fein, Uneheliche zu Gerichtsbütteln,
Sacebaronen, zu beitellen.” Alſo weil im 15. Sabrhundert in einer
Gegend Deutichlands vereinzelt die Bezeichnung Königsfinder für Un-
ebeliche gebraucht wird — es geſchah das in Bezug auf ihre Beerbung
durch den Fiskus, die übrigens erft jeit dem Mittelalter nachweisbar it —,
deshalb müfjen die ein volles Jahrtauſend früher in den Bollsredhten
Deutſches Privatrecht 485.
als pueri regis (— Königsfnechte) bezeichneten Männer, die und
in der Stellung von Grafen und anderen föniglihen Beamten: bes
gegnen, Uneheliche fein. Aber ſelbſt wenn man diefe ungeheuerliche
Annahme nicht gänzlich abweifen müßte, hätte der Bf. doch auf Grund
diejes Duellenmaterial3 nimmermehr das Recht, zu behaupten, daß
die Bezeichnung Königstind in diefem Sinne eine allgemein ver—
breitete, bis in's 16. Jahrhundert jortdauernde gewejen jei. Kann
Doc) Thudichum aus dem ganzen Jahrtaufend vor jener Urkunde nicht
ein Beifpiel anführen! Was aber herausfommt, wenn der Bf. nun
auf Grund der mittelalterlichen Quellen über Uneheliche und der Stellen
Der Vollsrechte über die pueri regis die Rechtsſtellung der unehelic)
Sebornen vom 5. bis 15. Jahrhundert darftellt, fann man ſich denfen.
Daß eine richtige Schägung des Werthes der einzelnen Quellen
Sielfach vermißt wird, erklärt ſich zum Theil daraus, daß der Bf, die
zıeuteren Ausgaben, wie überhaupt die neuere Literatur etwa der legten
30 Jahre, nur jporadijch benußt. Unerklärlich aber ift es, wenn ©. 65
U. 5 von einer Stelle aus der Kapitularienſammlung des Anfegis (3, 65)
gejagt wird; fie fei unſicher wie die ganze Sammlung. Da fdeint
Denn doch der Bf. die bisher mit Recht als ganz zuverläffig angejehene
Sammlung des Anjegis mit der Fälſchung des Benedictus in einen
Topf zu werjen. Wären jolde Zweifel ernft gemeint, jo wären jie
Jebenfall3 zu neu, um ohne jeden Schein einer Begründung den jungen
Nechtöbeflifjenen aufgetiicht zu werden. Ebenſo grundlos behauptet
Th. aud) von anderen Kapitularien, daß fie noch nicht genügend auf
ihre Echtheit unterjucht feien. Für das Verhältnis des Bf. zu den
Duellen it die Art, wie er die Texte der Quellen erſt „verbejjert“
amd dann dieſe verbejjerten Texte interpretirt, bezeichnend. So
macht er es mit dem Edictus Chilperiei (S. 360), jo aud) mit der
Constitutio contra incendiarios von 1186 (©. 175). In letzterem
Geſetze findet jich die bekannte Bejtimmung, welche den filiis sacer-
dotum, dyaconorum ac rusticorum den Nittergürtel verbietet.
Daran nimmt der Bf, Anſtoß. Er zieht deshalb den angeblichen Tert
bon zwei Handichriften vor, nach welchem von den Söhnen der bäuer-
lichen Priejter und Diafonen die Rede fein joll. Diejer Tert aber
Tautet nad) Th.’3 eigener Angabe: De filiis sacerdotum dyaconorum
rusticorum, was aljo ganz dasjelbe bedeuten würde wie der andere
Text. Wie kommt nun der Bf. zu dem gewünjchten Texte? Er jagt:
Wahrſcheinlich lautete der echte Text: De filiis sacerdotum ac
dyaconorum rusticorum. Abſchreiber ließen das ac aus Verjehen
486 Literaturbericht.
weg, worauf e8 die folgenden an faljcher Stelle einſchoben.“ So kann
man freilich die Texte fagen lafjen, wad man will. Bemerft fei auch,
daß der Bf. ©. 34 die Eigenthümlidhleiten der Sprade des lango⸗
bardifchen Edikts ald „Sprachfehler“ verbeflert.
Für den Mangel wirklich kritiſcher Benupung der deutſchen Rechts⸗
quellen kann den Leſer auch die mit Vorliebe angewendete Rechts⸗
vergleihung nicht entichädigen. Hat e8 in Fällen, wie S. 75, wenig
Werth, wenn ausführlich auf altchineſiſche Verhältniſſe hingewieſen
wird, jo iſt des Vf. Nechtövergleihung in anderen Fällen völlig un⸗
verftändlid. So wenn ©. 107, wo von der freiwilligen Ergebung
in die Knechtſchaft aus Noth gehandelt und dabei, außer einem von
Gregor von Tours berichteten alle, nicht etwa die bekannten Beifpiele
in den Formellammlungen erwähnt werden, fondern bemerkt wird,
daß „1871 in Korſahan, Perfien, Eltern ihre Kinder den Turkmanen
in die Sflaverei verfauft hätten, und daß aus dem alten China Ahn-
liche8 berichtet wird“. ©. 293 wird behauptet, daß der „hauptſäch⸗
lie“ Zweck des Muntſchatzes gewejen fei, der Frau eine Zumendung
zu machen. Die Begründung für diefe unrichtige Behauptung lautet:
„Dafür fpricht Schon der Umftand, daß auch ein bloßer Vormund den
Muntihag erhielt, da eine Bezahlung für die Abtretung der Munt
bei diefem unvernünftig erjcheinen müßte, jowie fie bei einem Vater
wenigitens eine Rohheit wäre“. Aber warum foll der Bormund
feine Bezahlung erhalten für die Abtretung eines Rechtes, welches den
Germanen wegen der damit verbundenen Anſprüche regelmäßig al
vortheilhaft und begehrendmwerth galt? Und daß es bei einem Vater
eine „Rohheit“ gewejen wäre, ift nach den Anfchauungen der alten Zeit
fiher unbegründet. Im ©egentheil: eher war es ſchon eine verfeinerte
Auffafjung, daß der Preis nicht mehr für die Frau felbft, fondern für
da8 Mundium gezahlt wurde. Wenn der Bf. dann aber fortfährt:
„Es fpricht dafür aber auch der noch jeßt bei den Adighe im Kaufafus
geltende Gebrauch, daß die Frau bei jeder Geburt eines indes von
ihrem Vater oder Bormund einen Theil des Muntſchatzes ausgefolgt
erhält,“ fo kann man das nur als fchlagendes Beifpiel für mißbräud-
fihe Anwendung der Rechtsvergleichung bezeichnen. Ühnlich iſt es
auch, wenn Th. ©. 21 jagt: „Wer jich ein deutliche Bild von der
altdeutfhen Gefchlechtöverfafiung machen will, braudt nur in
J. H. Schwicker's Geſchichte der Öſterreichiſchen Militärgrenze die Schil⸗
derung von den Sadrugas (Zadrugas) oder Hausfommunionen bei
Kroaten und Eerben nachzuleſen“. Der Bf. verwertbhet dann auch
488 Literaturbericht.
auch eine Stelle bei Haltaus aus dem ſpäteſten Mittelalter, wo Mag⸗
ſchaft als affinitas erklärt wird, nichts. Geradezu die Dinge auf den
Kopf ſtellen heißt es aber, wenn Th., dem die Widerſprüche der Quellen
gegen ſeine Annahmen nicht ganz verborgen bleiben konnten, S. 15
ſagt: „Daneben kommt der Ausdruck Magen auch in einem weiteren,
die Blutsfreunde mit umfaſſenden Sinne vor.“ Das Unglaublichſte
aber leiſtet der Vf. in der Erklärung des Wortes Lidmagen, welches
in alemanniſchen Rechtsquellen des ſpäteren Mittelalters vorkommt.
Freilich finde ſich im Augenblick nicht, daß der Ausdruck ſchon irgendwo
erklärt iſt: die richtige Erklärung liegt aber ſo auf der Hand, daß ſie
wahrſcheinlich ſchon von Anderen gegeben iſt. Lidmage kann nur
den Gegenſatz zu Nagelmage bezeichnen. Bekanntlich ſtellt der Sachſen⸗
ſpiegel 1, 3 die Sippe unter dem Bilde des menſchlichen Körpers dar
und ebenſo nach ihm der Schwabenſpiegel. Die zur Sippe zählenden
Magen werden an die einzelnen Glieder zwiſchen Haupt- und Finger⸗
ſpitze gelebt. Die Magen ded 6. Grades ftehen am dritten Gliede
des Mittelfingerd: „in dem jiebenten Gliede aber, heißt es, ſteht ein
Nagel und nicht ein Glied (let, lid), darum Hört da die Sippe auf
und Heißt Nagelmage”. Wenn nun die nicht mehr eigentlich zur Sippe
gerechneten Magen des 7. Grades Nagelmagen genannt werden, fo
iit es durchaus verftändlid), wenn ihnen gegenüber die Magen der
jeh8 eriten Grade ald Lidvmagen bezeichnet werden. Dem entipricht
auch die Anwendung in der vom Bf. angeführten Stelle der Berner
Handfefte, wo für einen Beweis „jteben der nächſten Xidmagen“ ge:
fordert werden. Damit werden Nagelmagen unbedingt ausgeſchloſſen.
Ganz anders aber erklärt Th. das Wort. Zwar deutet er zunächft Lid
richtig als Glied, fährt dann aber fort: „Lidmagen wären demnach
Verwandte durch da8 männliche Glied“! Das wird als jaft jelbft-
veritändlich Hingeftellt. Aber es gibt doch noch andere Glieder, und an
jene8 denkt bei dem Worte nicht gerade Seder zuerit! Ja, nur wenige
Verwandte würden nad) diejer Erklärung nicht Lidmagen fein. —
Sehr wunderlich ijt aud) die Bemerkung über die Familiennamen (S. 20):
„Vorher (vor dem Auffommen der Familiennamen) führte Zedermann
nur einen Vornamen Henrid), Friedrich u. |. w., und der Sohn nannte
ji nur nach dem Vornamen feined Vaters Henrihs Sohn, Friedrich⸗
Sohn.” Ref. hat ziemlid) viel Urkunden und andere Quellen aus
jener Zeit gelejen, erinnert fid) aber weder einem Henrich⸗-Sohn noch
einem Friedrich-Sohn je begegnet zu jein. Patronymila kommen allers
dings vor, find fogar in manchen Gegenden, wie in Schledwig-Holftein,
4% Literaturbericht.
ausgedehnt. — Ganz irreführend ijt eg, wenn ©. 238 im Anſchluß
an die Bezeichnung des Grundeigenthumd als Erbe bemerit wird:
„namentlih aber hieß die den Markgenoſſen zuitehende Allmend
‚Sanerbichaft‘, die Märler Erben oder Ganerben“. Was namentlich
mit den Ausdrüden Ganerbe und Ganerbſchaft bezeichnet wird, ift
befannt, Die Anwendung auf die Markgenoſſenſchaft erit abgeleitet und
felten. — Bei der Behandlung des Erwerbes des Grundbeſitzes S. 141f.
werden die urſprüuglich verjchiedenen Beitandtheile des Yormalaftes,
Beligeinweifung und Auflafiung nicht deutlich auseinander gehalten. —
Auffallend ift eine Bemerkung ©. 265. Es wird von den Ber
pfändungsbüchern geſprochen und bemerkt: „Sin einigen Landichaften
freilid it man erjt recht jpät dazu gekommen, in der Stadt Berlin
an der Spree erit 1693.” Nun ijt allerdings in diefem Jahr eine
turfüritliche Verordnung über die Führung von „LXagerbüchern“ in den
Städten Berlin und Cöln a. d. Spree erlaffen, auß der man aber
nicht Schließen darf, daß vorher Verpfändungen bier überhaupt nicht
eingetragen feien. Im Gegentheil erhellt aus dem Berliner Stadt:
buch des 14. Jahrhunderts, DaB auch hier ſolche Eintragungen üblich
waren. — ©. 238 wird gejagt, daß bei willfürlicher Beritoßung der
rau ihre Verwandten auf Zahlung des doppelten Widems Klagen
oder Fehde auf Leben und Tod erheben fonnten. Erſteres wird durd)
die dazu angeführte Stelle (Lex Burg. 24, 2) nur infoweit belegt,
daß bei den Burgunden der veritoßenen Frau Anſpruch auf eine Zah:
lung in Höhe des für jie gezahlten Preijes zuftand: von den Ver⸗
wandten und der Fehde auf Leben und Tod ift nicht die Rede. Auch
jonjt wäre noch ausführlicher Widerjpruch gegen manches zu erheben,
was in Bezug auf dag Eherecht vorgebradyt wird, jo wenn das Recht
ded Gatten, den ertappten Ehebrecher zugleidy mit der treulofen Frau
zu töten, erit dem ſpäten Mittelalter zugeichrieben wird, mährend
es Ihon die Weitgothen von den Römern übernommen und anderen
germanijchen Stämmen überliefert haben; ebenjo gegen die Behauptung
S. 296, duß die feierliche Frage au die Verlobten, ob jie jich ehe—
lichen wollen, und ihre bejahende Antwort darauf „verinählen” ges
heigen habe. Das Wort bezicht fi auf die Abmachungen bei der
Berlobung. Auch zu den angeblidyen redhtlihen Folgen der Morgen»
gabe ©. 298 wäre manche zu bemerfen. Statt auf diefes und anderes
noch einzugehen, will id) nur noch eine Stelle des Buches hervorheben,
welche jo recht erfennen läßt, wie wenig der Bf. es verfteht, fich in
den Geiſt des alten Rechtes zu verjegen. (Er fpricht von der feier
492 Literaturberidt.
ftellung auf unbefangenen, ſtreng wiflenfchaftliden Unterfuchungen.
Eingehend beſpricht er den Verſuch des Papſtes Symmachus (499),
durch Geſetz das Recht des Papſtes, bei feinen Lebzeiten Die Nachfolge
mit den Wahlberechtigten feitzuftellen. Doc können wir ber Anſicht
des Df., Daß Symmachus hiermit nur dad auf einer Tradition der
römifchen Kirche beruhende Recht der Päpfte, ihre Nachfolger zu
defigniren, fchriftlich firirt habe, nicht beiftimmen. Seit der Mitte des
6. Sahrhundert3 kamen Defignationen nicht mehr vor. Die Abhängigs
feit, in der jih das Papſtthum von den oftrömischen Kaifern, dann von
den fräntifchen und deutichen Königen befand, trat ihnen hindernd ent»
gegen. Erſt mit Gregor VII. beginnen die Defignationen wieder, und
faſt ein Jahrhundert hindurch ward der päpftlicde Stuhl mit Päpften
befeßt, die von ihrem Vorgänger defignirt und danach von ben
Kardinälen gewählt wurden. Erſt feitden durch Alexander III. (1179)
für die Papſtwahl Zweidrittel-Mehrheit vorgejchrieben war, wurden
die Defignationen feltener. Als lebte Beijpiel führt der Bf. die
Defignation Paul's III. durch Clemend VII. an. Doch ift in ihr
mehr eine Enpfehlung als eine eigentliche Defignation zu erbliden.
An ihre Stelle treten fpäter allgemeine Ermahnungen, welche der
iterbende Papſt nicht felten an die Kardinäle ridtet. Zum Schluffe
erörtert der Vf. die Frage, ob der Papſt berechtigt ift, feinen Nadh«
folger zu ernennen, und verneint Diefe Frage. Er geht dabei von
dem Grundfaß aus, daß dem Papſte nur diejenigen Rechte zuitehen,
welche durch das Zeugnis einer Offenbarungsquelle ihm ausdrücklich
rejervirt find. Wir glauben nicht, daß der Vf. fid) damit in Über
einftimmung mit dem heute in der fatholifchen Kirche geltenden Rechte
befinde. Romanus pontifex est supra jus canonicum, wie
Beneditt XIV. erklärte. Die Gejebgebungsgewalt des Papftes ift
nur dur) das jus divinum befchränft. Daß uber das Wahlrecht der
Stardinäle auf jus divinum beruhe, wird wohl der Bf. nicht behaupten.
Loening.
Die Cluniacenfer in ihrer firdlihen und allgemeingefhichtlihen Wirk⸗
jamtfeit biß zur Mitte des 11. Jahrhunderts. Bon Ernſt Sadur. 2. Band.
Halle, Niemeyer. 1894.
Der 2. Band des vorliegenden Werkes verdient in gleihem Maße
die Anerkennung, welde der erite allfeitig gefunden hat. (Wgl. auch
9. 3. 70, 101 ff.) Die fritiihe Verarbeitung eined jo großen und
ungemein zerfplitterten Materials ift eine Leiftung, Die für ſich allein
494 Fiteraturbericht.
S.'ſchen Buches, daß es den überlieferten Borftellungen einmal Eritifch
auf den Grund gegangen ift und feinen Raum mehr läßt für unklare
Phantafien. Wir haben nun endlid) die Bewegung in allen ihren
Beräftelungen greifbar vor und und mögen es gerne dafür in den
Kauf nehmen, daß der Vf., von feinem kritiſchen Beftreben zu weit
geführt, ſchließlich dahin kommt, die Bedeutung der ganzen Bewegung,
wenn nicht zu negiren, jo doch über Gebühr einzuengen. Aber freilich
zu folgen vermögen wir ihm nicht auf diefem Wege.
Der Fehler des vorliegenden Buches liegt m. E. darin, daß es
die Bedeutung der religiöfen Impulſe, von denen die cluniacenfifche
Bewegung getragen war, nicht hoch genug einſchätzt. Eine katholiſche
Stimme Hat fi dahin geäußert, der Vf. habe wohl für die äußere
Geihichte Clunys ein ftaunenswerthed Material zufammengebradt,
eine Behandlung feines inneren Lebens ſuche man bei ihm aber vers
geblih. Der Vorwurf ift jo ungeredht nit, wie es auf den eriten
Blick ſcheinen möchte. Nicht bloß, daß die Schilderung der Snititutionen
und des eigentlichen Mönchslebens doch jehr zurüdtritt und keineswegs
erihöpfend ift (vgl. das ſchon H. 3. 70, 106 Anm. Gefagte), es fehlt
vor allem die volle Verſenkung in die Kraft und Tiefe der religiöfen
Grundgedanken Clunys. Dem Bf. find diefe Gedanken nicht verborgen
geblieben, im ©egentheil, wir begrüßen es beſonders dankbar, daß er
fie als die einzigen Triebfedern der Bewegung flargeitellt hat, aber
er unterfhäbt ihre Tragweite und fteht ihnen ohne Sympathie gegen»
über. Die Bewegung erfcheint ihm „unbeitimmt“, „abſtrakt“, „idens
tisch“, ohne „iehte Ziele“ und vor allem ohne die Kraft einer
energiihen „Agitation“ (S. 449). Es klingt wie ein Vorwurf, wenn es
heißt: „der Seclenfang war und blieb der eigentliche Zweck“ (©. 464).
Wir unfererjeitd erbliden gerade in diefer Weltabgezogenheit und
religiöjen Reinheit der Bewegung die Urſache ihrer weltüberwindenden
Kraft und in dem Mangel einer kirchenpolitiſchen Agitation den
mädhtigiten Hebel ihrer Verbreitung. Eben indem fie nicht ein be
jtimmted „Programm“, jondern eine „Weltanſchauung“ (vgl. S. 464)
unter die Maſſen trug, hat fie eine der größten Umwälzungen herauf⸗
geführt, welche die abendländiiche Sefchichte fennt. Gewiß Hat fie Die
hierarchiſchen Gedanfen nicht produzirt, es ift gut, daB der Bf. das
jo jcharf betont, aber noch weniger haben e8 die Legiiten gethan,
welche den Pſeudo-Iſidor wieder hervorholten (vgl. S. 284. 304 u. 5.)
und deren gelehrte Thätigfeit der Vf., wie e3 fcheint, zum Agens
einer weltgefchichtlihen Revolution machen mödjte. Produzirt brauchten
496 Literaturbericht.
Der Autor aber, der unter ſolchen Umſtänden ſchrieb, darf unſerer
dankbaren Anerkennung im voraus ſicher ſein. Dieſe Anerkemung
gilt nicht bloß ſeiner Arbeitsleiſtung als ſolcher, ſo groß dieſelbe iſt,
fondern in faſt noch höherem Grade der Kraft wiſſenſchaftlicher Selbft-
entfagung, welche er mit Übernahme und Durchführung diefer Aufs
gabe an den Tag gelegt hat. Freilich, wir halten und verpflichtet es
auszufprechen, er hat ſich feine Aufgabe mehr als nöthig erſchwert
und dadurch feinen Buche felbft gejchadet.
Ranke Hat einft die Aufgabe der „Jahrbücher“ dahin formulirt,
daß fie „eine kritiſche Feſtſtellung deſſen, was man über jeden einzelnen
Moment weiß und in wie weit diefe Kunde jicher iſt“ geben follen.
Bweifel3ohne haben fie alfo auch eine fortlaufende kritiſche Orien⸗
tirung über die bisherige Literatur der Epoche zu liefern. Der Bi.
hat mehr gethan. Er Hat in den Anmerkungen ein nahezu voll
jtändiges Referat über alle aufgeftellten Wteinungen und Anfichten
gegeben. Er hat fi) verpflichtet gefühlt, mit jedem jeiner Vorgänger,
Berufenen wie Unberufenen, in fritiiche Auseinanderj egung einzutreten;
er hat durchgehends, auch da wo er ſich zuitimmend verhält, Die Lite
ratur in den Anmerkungen refapitulirt. Und darin, meinen wir, ift er zu
weit gegangen. E3 wäre undankbar, wollten wir ihn einen Vorwurf daraus
machen, daß er mit einer Hingebung fondergleichen das kleinſte kritische
Stäubchen aufgehoben hat, wir erfennen im Gegentheil gern an, daß er
feinen Nachfolgern damit viel Mühe und Arbeit erjpart hat. Die Frage ift
nur, od das nicht auf etwas ſummariſcherem Wege aud) zu erreichen
gewejen wäre (vgl. Dümmler, Oſtfränk. Reich 12, Vorwort ©. VI),
ob nicht die Handlichkeit des Buches befjer gefahren wäre, wenn an
Stelle des referirenden Verhaltens der Literatur gegenüber einfad)
fnappe kritiſche Hinweiſe getreten wären, wenn Auseinanderſetzungen
wie die mit Gfrörer und Hefele weggeblieben oder wenigſtens auf
das denkbar fuappite Maß zufammengezogen wären, und endlich fo
manchen herzlich” unbedeutenden Diljertationen und Programmen die
Ehre einer Beſprechung und Widerlegung nicht erſt erwiefen wäre.
Wir unfererjeit3 würden es jogar für gerechtfertigt gehalten haben,
wenn Erzeugniffe von fo vollfommener wiſſenſchaftlicher Werthloſig⸗
feit wie Machatſchek's Geſchichte der Bijchdfe von Meißen ganz un»
genannt geblieben wären, und wir meinen, was das Bud) auf foldyem
Wege an Selbftändigfeit etwa eingebüßt hätte, würbe e8 an Über⸗
fichtlichfeit geiwonnen haben, vor allem würde dann aud) die Origina⸗
Iität der eigenen Leiftung des Df., die fid) jept im kritiſchen Geſtrüpp
498 Riteraturbericht.
zu übertragen. Wir können den Vf. bier nicht ganz don Harmo-
niftit der Quellen freiſprechen. G. Buchholz,
Scriptores rerum Germanicarum in usum scholarum ex Monu-
mentis Germanise historicis recusi: Lamperti monachi Hersfeldensis
opera recognovit O. Holder-Egger. Hannover u. Leipzig, Hahn. 1894.
LXVII u. 4% ©.
Unter den zahlreichen Gelehrten, die fich in den letzten Dezennien
mit dem hervorragenden Geſchichtſchreiber des 12. Jahrhunderts
Lambert — So pflegten wir ihn bisher zu nennen — beidäftigt
haben, hat ſich feiner jo verdient gemadt, wie Holder-Egger durch
jeine Unterfuchungen im Neuen Archiv und die vorliegende neue, erite
Gejammtausgabe von Zambert’3 Werfen. Vor allem verdanken wir 9. die
Entdedung und den Nachweis, daß und in der Vita Lull's, des Erz
bifchof3 von Mainz und Gründerd von Hersfeld, ein Werk Lambert's ers
halten ijt, defjen Entwurf von des Bf. eigener Hand wir in einem
Maihinger Coder, und dejjen vollftändigere Ausführung wir in fpäteren
Abſchriften, namentlich die ſonſt überall fehlenden fünf Schlußtapitel
in einer Trierer Handſchrift des 13. Jahrhunderts, befiben. Hiedurch find
ganz neue Anhalt3punfte für die Kritif Lambert's überhaupt gewonnen.
Aber auch die Edition der Annalen ift durch umfafjende Heranziehung
aller Hülfsmittel und durch eindringende Recenſion weſentlich ver
bejlert worden.
Namentlich Hat H. die Quelle Lambert’3 für den ganzen eriten Theil
des Werkes bis zu den Lebzeiten des Autors, die verlorenen Annales
Hersfeldenses, eingehend analyfirt, deren verfchiedene Necenfionen bezw.
Hortießungen aus den daraus abgeleiteten Annalen beitimmt, und
nachgewieſen, wie faft ausichließlich Lambert diefe eine Quelle benupt bat.
Die Annales Weissenburgenses, eine jener abgeleiteten Annalen, bat
H. in ihren forrefpondirenden Abfchnitten daneben geftellt und in
ihrer felbjtändigen Yortfegung bi8 1147 neu edirt. Es find zum
Theil recht diffizile quellenanalytiiche Unterfudjungen, um die es fi
da handelt, und die Abgrenzung der verjchiedenen Recenſionen der
Heröfelder Annalen läßt ſich nicht immer genau bejitimmen, aber Rei.
bat bei eingehender Nachprüfung die Refultate H.'s in allem weient-
lien zu bejtätigen gefunden. Nur halte ich die ſubſidiäre Benutzung
von Regino's Chronik feitend Yambert’8 nicht für erweislich: die drei biß
vier angeblichen Entlehnungen aus Regino, nur ſachlich nicht wörtlich
entiprechend und dürftig wie fie jind, laflen fih m. E. mit mehr
500 Riteraturberidtt.
für ein Annalenwerk aus folder myſtiſchen Erleuchtung herzuleiten!
Ich will damit nur dafür plaidiren, daß man Lambert nit von
vornherein dieſelbe bewußte Gleichgültigleit gegen das hiſtoriſch
Thatſächliche, die er in der Vita verräth, in den Annalen zuſchreiben
darf; denn im übrigen ergibt die Kritik der letzteren ſelber ja genug
Indizien für ſeine Ungenauigkeit und Unzuverläſſigkeit. Ich ſchreibe
dieſe aber mehr ſeiner rhetoriſchen Neigung, ſeiner mangelhaften Kennt⸗
nis und ſeiner parteiiſchen Eingenommenheit als bewußter Entſtellung
zu, während H. auf Grund feiner aus der Vita geſchöpften Anſchau⸗
ung geneigt ijt, legtered anzunehmen, aud) wo e8 nicht mit genügender
Sicherheit zu erweilen iſt. 3. B. ſcheint e8 mir durchaus nicht er-
weislich, daß Lambert den urkundlichen Wortlaut der fog. Securitates
von Canoſſa gekannt und fomit deren Inhalt bewußt fäljchend wieder:
gegeben babe; und daß er jenes Gottedgericht, das Papit Gregor dem
Könige beim Abendniahl zu Canoſſa zugemuthet haben foll, frei nad
Regino erfunden hätte, ericheint, abgejehen von der Unnachweislichkeit
diefer Entlehnung, Schon darum unzutreffend, weil ähnliche Fabeleien
auch bei anderen Beitgenofjen aufitoßen, die jomwohl von Regino wie
von Lambert durhaus unabhängig find; Lambert gibt vielmehr in
diejen Fällen, wie fo oft, untontrollirte Gerüchte, Anjichten, Nach—
reden feiner Partei wieder und zeigt jich nicht fo berechnend in der
Entjtellung der Thatjachen, wie H. durchweg annimmt.
Man Sieht, es iſt mur eine geringe Nüance, um die Ref. von
dem Urtheil H.'s abweichen zu müſſen meint, und in allem mwejentlichen
halte ich die Lambert-Fragen durch die neue Ausgabe für vollgültig
abgeichloffen. Dieſelbe it inhaltlid und formell als eine Mufler:
leiftung zu betrachten E. B.
Eine Wiener Brieffammlung zur Geſchichte des Deutichen Reiches und
der öjterreichiichen Länder in der zweiten Hälfte de8 13. Jahrhunderts. Nach
den Abſchriften von A. Etarzer herausg. von O. Redlich. Mit drei Tafeln.
Wien, in Nomm. bei F. Tempsky. 189. (U. u. d. T.: Mittheilungen aus
dem vatilanijchen Archive. 2. Band. Herausg. von der f. f. Alademie.;
Im Mat 1892 ſtieß A. Starzer bei feinen Arbeiten für das Isti-
tuto Austriaco in Nom auf den Cod. Ottobonianus 2115, der
dem Inventar zufolge Variac (rermaniae saec. XVI enthalten jollte,
in Wirflichfeit aber, wie eine von I. Redlich unternommene Unters
juchung einzelner Stüde dieſer Handſchrift ergab, eine neue reich«
baltige Duelle zur Geichichte der Zeit Rudolf's von Habsburg dar⸗
502 Literaturbericht.
menge bezieht ſich auf die öſterreichiſchen Länder.“ Am meiften ift
Wien berüdfichtigt. Schon daraus ergibt fi, daß „der Codex nicht
bloß in Wien gefchrieben, fondern die Sammlung auch dort ent⸗
itanden ift“. Die meiften Stüde diefer Gruppe gehen auf Materialien
zurüd, die der kgl. Protonotar Gottfried gefammelt hat. Der eigent-
liche Bearbeiter diefer Sammlung war ein anderer Protonotar des⸗
felben Namens, der in den Dienften ded Herzogs Albrecht jtand und
1295 geitorben iſt.
Der Herausgeber unterfucht hierauf den zweiten Theil der Sanıms
[ung und jein Verhältnis zu den anderen Brieffammlungen aus der
Zeit Rudolf’, die befanntlidy auf eine Arbeit des kgl. Notar Andreas
von Rode zurücgeführt werden. Won den 291 Nummern des zweiten
Theild finden ſich 224 aud in anderen Sormularbüchern.
Sowohl Gottfried al3 Andreas benüsten für ihre Sammlungen
echte8 Material, und in diefem Umitand liegt der Hauptwerth der
vorliegenden Sammlung. Was die Edition betrifft, find die einzelnen
Stücke chronologijch geordnet; Beränderungen, welde die Sanımler
an ihren Vorlagen gemadt, find durch furjiven Drud gekennzeichnet.
Die Einleitung bringt endlich eine „vergleichende Tabelle der Briefe
im Codex Ottobonianus 2115 mit der Ausgabe und den anderen
Sormularbüdern“. Der Anhang enthält die Varianten zum zweiten
Theil, Exordia, Salutationes etc.
Die neue Sammlung bietet zunächſt für Lokal- und Provinzials
geihichte, darin wieder für Öfterreihh und Böhmen viel neues
Material. Aber auh auf die Reichsgeſchichte und die päpftliche
Politik fällt vielfacd neues Licht (vgl. die Nummern 21. 22. 23. 24.
30. 33. 36—40. 51. 79 u. f. w.), und es wäre unſere Pflicht, die
Ergebniffe im Einzelnen herauszuheben und zu betrachten. Ta aber
der Herausgeber ſelbſt dieſes Material unmittelbar bei der Neus
bearbeitung der Regeiten Rudolf's und in der Gejchichte dieſes Königs,
an der er arbeitet, verwerthen will, jo mag an diefer Stelle davon
Umgang genommen werden.
Die Ausgabe ald ſolche ift mit aller Sorgfalt gemadt. Die
Abſchrift ift, wie ich mich an Ort und Stelle überzeugen Tonnte,
ziemlich) genau und wurde überdie3 von Dr. Teige nochmals ſorgſam
verglichen. Der Kommentar it vollfommen ausreichend.
J. Loserth.
504 Literaturbericht.
erſcheint nicht unberechtigt; immerhin find die Pläne und Ziele und
zu guter Letzt auch die Erfolge des habsburgiſchen Kaiſers doc uns
gleich bedeutender als die der thätigften und hervorragenditen Reichs⸗
füriten. Bor inneren Reichdangelegenheiten ijt in dieſer Zeit viel
weniger die Rede ald von ausmwärtiger Politik.
In der Stellung ded Reich zu den öftliden Mächten, zu dem
mit der Katholifenpartei fo tapfer ringenden tſchechiſch-huſitiſchen
Böhmenkönig und zu dem magyarifhen Emporfümmling in Ungarn,
der die zufammengefaßte Kraft feiner Nation jo fiegreih nad Weiten
vorſchob, wie zu den ebenfalld auf moderner Örundlage ji auf-
bauenden Staatenbildungen des Weſtens, zu Burgund und zu den
Schweizern, deögleichen zu Frankreich, zum Papite, waren überall die
Haudinterejien Habsburgs im Vordergrunde; noch viel wunderbarer
als bei feinem Sohne Marimilian erjcheint bei Yriedrih IIL der
Kontrait der beſchränkten Machtmittel und der meitaudgreifenden
Aſpirationen. Seine Yage ift immer eine mit den größten Schwierig»
teiten fämpfende, dad Morgen dem Heute abringende, oft geradezu
erbärmliche, und doch welche zähe, widerjtandsfähige Lebenskraft, der
andererfeit3 jeder Schimmer von Heroismus fehlt!
Der Stoff iſt in zwei große Abtheilungen zerlegt. Die erite,
1467— 1476, führt die Überfchrift: Die burgundifche Heirat, weniger
weil diefe ihren hauptjächlihen Inhalt ausmacht, denn den grüßeren
Theil desjelben bildet doch der Streit um die Krone Böhmen, als
weil jie mit der Erreihung des vom Kaiſer Burgund gegenüber
ausdauernd verfolgten Zieles ausklingt. Die zweite Wbtheilung,
1477—1486: Das deutſche Neid) im Gegenſatze zu Ungarn Die
römische Königswahl Marimilian’3 I. iſt erheblich kürzer und zeigt auch
gegen Ende mehr eine überjichtliche Darjtellung. Beſſer charakteriſirt
der Bf. den Inhalt und Standpunkt feined Buches in dem Neben»
titel: Staifertjun und moderne Staatenbildungen im Often und Weſten
des Reiches. Gründung der Großmacht des Haujes Habsburg. Die
Fülle neuen Materials, das Hier zum eriten Mal in einer groß an⸗
gelegten, doch, wie jchon angedeutet iſt, alle Vorgänge bis in’ Ein-
zelue verfolgenden Darſtellung verwerthet worden ift, ift außerordentlich
groß und ebenjo außerordentlich zeritreut; was der Bf. felbit an
archivaliſchem Stoffe ausgegraben hat, hat er während der Arbeit in
drei Bänden der Fontes rerum Austriacarum (2, 42. 44. 46) vers
öffentlicht. Schritt für Schritt belegt er Alle mit genauen Quellen⸗
nachweiſen; man wird fehr jelten finden, daß er Bedeutenderes über
506 Literaturbericht.
in dieſer Erwartung durchaus getäuſcht. Die reiche Literatur der
letzten zwölf Jahre über den Humanismus iſt auch in ihren bedeutendſten
Erſcheinungen nur ganz unzulänglich berückſichtigt worden. Ich finde
nirgends, daß Eberhard Gothein's Buch „zur Kulturentwicklung Süd⸗
italiens“, 1886, das die Kenntnis der ſüditaliſchen und beſonders der
neapolitaniſchen Renaiſſance jo ſehr gefördert hat, benutzt worden iſt,
obgleich Gothein an mehr als einer Stelle gegen Voigt's Darſtellung
Einſpruch erhebt; Denifle's „Geſchichte der Univerſitäten im Mittels
alter“, 1885, bleibt trotz unmittelbarer Polemik gegen Voigt unerwähnt;
dasfelbe gilt von Paulſen's „Geſchichte des gelehrten Unterricht“,
1885, deren erjter Abfjchnitt dem Humanismus gewidmet ift und
ſchon um ihrer eigenartigen Auffafjung von der kulturellen Bedeutung
des Humanismus und um des lauten Widerſpruchs willen, den
Paulſen's Betradhtungsweife gefunden hat, der Beachtung mürdig
geweſen wäre. — Und vollends erit die jtattliche Zahl von Einzel-
daritellungen und Ausgaben, mit denen und namentlich Stalien und
Frankreich beichentt Hat — mie wenig ijt davon in der Neuauflage
auch nur angeführt! Nur zwei Beifpiele: Gabrielli's Aufjag über die
Briefe ded Cola di Rienzo vermigt man ebenjo wie deſſen Ausgabe
de Epistolario di Cola di Rienzo, 1890; aber aud) Tadras' im
Jahre 1886 erfchienene Ausgabe der Cancellaria Johannis Noviforensis
ijt dem Herausgeber unbefannt geblieben ; die italienische wie die deutſche
Veröffentlichung fteht in leicht zugänglichen Schriften gelehrter Gefell»
jhaften. Die Aufzählung läßt fich leicht vermehren. Im Text ift gar
manches jtehen geblieben, was bei aller Pietät für den Bf. doch befier
getilgt worden wäre. Dazu zählen die vielen, allerdings durch die Ans
ordnung de3 Stoffe verurjachten, Wiederholungen, die ſich aber bei ſorg⸗
fältigerer Durchſicht wohl hätten mindern lafjen, auch eine Nachprüfung
der hronologifchen Angaben hätte ſich empfohlen; denn die Eigenthüm-
lichkeit der Ylorentiner Sahresrechnung, das neue Jahr erjt mit dem
25. März anzuheben, ijt nicht immer berüdjichtigt worden. Das
ungünjtige Urtheil, dag Voigt über die italienischen Univerjitäten gefällt
bat, iſt von der Einzelforjchung nicht bejtätigt worden; außer Denifle's
Buch zeigen eine Reihe italienifcher Arbeiten, daß der Antbeil der
Univerfitäten an den humanijtiichen Bejtrebungen viel bedeutender
war als Voigt angenommen hat; bejonders gilt dies von Padua, Pavia
und Florenz. Daß zwijchen der Univerfität zu Rom und dem
studium generale an ber Kurie zu unterjcheiden fei, ift ſowohl
Boigt ald 2. entgangen.
508 Riteraturbericht.
jtaatlihen Verwaltung und Umgeitaltung, welche über Böhmen während
der acht Jahre nad) der Schlacht am Weißen Berg erging. Der
Vorzug der meijten Arbeiten G.'s, nämlich eine weit auögreifende
archivaliſche Forſchung, tritt bier in bejonderd ausgedehnten Maße
hervor: feine Mittheilungen und Citate eröffnen einen überrajchenden
Ausblick auf unbefannte Quellen und Thatjachen. Andrerſeits freilid)
fehlen auch nicht die befannten Mängel. Ein methodiſch arbeitender
Geſchichtſchreiber würde 3.3. die ungedrudten Alten über die kirch⸗
lihe Reaktion Ferdinand’3 II. in Böhmen nicht heranziehen, ehe er
die im Anhang von Carafa's Germania sacra gedrudten Altenjtüde
ex cancellaria regni Bohemiae jich angeeignet hätte: ©. Dingegen
führt wohl diefe Schriftjtüde an, aber nicht als gedrudt, jondern wie
er Sie in feinen Archiven gefunden bat, und mit Inhaltsangaben,
welche gegen die Volljtändigfeit und Zuverläfiigleit feiner Auszüge
viele Bedenten erregen. Es hängt die® mit der Eigenart G8 zus
jammen, der eine feltene Kunft befaß, ausleinem Wuſt von Alten,
gleihfam im Flug, wichtige Vorgänge zu fajjen und im Flug eine
Anzahl darauf bezüglicher Korreipondenzen zu jfammeln, während die
Geduld, die Duellen erjchöpfend zu bearbeiten, befonder8 auch in dem
Sinn ſie zu bearbeiten, daß er ſich vor allen einen vollitändigen
Überblict über die Ergebniffe des gedrudten Materiald verichaffte, ihm
abging. Übrigens wird man bei Beurtheilung des vorliegenden Buches
nicht vergefien, daß es ein opus postumum ijt, und jich folglich aud)
nicht zu jehr daran jtoßen, wenn die Zujammenfafjung des Einzelnen
zu größeren Abjchnitten jajt überall den Eindrud des Unfertigen madıt.
An ehejten jcheint mir die im neunten Kapitel gegebene Entitehungss
geihichte der „verneuerten Landedordnung” zujammenhängend und
verhältnismäßig zuverläflig zu fein. Von hohem Intereſſe find aud)
die bei der Behandlung der kirchlichen Angelegenheiten gebrachten
Mittheilungen über den Gegenfaß zivifchen den Jeſuiten und andern
Organen der Hierarchie, welcher bei der Ummandelung der Prager
Univerjität hervortrat und in den Gegenwirfungen des Jeſuiten
Yamormain und des Stapuziners Valeriano Magni feinen fchärfiten
Ausdrud fand, — nur daß von diefem wie von vielen andern Theilen
des Buches dem Lefer der Wunſch zurüdbleiben wird, es möchten die
vom Bf. neu erſchloſſenen Gebiete geichichtlicher Kenntnis recht bald
einen jorgfältigen Ausbau erfahren.
Moriz Ritter.
6510 Literaturbericht.
der Akten hinausgehend, ſelbſtändige Vermuthungen aufſtellt. Die
Art z. B., wie er ©. 588 ff. den Einfall, daß hinter den Kapuziner⸗
berichten über Wallenftein von 1628 zwar nicht als eigentlicher Autor,
aber doch als Miturheber der Graf von Schwarzenberg itede, bes
gründet, fcheint mir da gerade Gegentheil einer ernithaften Beweis⸗
führung zu fein. — Troß diefer Einwände betone ich indes nochmalß,
daß das O.'ſche Werk für Seden, der den betreffenden Zeitraum
bearbeiten will, von hohem Werthe ilt. Moriz Ritter.
Trototolle und Relationen des brandenburgifchen Geheimen Rathes aus
dev Zeit des Kurfürften Friedrich Wilhelm. Bon Archivar Dr. Otte
Meinarbus, Privatdozent an der Univerfität Berlin. 2. und 3. Bd. (M. u.
d. T.: Rublifationen aus den fgl. preußifhen Staatsardiven. 54. u. 55. Bd.
CXLI, 684 bezw. 841 ©.) Leipzig, ©. Hirzel. 56 M.Y)
Gelten hat ein Kollegium eine jo vieljeitige Thätigfeit entwidelt
wie der brandenburgifhe Geheime Rath unter der Regierung des
Großen Kurfürſten. Als einzige Eentralbehörde des eben erſt in der
Entwidlung begriffenen Geſammtſtaates verfügte er über eine faft un-
beſchränkte Kompetenz. Neben den wictigjten Fragen der äußeren
Politik und der inneren, politifchen, finanziellen und Zuftizverwaltung
gelangten, bei dem Mangel am filtrivenden, unteren Inſtanzen, die
unbedeutenditen Kleinigkeiten unmittelbar vor fein Forum. ine
beliebig herausgegriffene Tagedordnung enthält 3. B. folgende Punkte:
Ständiſche Verhandlungen, Frankfurter Deputationdtag, Ixrenftierna,
Verbrechen, Kontributionsreſte, Zehdenider Zieſe, Kriegsſchaden, Zoll
zu Werben, Privilegien der Freienwalder Kietzer, Pferderequiſition,
Durchmärſche, Oderberger Pfarrer, preußijche Angelegenheiten, Münz-
verhandlungen u. |. w. Sn diefer Fülle von Verhandlungsſtoff liegt
zum großen Theil der Werth der Protokolle ded Geheimen Rathes.
Su Zukunft wird niemand, der fich mit irgend einem Kapitel brandens
burgifher Geſchichte in dem betr. Zeitraum bejchäftigt, achtlos an
ihnen vorübergehen dürfen. Allerdings find viele Gegenftände nur
mit ein paar Stichworten protofollirt, fo daß die qualitative Neidy-
haltigkeit des Materials hinter der quantitativen zurückſteht. Dennod)
bat jich der Herausgeber entichlojjen, die Editionsgrundſätze des
1. Bandes aud) in den beiden vorliegenden Bänden, weldhe die
Zeit vom April 1643 bis Auguſt 1647 umfaſſen, beizubehalten. Alle
Protofolle werden wörtlih und ohne Auslafjungen, die Relationen
Y) Bol. bie Beiprehung von Bd. 1 9. 3. 66, 320.
512 Literaturbericht.
hunderts, wie andrerſeits die Unzulänglichkeit der bisher über ihn vor⸗
handenen Literatur. Dieſe Geſchichte kann im Zuſammenhang aber
erſt dann geſchrieben werden, wenn die Alten feiner Thätigkeit voll⸗
jtändig vorliegen. Mit richtigem Takt hat M. deshalb der Ber
ſuchung widerjtanden, fie bruchitüdweife in den Einleitungen zu den
verfchiedenen Bänden zu geben. Die Einleitung am Anfang des
2. Bandes, die fi ebenfo wie das Regiſter am Ende des 3. auf
beide Bände erfiredt, enthält nur wenige Bemerkungen über die
Organifation ded Geheimen Rathes und die Stellung feiner einzelnen
Mitglieder. Sie fchließt fi) vielmehr eng an die Einleitung des
1. Bandes an uud behandelt die Grundzüge der brandenburgifchen
Politik in den lebten Sahren Georg Wilhelm's und in den eriten
Friedrich Wilhelm's. Indem fi M. bemüht, die Geſchichtſchreibung
dieſer Zeit ihrer ſtändiſchen Yärbung zu entlleiden, rüdt er Perſonen
und Berhältnifje in ein ganz neues Licht, deſſen Strahlen mit jteigen-
der Wärme auf den Grafen Adam von Schwarbenberg fallen, während
die vielgepriejenen Anfänge des Großen Sturfürjten von Schatten nicht
frei bleiben. Schwartzenberg iſt nad) ihm nicht mehr der böfe Dämon
des ſchwächſten Hohenzollern, der von deilen großem, jugendlid
genialen Sohne als „friedhäſſige Perfönlichkeit* richtig durchſchaut
und glücklich befeitigt wird. Er ift vielmehr „der getreue Eckart”
de3 furfürjtlichen Hauſes, der zielbewußte Vertreter einer wehrhaften
Bolitif Brandenburgs, von der jein unerfahrener, ſtändiſch berathener,
neuer junger Herr „im Anfang feiner Regierung aus jugendlichen
Idealismus und aus mangelnder Kenntnis“ ablenkt, um, durch eigene
Erfahrung gewißigt, bald zu ihr zurüdzufehren. Den Ausgangspuntt
für dieſes Urtheil bildet die von M. energiſch betonte Auffaſſung,
daß Schwargenberg als Staatsmann vor allen „ein grundfäßlicher
Gegner ded Ständethums und ein Vorfänpfer der abjoluten Monarchie
in Brandenburg=Preußen” gewejen fei. Was er zum Beweije dafür
vorbringt, iſt fo überzeugend, daß wir ihm in diefem für die principielle
Würdigung des Grafen fo wichtigen Punkte nur beipflichten können.
Aud von Illoyalität Schwargenberg’® gegen feinen kurfürſtlichen
Herrn, von Verdächtigung feiner Beziehungen zum Kaiſer oder gar
von hochverrätheriihen Umtricben wird in Zukunft feine Rede mehr
jein dürfen.
Nicht ganz fo glüdlih und gelungen ſcheint mir Dagegen der von
M. verfuchte Nachweis zu fein, daß die einzelnen Wtaßregeln der
Schwargenberg’ihen Politik ſtets die richtigen waren und daß die
614 Literaturbericht.
Die Fragezeichen, die wir hinter einzelne der Michen Aus—⸗
führungen gejeßt haben, follen die allgemeine Werthſchätzung feiner
Einleitung durchaus nicht herabjegen. Es ift anzuerfennen, daß er
da8 Material zur Stüße feiner Anfiht mit Umſicht gefammelt und
ſehr gejchidt verwerthet Hat. Sehr viele Einzelheiten treffen auch un⸗
bedingt zu, mit Recht wird der Gegenfap zwiſchen ftändifcher und
antijtändifcher Auffaſſung der Politik hervorgehoben, die einzelnen
Perſönlichkeiten werden vortrefflich charalterifirt.
Bejonderd dankenswerth ilt auch die Beigabe eined 4. Kapitels,
das ſich mit den wirthichaftlichen Zuftänden und Wandlungen in
Land und Stadt befchäftigt. An ihm werden die Protofolle und
Relationen außgebeutet, um die Verheerungen zu ſchildern, melde
der Dreikigjährige Krieg in der Mark anrichtete. Wie gewaltig er
unter der jtädtiichen Bevölferung aufgeräumt bat, ergibt ſich mit ers
Ihredender, ſtatiſtiſcher Deutlichkeit aus der fehr ſorgſam gearbeiteten
Städtetabelle, welche die Einleitung abjhlieft. C. Spannagel.
Corrispondenza tra L. A. Muratori e G. G. Leibniz conservata
nella biblioteca di Hannover ed in altri istituti e pubblicata da
Matteo Campori. Modena, G. F. Vincenzi. 1892. XLIH, 835 S.
Die in der Geſchichte der Wiffenichaften wundervolle, leider nicht
eben häufige Erjcheinung zweier durch gemeinfame Arbeit und durch die
gleichen Aufgaben verbundener Gelehrter von dem Range Leibnigens
und Muratori's hat mit Recht ſchon mehr als einmal die Aufmerk-
famfeit der fpäteren Forſcher auf fich gezogen. Aber meder des
Marcheſe Giufeppe Sampori!) kurzer Verſuch, nody Alfred Reumont'3?)
geijtreicher Eſſah geben ein volllommen deutliches Bild von den Bes
ziehungen der beiden Männer zu einander, von ihren gemeinfamen
Arbeiten und von dem Konflikte, der fie entziweite. Auch die Biographie
Muratori's von Gian-Francesco Soli-Muratori (1756) bietet für das
Verhältnis Muratori’8 zu Leibni nicht viel mehr als die Leibnik-
Biographie von Guhrauer. Denn dad Material, auf das fie fi
1) Leibnitz e Muratori in Prose e Versi nella sollenne inaugurs-
zione della statua a L. A. Muratori. Modena 1853. Da der Heine
Aufjag in Deutichland unbelannt geblieben zu fein jcheint — auch Wegele,
Hijtvriographie S. 642, nennt ihn nicht, was allerdings nichts beweift —, fo
jei bier ausdrüdlich auf ihn verwiejen: er beruht auf urtundlidem Material
und jelbjtändiger Forſchung.
2) Allgem. Monatsihrift, März 1854.
516 Riteraturberidt.
von den päpitlichen Parteigängern, befonder8 von dem bo8haften
Giuſto Fontanini angegriffen, nahm er überaus gerne den Beiltand
Leibnigend gegen die läfternden römiſchen Federn an. So entitand
in Leibnitend Kopf der Plan der Vindiciae Estenses, in denen er
die Größe der Eſtes ermeilen und die Einwürfe der Gegner Punkt
für Punkt widerlegen wollte Er will für das Alter des ruhmreichen
Geſchlechts neue Beweije erbringen und den, allerdings irrigen, Gedanfen
de3 von ihm verehrten und verdienten Bacdhini an den Zuſammenhang
der älteren Eſtes mit den Vorfahren der großen Mathilde von Canoſſa
erweilen. Aus dem geplanten Werte wurde zwar nicht, aber er führte
die beiden Hofhiltoriographen von Braunjchweig und Modena zuerit
zu häufiger Korrefpondenz und bald auch zu gemeinfamer Arbeit. Es
war fein Wunder, daß e3 den jungen Staliener unwiderſtehlich lodte,
feinen Namen mit dem des berühmten deutichen Philoſophen, den er
al3 feinen Lehrer und Meijter zu bezeichnen nicht müde wird, ver:
bunden zu jehen: ſchon zu Anfang des Jahres 1709 Hat er Leibnig,
an den er zum eriten Mal am 28. September 1708 gefchrieben hatte,
den Vorſchlag gemacht, die geplanten Vindiciae zu erweitern und die
Arbeit fo zu theilen, daß Leibnig die Geſchichtedes Hauſes Eſte und der
braunfchweigifchen Linie, er felbjt die des eſtenſiſchen Zweiges fchreiben
fole; das Wert jolle dann unter beider Namen erjcheinen. Aud
daraus wurde nicht, trogdem Wluratori immer wieder auf Ddiejen
Vorſchlag zurüdlam ; Leibnig wid) aus: der Gedanke diefer gemeinfamen
Unterfudung, der nicht feinem Kopf entiprungen war, mochte ihın
nicht gefallen. Ihn zog ed jeßt, da er ſoeben die beiden legten Bände
der Scriptores rerum Brunsvicensium vollendet hatte, übermädtig
zu feinen Annalen; dort gedachte er die Geſchichte des Haufes Eite
im YZufammenhang mit der des Haujes Braunfchweig zu behandeln.
Schon hier liegt der Keim zu dem Stonflifte, der das Verhältnis
der beiden der gleichen Aufgabe zugewandten Gelehrten jo empfindlich
jtören follte.
Mit den Gelehrten ijt es befanntlich ein eigen Ding; im Punkte
des Ruhmes verjtehen fie feinen Spaß, und an der Größe und den
Leitungen Anderer ich unbefangen zu erfreuen, wird ihnen zumeilen
Schwerer ald anderen Sterbliden. Auch Leibnig, jo liebendwürdig er
uns in diefen Briefen entgegentritt, war bier ſchwach. Wie fonnte er
über die feindfelige Necenjion grollen, die der böfe Fontanini an
jeinen legten Bänden der Scriptores in dem Venezianifchen Giornale
de’ letterati d’Italia (Tom. XII. 1712 p. 388 sq.) verübt hatte: er,
518 Literaturbericht.
wiſſenſchaftlichen Charakter der beiden Gelehrten; während Mura⸗
tori ſich oft eigenſinnig auf ſeine nicht immer richtigen Anſichten
verſteift, wird Leibnitz nicht müde, ihn mit neuen Argumenten zu
überzeugen.
Doch nicht dieſe ſtreitigen Punkte führten zu dem bedauerns⸗
werthen Konflikt. Immer wieder hatte Leibnitz die Publikation des
Muratori'ſchen Werkes, deſſen Manuſkript bereits fertig geſtellt und
ihm zur Begutachtung zugeſandt war, hinauszuſchieben gewußt, zuerſt
aus dem Grunde, weil er dieſe Forſchungen als noch nicht ab»
geſchloſſen erklärte, dann, weil ihre frühzeitige Publikation der eigenen,
im Auftrage ſeines Fürſten unternommenen Arbeit das Beſte weg⸗
zunehmen drohte. Man verſteht Leibnitzens Bedenken, wie Muratori's
ſteigendes Mißtrauen. Nicht zum erſten und nicht zum letzten Mal
geſchah es, daß ein jüngerer Gelehrter ſich um die Früchte ſeiner
eigenen Arbeit durch einen älteren und berühmteren Gelehrten bedroht
glaubte. Unglücklicherweiſe fanden ſich Leute, welche dieſes natürliche
Mißtrauen zu ſchüren wußten ; elende Klatfchereien und Verleumdungen
der Engländer und der Modenejen in London führten endlid den
Brud herbei.
Man fennt die große Streitfrage um die Priorität der Erfindung
der Integralrechnung zwifchen Newton und Leibnig. Ed war nicht
nur eine Sache literarifcher Schulen, faft mehr noch ein Gegenitand
nationaler Rivalität. Die Engländer ſchwuren auf ihren Newton und
erflärten den Deutichen ſchlechthin für einen elenden PBlagiator. Der
König Georg jelbit, in feinem Reiche unpopulär und umjomehr beitrebt,
die Gunft feiner englifchen Unterthanen zu gewinnen, war feinem
großen Hofhiltoriographen keineswegs günjtig gejinnt; er grollte ihm
noch wegen ſeines Verjuches, in faiferliche Dienjte überzutreten. Der
Hof urtheilte natürlid) wie der Herr, und die halbanglifirten Hannos
veraner in London hatten es jehr eilig, in die engliſchen Schmähungen
einzujtinmen. Der Graf v. Bothmer wie der Yaron d. Bernitorff,
beide hannoverifche Minifter in London, fcheuten fi) nicht, bei dem
modenejijchen Gejandten das Mißtrauen gegen Leibnig zu fchüren,
und der modenefifche Gejandtichaftäfekretär, der Abt Giufeppe Riva,
ſchrieb nun feinerjeit3 Brief über Brief an feinen gelehrten Freund
nach Modena, in denen er ihn vor den arglijtigen Anſchlägen Leibnitzens
warnte. Man bat in London offenbar Muratori gegen Leibnitz aus⸗
fpielen wollen; Newton jelbit bemühte jih, Muratori’8 Briefe an
Niva in die Hände zu befommen, doch wohl um fie gegen feinen
620 Literaturbericht.
Politik erforderlich war, kann wohl bezweifelt werden, umſomehr da
der Vf. vorzugsweiſe nach den ſchon mehrfach benutzten preußiſchen
und franzöſiſchen Akten gearbeitet hat, während das Münchener
Geheime Staatsarchiv ihm verſchloſſen geblieben iſt. Immerhin hat
er noch manches Intereſſante gefunden, namentlich über die Beziehungen
Baiernd zu Preußen und Rußland. Die baieriiche Regierung war
damals, wo fie die begehrlihen Anſprüche des übermädtigen djter-
reihifchen Bundesgenofjen noch mehr zu fürchten hatte als den fran«
zöſiſchen Gegner, gern bereit, ſich der preußifchen Politik unterzuordnnen,
ih von Preußen leiten und dafür befhügen zu laſſen. Da ihm diefer
Schutz nit in der gewünſchten Weiſe gewährt wurde, iſt Baiern
dann zunächſt in ein Schußverhältnis zu Rußland getreten. Der Bf.
erläutert nicht nur die Politik der baieriichen Regierung, jondern zeigt
au, welchen Widerſpruch fie bei den Ständen und bei der öffent:
lihen Meinung in Bayern fand. Mit wachjender Energie ſprach ji
das Land gegen dad Bündnis mit Oſterreich aus und forderte den
Anſchluß an Frankreich, obgleich ed von den Franzoſen nicht weniger
ausgebeutet wurde ald vorher von den Dfterreichern.
Paul Goldschmidt.
Das Deutihe Reich ein monardifcher Einheitsſtaat. Bon Albert
v. Rupille. Berlin 1894. 294 ©.
Nuville geht aus von dem Widerſpruch, der in dem Begriff eines
Bundesſtaates liegt, und will diejen Begriff befeitigen. Entweder ijt
ein fogenannter Bunbdesftaat ein Staat, d. h. die Enticheidung liegt
bei der Negierung ded Geſammtſtaates. Oder er ijt ein Bund von
Staaten, d. 5. im Fall des Zweifels liegt die Entjcheidung bei den
einzelnen, und die gemeinjame Gewalt reiht nur fo weit, als die
Verträge und der Wille der Einzelitaaten es geftatten. Abgeſehen
davon, ob dieſe Kritif einwandfrei fei: gewinnt man wirkflid ein
fruchtbarere8 Prinzip, wenn man mit R. ftatt Bundesitaat fagt Ein-
heitsſtaat mit weitgehender Decentralifation? Nicht der Grad der
Decentralijation unterfcheidet in eriter Linie den Einheititaat vom
Bundesſtaat. Was und zunächſt veranlaßt, einen Staat nidht als
Cinheitöftaat zu bezeichnen, ift die Form feiner Glieder. Wenn für
die Theile nicht die Form von Provinzen, jondern die von Staaten
überliefert oder gewählt ift, bejonderd wenn diefe Staaten Fürften«
thümer und Königreihe find — jo widerftrebt es und, von einem
Einheitöftaat zu ſprechen. Es ift das auch nicht bloß ein populäre
622 Literaturbericht.
einmal geltender Rechtsanſchauungen ift das nicht zu vereinen. Die
Zeit von 1806 bis 1870 betrachtet er ferner rechtlich al8 Interregnum.
„Das alte Deutiche Reich beitand, wie wir bewiejen haben, nod)
immer zu Recht“ (S. 98). Das ift nicht beiwiejen, vielmehr ift der
Bf. zu vecht künftlichen Auffafjungen gedrängt worden. Ebenſo er-
geht es ihm bei den Vorgängen des Jahres 1870, welche den Nord
deutfchen Bund zu den Deutichen Reich erweiterten und erhöhten.
Er geräth hierbei auch mit feinem Grundjag in Widerjprud, daß man
dad Weſen eines Staated in erjter Linie aus den Vorgängen, den
Auffafiungen und Anfichten der Gründer des Staats feftitellen müſſe,
nicht oder doch erjt in zweiter Linie aus der Verfaflung ſelbſt. So
glaube ich jeine Anficht richtig zu verftehen, jedenfalld begebe ich mich
danıit auf das Feld, auf dem er die Entſcheidung glaubt fuchen zu
müjjen. Da iſt nun aber klar, daß weder König Ludwig von Baiern
in feinen berühmten Zirkularſchreiben vom 4. Dezember 1870 von
einem Einheitsſtaate jpricht, no daß Bismard und Delbrüd u. f. w.
eine Erneuerung de3 alten Reichs oder gar — was R. doch fordern
müßte — eine Anerkennung der Thatfache, daß das 1806 aufgelöite
Reich noch beitehe, in's Werk zu ſetzen meinten. Wie künftlih und
unhaltbar die Auffafjungen find, zu denen R. greift, mag der Satz
©. 92 zeigen: „Einen Kurerzlanzler, dem diefe Pflicht (die Wahl zu
leiten) obgelegen hätte, gab es nicht mehr, der König von Böhmen
in der Perjon des Kaiſers von Djterreich batte im Prager Frieden
auf jede Mitwirkung an der Neugejtaltung Deutſchlands Verzicht
geleitet. So mußte dem Könige von Baiern als rechtmäßigem Nach—
folger de3 Kurfürjten von Pfalzbaiern der erjte Rang unter den zu
wählenden Fürjten eingeräumt werden.“ Baiern hat einfach als der
anerfannt mädhtigite und deshalb al3 der geborene Worthalter der
übrigen Fürſten die Aufforderung erlaffen. Die Bildung des Deutfchen
Reichs ift 1870 unterjtüßt worden durch die Erinnerung an die lange
gemeinfame Geſchichte, die unjer Volk in den Formen des heiligen
römifhen Reichs durdjlebt hat, aber man hat 1870 weder daran
gedacht, dad alte Reich zu erneuern, no hat man geglaubt, das
thatſächlich noch beitehende wieder al3 folched anzuerkennen. — All⸗
zuſcharf macht fchartig, das iſt der Eindrud, mit dem ich die auf
gründlichen Studien ruhende und durch Icharfe, wenn auch einjeitige
Beleuchtung wichtiger Vorgänge fördernde Abhandlung aus der Hand
lege. G. Kaufmann.
524 Literaturbericht.
und Akte der Diſtrikte, Sektionen und Klubs, ſowie den haupts
ſtädtiſchen Journalismus bezieht. Drei weitere Bände ſtehen in
Ausſicht. Band 3 und 4 follen ſich mit den „Monumenten, Sitten,
Snititutionen‘, mit „Biographie und Memoiren“ beichäftigen. Band 5
wird das allgemeine Regifter enthalten. Ergänzungen einer fo
ungemein weitjchichtigen Sammlung und Heine Berichtigungen des
Kommentard aufzufinden ift nicht ſchwer. Beiſpielshalber fei zu
1, 68 Nr. 337 erwähnt, daß es ſich bei Vulpius nit um ein
„Pſeudonym“, fondern um Goethe's Schwager handelt. An diejer
Stelle wären aud K. E. Ölsner's „Bruchſtücke aud den Papieren
eined Augenzeugen und unparteiiichen Beobachter der franzöfifchen
Revolution“ (vgl. Deutſche Zeitfchrift für Geſchichtswiſſenſchaft 1890
3, 100—127 und Uulard: La Societe des Jacobins 2, 100) zu
erwähnen gemwejen. Wie gewinnreich andrerfeit3 der Kommentar des
Herausgebers ijt, bemeifen u. a. 2, 497 und 512 die Notizen zur
Biographie Röderer's und Maret’3, oder 2, 488 der Artifel über den
Mercure de France. Die Arbeiten von Deſchiens, Hatin u. N.
werden durch die von M. T., der ed aud) an Wiedergabe dharalte-
riſtiſcher Holzſchnitte nicht fehlt, ganz in den Schatten geitellt.
Alfred Stern.
Recueil de documents relatifs & la Convocation des Etats
generaux de 1789. Par Armand Brette. I. Paris, Imprimerie
Nationale. MDCCCXCIV. CLIX, 534 ©.
Als Theil der Collection de documents inedits sur l’histoire
de France, die das Unterrichtäminijterium herausgeben läßt, wird
eine Sammlung von Aftenitüden erjcheinen, welde ji auf die
Berufung der Neihsitände von 1789 beziehen. Die äußere Anlage
des 1. Bandes entſpricht ganz derjenigen de Recueil des actes du
comite de salut public, publie par F. A. Aulard. Auch ijt der
genannte ausgezeichnete Gelehrte mit der Beauffichtigung des Druckes
der neuen Sammlung betraut. Ihr Bearbeiter, A. Brette, bat ji
bereits durch Beiträge in der Beitihrift La Revolution Frangaise
und in den Publikationen der Societe de l’Histoire de la Revolu-
tivn francaise (le sermont du jeu de Paume) vortheilhaft befannt
gemacht. Wie methodiſch und forgfältig er zu verfahren gedentt,
erfieht man aus jeiner Einleitung. Sein Werk wird auf viel feiteren
Grundlagen ruhen, als die in frage kommenden Bände der Archives
parlementaires, die [don häufig angefochten worden find. Es wird
die werthvollſte Vorbereitung einer vollitändigen Sammlung der
626 Riteraturberidt.
bat, doch immerhin dasjenige Land, welches als Hauptfundjtätte der
Überrefte antifer Kunft anzufehen ift, zwar vom Norden nicht unberührt
blieb, aber im Charakter feiner Kunſt der Antike am nädjiten ſteht;
daß Dagegen Deutichland und die Niederlande, welche ihrerjeitö wieder
ganz bedeutend von Stalien beeinflußt waren (Dürer, Rubens), immers
bin die Eigenart der modernen Kunſt entfchiedener ansprägten. Diejen
Unterſchied zwiſchen italienischer und deutſcher Kunjt fucht Wiehl in
anſchaulich-phantaſievoller Weile und an treffenden Beifpielen darzu⸗
zulegen. Sein Bud) ift ausgeſprochener Maßen ebenfo jehr für den
Künftler und SKunftfreund, wie für den Kunſthiſtoriker gejchrieben.
Unfere Zeit ijt die Zeit der Mufeen und der Kunftblätterfammlungen.
Das Mufeun aber entfernt den Kunſtgegenſtand aus der Umgebung,
für die er urjprünglich gejchaffen war, beeinträdhtigt fo deflen Wir-
fung. E83 gehört ein bedeutende Maß von Abjtraftiondvermügen
dazu, um von dieſer falſchen Situation abzufehen; es gehört Phantafie
und Empfindung dazu, um die urjprünglide Situation fid) zu ver-
gegenwärtigen. Ähnlich verhäft ed fich mit den Sanımlungen der
Kunjtblätter. Wie leicht wird unter diefen VBerhältniffen der Kunſt⸗
freund verleitet, den urfprünglicden Zwed der Kunſtwerke zu überjehen.
Der Verfaſſer des vorliegenden Buches bejigt die Fähigkeiten, welche
diefe Gefahr ausſchließen; er weiß jeine Leſer vertraut zu machen
mit dem ganzen Zuftand, aus welchem die Kunſtwerke entiprangen,
und der Umgebung, für melde jie beredynet waren. Er führt und
ein in die mittelalterliche, deutihe Stadt mit ihren Thürmen und
engen Straßen. Er zeigt uns die italienischen Verhältnifje, wo jtatt
der bejcheidenen Bürgerwohnungen PBaläjte die Träger der Kunſt find,
wo nicht die Kunſt für's Haus, jondern die Ausſchmückung des Äußern
überwiegt, wo die Plajtit mehr monumentale Größe erzielt, während
die deutjche in der Durchführung überlegen it. Er führt und vor
dad Thor der deutichen Stadt, zeigt uns die Landſchaft mit ihren
eigenen Weizen, gibt und eine lebendige Schilderung der anders⸗
gearteten italienischen Landjchaft und weiß im Zufammenhang damit
die Unterjchiede deutfcher und italienischer Landjchaft3malerei ein-
leuchtend darzulegen. Als fpezielle Beiſpiele zur Klarlegung feiner
Auffaffung dienen dem Verfaſſer die Städte Regensburg und Verona,
die Künſtler Fiefole und Fra Bartolommeo, Dürer's Kunft für's Haus,
d. h. feine Holzjchnitte und Nupferitiche, Giovannı Bellini, Michels
angelo, David Teniers und Adriaen Broumer, zum Schluß Peter
Paul Rubens, in weldem das anziehende Bild eined Höhepunktes
528 Riteraturbericht.
Papftpalaftes zu Avignon und des Louvre in Paris begonnen waren,
erblühte unter Karl IV., der ein Freund deutfcher Kunft war und
deutfche Dichter, Maler, Bildhauer und Arditeften an feinen Hof
308, die deutjche Kunſt hier mächtiger wie nur in irgend einem rein
germanifhen Gaue. Der Raum verbietet ed mir, Einzelheiten zu
berühren; nur den Gang der Unterfuhung des Bf. etwas näher dar»
zulegen, fei mir geitattet. In umfidtiger und umfafjender Weiſe
ſchildert N. die Vorausfegungen und Bedingungen, aus welchen das
glänzende Kunftleben und Stunfttreiben der karoliniſchen Epoche ent⸗
fprang. Nach einem furzen Überblid über die äußere Gefchichte
Böhmens während des 14. Jahrhunderts führt er die einzelnen
Bevölferungselemente als Förderer der Kunjtthätigleit vor: die Mit—
glieder des Königshaufes, die Bilchöfe des Landes, unter welchen
einige zu den namhafteſten Perjönlichfeiten ihrer Zeit zählen, Die
Welt: und Klojtergeiftlichkeit, den Adel und den Bürgeritand; ſodann
legt er die jened Jahrhundert beherrſchenden Zunftfreundliden und
funjtfeindlihen Strömungen und Ideen dar, wie da8 Aufblühen des
Fronleichnamkultus, die Zunahme der Marien-Verehrung, die Ver-
ehrung der Landespatrone, die wachſende Neigung zur Prachtentwick⸗
lung und NRepräfentation, die Errichtung der Univerfität u. dgl. m.;
andrerjeit3 aber die fteigende Oppofition gegen die Reliquienverehrung
und vor allem das Auffonmen de3 Huſitismus, der ja fchließlich die
ſtolze Blüte brechen folltee Daß den fremdländiichen Einwirkungen
beſonders jorgiam nachgegangen wird, ift nach dem oben Gejagten
felbftveritändlich; aber hervorgehoben muß werden, daß der Bf.
feineöiveg3 cinfeitig ijt, jondern dem Auf und Emporftreben des
tihedhifchen Volkes durchaus gerecht wird und die nationalstichechifchen
Künjtler und ihre Leiftungen gebührend in das Lidht ftellt.
Dieſem allgemeineren Theil folgt die Schilderung des Bau⸗
betrieb und der Baudenkmäler. Die feitgeregelte Ordnung im Baus
wejen, der Abſchluß der Verträge, die Baupolizei, die Beſchaffung
der Materialien, die Organijation des Bauamtd und der Bauhütte,
die wirthſchaftliche Stellung und Bezahlung der einzelnen Arbeiter»
Hajfen und die Koſten des Bauwerks werden ausführlich beichrieben.
Allerdings wird man die Empfindung nit zu unterdrüden vermögen,
daß der Vf., der auch im übrigen eine etwas breite, fi in Wieder-
holungen beivegende Darjtellungsweife nicht ganz bat überwinden
fönnen, bier zu ausführlid) geworden iſt; in eine Geſchichte der
bildenden Kunſt gehörten faum dieſe umjftändlichen und ermübdenden
530 Riteraturberidht.
und Idee“ Hat Kaulbach zu den führenden Geiftern nicht gehört, da
er nur den bereitö in der Zeit liegenden Gedanken Ausdrud verlieh:
Dagegen gewinnt da3 Bud; feine volle Beredtigung durd die liebevoll
eingehende Urt, wie bier ein an Mühen und Arbeit, aber aud) an
Erfolgen und an ftilem Glüd reiches Menſchenleben gefchildert wird.
Durch eine ausgiebige und gejhmadvolle Vermwerthung des umfang
reihen Briefnachlafied, durch die Einflehtung perfönlicher, auf Ernſt
Förſter, Ludwig Speidel, Morig Carriere, Karl Stieler und Die
Familie zurüdgehender Erinnerungen ift ed dem Vf., der fi in
feinen Helden vollkommen eingelebt bat, ohne jedoch dieſem gegen
über weder einen panegyriichen, noch einen kritiſchen Maßftab anzu=
legen, durchaus gelungen, ein einheitliche8 Lebensbild, dem der Werth
einer Selbitbiographie innewohnt, in gefälliger, leicht fließender Dar
jtellung zu bieten.
Wir durdjleben mit dem Meifter feine fchwere Jugendzeit, die
er ald der Sohn eines fleinen Goldarbeiterd in Arolſen, dann in
Mühlheim an der Ruhr verbradt, und können es ihm, den nad)
des Vf. Ausſpruch „feine Spur romantiihen Weſens“ anbhaftete,
wohl nachfühlen, wenn er in jpäterer Zeit, als er bereitö auf der
Höhe jeines Ruhmes jtand, es bedauert, daß er nicht habe Bauer
werden fünnen auf jener rothen Erde, deren jtählende Kraft er an
ſich erprobt Hatte. Dann folgen die Jahre auf der Düfjeldorjer
Akademie, wo er für den beiten und jelbitändigiten unter allen
Schülern des Cornelius galt (S. 52 und 101 werden wichtige Aften=
ftüde von Cornelius und dem Maler Kolbe zur Kenntnis der dortigen
Kunjtzuftände mitgetheilt); 1826 die Ülberfiedlung nad Münden;
endlich 1834 die fünjtleriihe That, die ihn mit einem Schlage über
alle feine Genojjen emporhob und zur Berühmtheit machte: die Kom⸗
pofition der Hunnenjcdjladjt, deren Idee ihn, wie auf S. 287 nad):
zulefen, vom Architekten Klenze eingegeben worden ift, und zwar
in einer dem romantiſchen Gegenitande beſſer angepaßten maleriſchen
Auffaſſung ald der monumentalen Geſtalt, die Naulbad) jelbit diejer
Darftellung verlich.
Sein zmweite® große® Werk: die Zeritörung Jeruſalems von
1836, im folgenden Jahre der im Auftrage des Ntronprinzen Mar
auögearbeitete Entwurf zu einem Cyklus weltgejchichtliher “Bilder,
dann 1842 die Pläne für den Wandichmud des Treppenhaufes des
Berliner Muſeums find bloße Anwendungen des in der Hunnen⸗
ſchlacht aufgeitellten, dem Zeitgeſchmack entiprechenden Princips,
Notizen nnd Nadridten.
Die Berren Verfaſſer erjuchen wir, Sonderabzüge ihrer in
Seitfchriften erfchienenen Auffäge, welche fie an diefer Stelle
berüdfichtigt wünfchen, uns freundlichft einzufenden.
Die Redaktion.
Allgemeines,
In Meifina iſt das erfte Heft einer neuen Zeitichrift für alte Gefchichte
erihienen: Rivista di storia antica e scienze affini, diretta dal
Dr. Giac. Tropea, Messina, tipografia d’Amico 18%. Gie foll
vierteljährlich in Heften von fünf Bogen erſcheinen; Preiß für Jahres⸗
abonnement 12 2., für die einzelne Nummer 4 8. Das 1. Heft enthält
außer dem Programm einen Aufjag vom SHeraußgeber, ©. Tropea:
l'’Etna e le sue eruzioni nelle principali fonti greche e romane, eine
fiterarbiftoriihe Studie von G. E. Rizzo: Questioni Stesicoree, vita ©
scuola poetica, und einen verfaſſungsgeſchichtlichen Artikel von E. Cocchia:
Del modo come il senato romano esercitava la funzione dell’ inter
regno; daneben Miscellen, Recenjionen (u. a. von Beloch's Griechiſcher
Beihhichte und von Ed. Meyer's Unterfuhungen zur Geſchichte der Sracchen),
Zeitichriftenihau, Notizen zc.
Die’Berlagsbuhhandlung von O. Regenhardt, Berlin, fordert zur Mite
arbeiterihaft an einer Sammlung von Biographien hervorragender
Männer auf bem Gebiet de8 Handels und ber Induftrie auf.
In Marſeille (bei Domenc) ift die erfte Nummer einer neuen Zeit-
fohrift für den Süden Frankreichs erjchienen, unter dem Titel: Revue de
Provence.
Bon einer neuen „©eographiihen LBertichrift”, herausgegeben von
A. Hettner, iſt da8 1. Heft erichienen mit Artileln von U. Hettner,
534 Notizen und Nachrichten.
theater of positive ldw, — the sovereign is the commander of posi-
tive law, and the government is the formulator and administrator of
positive law).
In einem Brogramm des Progymnaſiums in Malmedy (Ditern 1396,
35 ©. 49) veröffentlicht 3. Baar: Studien über den geſchichtlichen Unter»
richt an den höheren Lehranitalten ded Auslandes. Nähere Mittheilungen,
die eine willlommene Überficht gewähren, werden über den Geſchichtsbetrieb
iu Frankreich, Rußland und Nordamerika gemadt. Über Stalien und
England, über die nur eine furze Notiz zum Schluß gegeben wird, jowie
über unjere nordiichen Stammverwandten wäre eine ähnliche Überficht in
einem „weiten Brogramm erwünjdt.
Fr. Aly's Heiner Aufſatz „Über den Einbrucd des Materialismus in
die hiſtoriſchen Wiſſenſchaften“ (Preuß. Jahrbücher, Augujt 1895) jei hier
erwähnt als ein Zeichen der gejunden Reaktion gegen die mechaniſch⸗-ato⸗
miftifche Betrachtungsweiſe, wie fie namentlich anf dem Gebiete der neueren
Literaturgeſchichte leider ſtark um ſich gegriffen hat.
Der als Nachfolger Seeley’3 an die Univerfität Cambridge für neuere
Geſchichte berufene Lord Acton Hat eine Antrittövorlejung gehalten, an
der in der englijhen Preſſe zum Theil jehr ſcharfe Kritik geübt worden ijt.
Daß er al8 Muſter der Geſchichtſchreibung unferer Tage nebeneinander
Kante, Mommfen und Treitichle Hinjtellt, wird allerdings auch einen deutichen
Leſer etwas jeltfam anmuthen und läßt auf recht eflektiiche, vieljeitige
Neigungen des neuen Professor regius ſchließen.
Im Juniheft der Deutihen Rundſchau veröffentliht L. Stein einen
Aufiag: Das Princip der Entwicklung in der Geiſtesgeſchichte; einleitende
Gedanken zu einer (demnädjt zu veröffentlichenden) Geſchichte der Philoſophie
im Zeitalter der Renaiſſance. Berjajjer faßt feine Grundanſchauung jelbjt
in die Formel zufammen: Die immanent teleologiſche Entwidlung ift das
tragende Princip der Geiitesgeichichte.
Alte Geſchichte.
über bie Ergebnifje der neueren Ausgrabungen in Ägypten orientirt
ein Ejjai von E. Amelineau in der Revue des deux mondes vom
15. Juli: Les fouilles r6centes en Egypte. ®Bgl. auch in der Gazette
des beaux arts, Juli 1895: Correspondance d’Egypte; le nouveau
tresor de Dahchour von Al. Bayet (mit Abbildungen) und einen Auf⸗
fa von G. Steindorff im Auguftdeft der Deutihen Rundſchau: Bier-
zehn Jahre ägyptiiher Ausgrabungen (bei den Pyramiden von Memphis,
im Faijum und EI Amarna..
Die Revue d’Assyriologie 3, 3 bringt den von J. Heuzay dem
franzöfiihen Lnterrichtöminifterium erftatteten Bericht über bie legten
5836 Notizen und Nachrichten.
Aus den Etudes Religieuses März und Juni 1895 notiren wir einen
Artikel von X. Durand: La semaine chez les peuples bibliques.
In Mykene Hat man fürzlih mit neuen Ausgrabungen begonnen.
Zehn Gräber find geöffnet, in denen man Bronzefchwerter, Schmudjachen
u. ſ. mw. gefunden hat.
In Delphi iſt neuerdings außer weniger bedeutendeu Skulpturen zc.
aud ein großer Geſammtfund von 6700 mittelalterlidhen, meiſt griedhifchen,
fietlifden und venezianifhen Münzen aus der Zeit vor 1400 n. Ehr. ent⸗
dedt worden.
Bei den Ausgrabungen auf der Akropolis von Athen ijt eine Injchrift
gefunden, die einen Theil der Rechnungen für da8 Standbild der
Athene des Phidias enthält. Die AuffichtSbeamten, denen die Auss
führung dieſes Werkes unterftellt war, befunden auf der Inſchrift, daß tie
von den Schapmeijtern die Summe von 100 Talenten erhalten Haben, und
fie geben an, was jie davon für den Anlauf von Gold und Elfenbein für
die Statue verausgabt haben. Aus diejen Angaben ift zugleich der Martts
preig des Goldes in jener Zeit (ca. 438 v. Chr.) zu erichließen.
Im Jahrbuch des kaiſerl. deutihen Archäologiſchen Inſtituts 10, 2
beginnt Ehr. Belger mit der Veröffentlihung von „Mykeniſchen Studien“
(1. Über die Burg und Gräber von Mykene, in Ergänzung zu feinem
9. 3. 71, 363 erwähnten Programm).
Der Schwerpunft des Budres von B. Sauer: Grundfragen der
Homer-Kritif (Reipzig, Hirzel. 1895. 321 ©.) ruht in den tertkritiichen
Abjchnitten, während gerade die Hiftoriihen Theile, die Behandlung des
„hiſtoriſchen Kerns“ des Epos und einzelne jfahkritifhe Erörterungen in
dem ſonſt treitlichen Buche leider recht verfehlt jind. (E83 mag daher genügen,
wenn ich bier auf meine ausführlihde Beſprechung in den „Preußiſchen
Jahrbüchern“ verweiſe. Erhardt.
Über mykeniſche und homeriſche Kultur handelt ein Artikel von
M. Hoernes in der Äſterr.Ungar. Revue 18, 1: Griechenlands ältejte
Kulturftufen und ihre nordiſchen Beziehungen. Zur homeriſchen Archäologie
notiren wir ferner einen Artikel aus der Ztichr. f. die öfterr. Gymnaſien
46, 3: Der homeriſche Bogen, eine naturwifjenichaftliche Unterfudung von
St. Kellner, und einen Artikel von W. Reichel in den Archäolog.⸗
Epigraph. Mitt. aus Literr.:Ungarn 18, 1: Die Orfotäyre im homerijchen
Megaron.
Aus den Ardäolog.-Epigraph. Mittheilungen 18, 1 notiren wir nod
Überjichten über „Alterthümer aus Niederöjterreih”“ von %. Ladek und
über die „Antilenjammlung im erzbiihöflihden Seminare zu Udine“ von
J. Banko und B. Sticotti (Skulpturen und Inſchriften, endlich „Antike
Injchriften aus Bulgarien” (meijt griehifch, 37 Nummern) von V. Dobrustn.
688 Notizen und Nachrichten.
ſowohl den römijhen Cäſarismus, als vielmehr die analoge Entwicklungs⸗
reihe bei den Griechen biß zur Monardie Alexander's des Großen und
jeiner Nachfolger in’8 Auge faßt. — Aus Nr. 9 u. 10 berjelben Zeitichrift
verweilen wir noch auf einen Artikel von &. Meyer: Ulte und neue
Spraden in Kleinafien, in dem Verfaſſer über die verfchiedenartigen Sprach⸗
jtämme in Kleinafien, Ureinwohner, indogermanijche und ſemitiſche Stämmte,
betanntli ein jehr ſchwieriges und verwideltes Thema, trefflich orientirt.
Sn der Revue des Universit6s du Midi, die jeit kurzem als neue
Eerie der Annales de la Facultt des lettres de Bordeaux erſcheint,
veröffentliht &. Radet eine längere, fich vielfach mit dem in diejer Zeit:
Ächrift Bd. 74 erjchienenen Aufſatz von Kaerſt berührende Abhandlung: Ta
deification d’Alexandre (I, Nr. 2, Bordeaur 1895).
In Sicilien find bei der altgriediihen Kolonie Megara Hyblaea und
in ber Nähe von Syrakus bei Cajtelucio auf dem Berge Grimili größere
präbtiftorifhe Funde aus der Steinzeit, an lepterem Orte in
Verbindung mit einer Nefropole, gemadt worden. Aus Syrakus wird aud)
von der Auffindung von Gräbern aus der frühgriediihen Zeit, dem 8.
und 7. Jahrhundert v. Ehr., berichtet.
Bein Anlegen einer neuen Straße in Rom ift man in der Nähe des
Stolofjeums auf bauliche Rejte, Moſaik und Mauerwerk, geſtoßen, die von
Ranciani als Fundamente der Titu3-Thermen, die man bisher am
jüdmweitlihen Abhang des Esquilin annahnı, erklärt werden. Weitere Nach—
grabungen feinen die Annahme zu bejtätigen.
Wie jegt erjt nachträglich befannt wird, ijt bei den Ausgrabungen in
Bosco reale ivgl. unjere Notiz 74, 343 und einen Beriht von A. Mau
in den Mitth. des faijerl. deutſchen Archäol. Anjtituts, Röm. Abth. 9, 4)
auh ein großer Silberihag, Prunkgefäße mit herrlichen TVarftellungen in
Hochrelief, ähnlih wie beim Hildesheimer Silberfund, zum Vorſchein
gekommen. Ter vom Bejiger des Grundjtüdes zunächſt verheimlidhte Fund
iſt von Rothſchild in Paris für eine halbe Million erworben und den
Sammlungen des Louvre ald Gejchenf überwiejen.
Am Rheinischen Mujeum 50, 2 kritifirt ein Artikel von B. Krumb-
holz: Zu den Ajiyriala des Ktejiad, die von uns 73, 160 erwähnte Ab—
handlung von J. Maruuart. Es folgt ein Artifel von M. Ihm: Tie
Epigramme ded Damaſus, in dem Berfafler eingehend diefe chriftlichen
Stilübungen auf die Märtyrer behandelt. Wir erwähnen gleichzeitig, daß
als erited Volumen der Anthologiae latinae supplementa jet aud eine
Ausgabe der Epigranıme des Damajus von demjelben Verfaſſer erſchienen
it: Damasi epigrammata. Accedunt Pseudodamasiana aliaque
ad Damasiana illustranda idonea, recensuit M. Ihm. Leipzig, Teubner.
1895. 145 S. Bu jedem Etüd jind umfängliche Adnotationes hinzugefügt:
540 Notizen und Nachrichten.
über da8 Anfapyıxov ygauuareiov, vgl. die Notiz S. 355). — M. Schanz:
Sueton's Pratum (Rekonſtruktion dieſes Wertes in Abweihung von Neiffer-
jheid; es handelte nah Schanz jyftematifh nur von Natur, Menih und
Zeit, und ein zweites, von Reifferjcheid damit konfundirtes encyklopädiſches
Wert „Roma“ ift ganz davon zu fcheiden). — Endlih A. Behr: ‚Der
amphilochiſche Krieg und die Kerkyraeiihen Optimaten (neue Behandlung
einer von Köhler im Hermes 26 veröffentlihten Inſchriſt). — Aus den
Miscellen erwähnen wir außer der von Mommfen noch die von %. Blaß:
Xorotiavoi — Xosotiavoi (erftered war als volläthümlidhe Umwandlung für
Christianoi bis in's 4. Jahrhundert in Gebrauch) und Bemerkungen zur
Tlok. AInv. des Nriftoteles ven B. Keil und V. G. Thompſon.
Aus den Neuen Sahrbüchern für Philologie, 1895, H. 3, notiren wir
Artifel von E.U. Wagner: Zu Diodor’3 drittem und eritem Buche (über
die Quellen Diodor's, namentlich Agathardides); von C. Krauth die Forte
jegung der Unterfuhungen über „Berjhollene Länder des Alterthums“
(die Dftgrenze Skythiens und die Bölferreihe im Oſten von Skythien nad
Herodot); einen Heinen Artifel von DO. Bingel: Zur Geſchichte der griedhifchen
Heilfunde (Herod. III, 131 über Demokedes) und endlih von A. Wilms:
Die Beit des eriten Sklavenkrieges (Feititelung der Chronologie von
144—132 v. CHr.; der Anfang des Strieges ift nicht vor 141 zu jegen). —
Aus Heft 4 der Jahrbücher ijt nur ein Artikel von F. Suſemihl zu
erwähnen: Die Lebenszeit des Andronikos von Rhodos (ca. 125—50
v. Chr.; Angeinanderjegung mit dem Artilel von Gerike in der neuen Aus⸗
gabe von Pauly's Realencyflopädie).
Die Revue des études greques 29 (8, 1) enthält Artikel von R.
Darejte: Une pretendue loi de Solon {vgl. die Notiz ©. 163); von
M. Holleaur: Sur une inscription de Thebes (ſchon von Lolling im
Corp. inser. Graec. septentr. Wr. 2419 publizirt, jegt im Mujeum zu
Theben; eine Lilte von Schenkungen zur Herjtellung der Stadt nad dem
Zahre 316 von den durd Alexander d. Gr. erlittenen Schäden); von P.
Zannery: JLinscription astronomique de Keskinto (auf Rhodos,
publizirt von Hiller von Gaertringen unter den griechiſchen Inſelinſchriften):
von G. Schlumberger: Poids de verre etalons monetaires d'origine
byzantine; von Th. Reinacd: Inscriptions d’Amasie et d’autres lieux
35 Nummern aus Slleinafien;; und endlih den Schluß der Abhandlung
von P. Sirard: De l’expression des masques dans les drames
d’Eschrvle.
Sn der Revue archeol. 26, 3 ‚Mai, Juni 1895‘ behandelt 2. Dimier:
La polychromie dans la sculpture antique im Gegenfaß zu den Übers
treibungen von Gollignon. Wir notiren aus demjelben Heft noch Artikel
von P. Tannery: Sur les subdivisions de l’'heure dans l'antiquite
nd
und von S. Reinach: Les déesses nues dans l’art oriental et dans
642 Notizen und Nachrichten.
An den Atti della R. Accad. delle scienze di Torino 30, 7 handelt
€. $errero: Di un’ iscrizione di Aosta (Debication der incolae Salassi
an Augujtus aus dem Jahre 23:22 v. Ehr..
Ein interefiante® Thema behandelt in interefianter Darftellung bie
fleine Schrift von Ettore Ciccotti: Donne e politica negli ultimi anni
della repubblica romana (Mailand, Selbitverlag; 48 S.). Nad einer all«
gemeinen Einleitung, in der ein liberblid über die Stellung der Frauen in
Rom in älterer Zeit gegeben wird, bejpricht Berf. die Entwidelung polis
tiihen Einfluſſes bes weiblichen Geſchlechtes in ben lebten Zeiten der
Nepublif und führt endli eine Reihe einzelner ;srauentypen aus dieſer
Zeit vor (Wlodia, Calpurnia, Servilia, Scribonta, Borcia, Yulvia, Cleopatra,
Ictavia, Livia).
In der Beilage der Münchener Allg. Ztg. vom 2. Juli ijt eine
Münchener Univerfitätsredte von U. v. Bechmann abgedrndt: Die
Tendenzgefeßgebung des Kaiſers Auguſtus. Verf. leugnet den Nutzen diefer
Wejepgebung, der Ehegejepe zc., zur Reformirung der gejellihaftlichen
Schäden jener Zeit, unter offenbarem Hinblid auf die Gegenwart, jo daß
der Vortrag jelbft den Charakter eines Tendenzvortrages erhält.
Am Julihefte der Deutſchen Rundſchau findet jid ein Aufjag von F.
Mar Müller: Die wahre Geihichte des Celſus, in dem die Bedeutung
diefer Streitjchrift des Celſus über den Auyos aA, Irs, die wir nur aus der
Gegenſchrift des Origines kennen, für das Verjtändnis der Anfünge des
Chriſtenthums in feinen Berührungen mit der Philoſophie erörtert wird.
Im Hiſtoriſchen Jahrbuch 16, 2 veröffentliht 3. Stiglmayr den
Anfang einer Abhandlung: Der Neuplatoniter Proklus als Borlage des
iogen. Tionyfius Nreopagita in ber Lehre vom Übel. Die angezogenen
Stellen zeigen in der That die vollfommenfte Übereinftimmung des Dionyfius
mit der Schrift des Proflus de malorum subsistentia.
In Kairo Hat Dr. Karl Schmidt, der im Herbit v. 38. als Stipendiat
nach Ägypten gegangen ift, aus der Bibliothek des Kloſters Achmim eine
altchrijtlihe Schrift in koptiſcher Sprache entdedt, die ji al8 ein Dialog
zwijchen Jeſus und den Jüngern über die fleifchlihe Auferitehung daritellt
nah Schmidt wahrſcheinlich aus der eriten Hälfte des 2. Jahrhunderts
n. Chr. jtammend: vgl. darüber die Sigungsberichte der Berl. Alad. der
Wiſſenſch. Nr. 31).
Auf die Abercius-Injchrift (vgl. unjere Notiz 73, 1625 kommt %. €.
Gonybeare in einem Artikel in der Classical Review 9, 6 (Quli 1895)
jurüd: Harnack on the inscription of Abercius. Er publizirt eine
armenijche Überfepung der Inſchriſt und verhält fich den Zweiflern an dem
hrijtlihen Charakter der Inſchrift gegenüber jehr rejervirt. — Wir notiren
aus demjelben Heft der Classical Review einen Artikel von ®. Beterfon:
544 Notizen und Nachrichten.
eriten Jahrhunderten n. Chr. jtammender Skulpturen, bie auf ben Mithrag«
dienſt Bezug haben, entdedt, dazu noch namentlih ein ſchöner Altar, deſſen
vier Seitenflächen von plaſtiſchen Figuren bededt find, auf der Borberjeite drei,
auf den andern Seiten je zwei. — In der Nähe des HeiligtHums find noch
die Fundamente von zwei andern Gebäuden freigelegt, deren eines mit einer
Statue der Nemeſis und mehreren Heinen Altären gleihfall3 ein Heiligthum
geweſen zu jein fcheint.
Bei Hohenheim in Rheinheſſen jind in dem dort freigelegten fränfifchen
Gräberfelde eine Menge von Waffen und Schmudjtüden, jeltene Formen
von Gewandſpangen 2c. gefunden. Audh ein bei Sprendlingen auf
gebedtes, fräntifches Gräberfeld Hat reiche Ausbeute an Waffen, Schmuck⸗
jtüden und Geräthen ergeben. — Bei weiteren Ausgrabungen am römijchen
Kaftell bei Kannſtadt find Brudjtüde einer jog. Jupiter-Säule und die
Fundamente des Prätoriums gefunden.
Die Ausgrabungen des römischen Standlager8 von Novaeſium jind
jetzt abgeichlojjen ; die zahlreihen Fundſtücke find ins Rheinische Brovinzials
muſeum nad Bonn gebradt.
Bei Uttendorf in Iheröfterreich ijt ein großes Gräberfeld aus prä«
biftorifcher Zeit gefunden, und zwar fand ſich einmal ein grüßerer Brands
hügel, auf dem offenbar die Leihen verbrannt wurden, und daneben eine
Reihe von Heineren Hügeln ohne Brandipuren, in denen dann die Aſche
der VBerbrannten beigejeßt wurde.
Eine Reihe von Fund- und Ausgrabnngsberichten bringt da8 Jahrbud)
der Geſellſch. für lothringiſche Geſch. u. Alterthumskunde 6 :1894): L’enceinte
prehistorique de Tinery von E. Baulus. — Excursion archeologique
au Herapel von E. Huber (vgl. dazu die Anzeige- eines Sonderabdruds
aus den Menıoires de la societe nationale des Antiquaires de France 53,
1894: Antiquites du Mont Heraple von 8. Mar:®erly u. &. de la Noc). —
Die ſog. Römerftraße in der Oberfürfterei St. Avold von A. Hinrichs. —
Eine prähiftoriihe Wohnſtätte und eine römijhe trua von 9. vd. Hammer-
ftein. — Wusgrabungen und Funde bei Saarburg i. L. von Wich⸗
mann. — Der römiſche Meilenjteinjbei Saarburg und Römiſcher Grabfund
in Sablon (bei Meg) von J. B. Kenne.
Bei Wieſen in Hannover iſt das VBorbandenjein eines großen
Urnenfriedhofes aus vordrijtlicher, germanifcher Zeit feſtgeſtellt, der noch
feiner ſyſtematiſchen Aufgrabung barrt.
Bei Paſing in Bayern iſt ein after Reihengräberfriedhof aufgededt
mit Waffen und Geräthen aus dem 5. oder 6. Jahrhundert n. Chr.
über Fouilles d'un cimetiere Belgo-Romain à Vesqueville prös
Saint-Hubert beridtet G. Cumont in den Annules de la societ6
d’archcol. de Bruxelles 9, 1. — Sn der Revue archeologique 26, 2
546 Notizen und Nachrichten.
Aus den Neuen Heidelberger Jahrbüchern 5, 1 notiren wir nod einen
Artikel von 8. Zangemeifter: Zur germanifhen Mythologie (germantiche
Götter auf römischen Infchriften) und einen populären Vortrag besjelben
Verfaſſers, den er hier mit gelehrten Anmerkungen verfehen bat: Der ober⸗
germanijch-rhätiiche Limes. In demielben Heft findet fid) noch ein Nachtrag
„Bu ben Heeren ber Bürgerfriege” von U, v. Domaszewski (vgl. die
Notiz 74, 161) und ein Xrtilel von F. Oblenihlager: Der Name
„Pal“ als Bezeichnung der römiſchen Brenzlinie (diefelbe Frage behandelt
auch Zangemeiſter in dem eben erwähnten Bortrage; beide erflären ſich
gegen den Zuſammenhang von Pfal in diefem Gebraud mit Pallifade und
bringen da8 Wort vielmehr mit vallum, Wall, Erhöhung, zufammen).
Sn der Btichr. des Hiltor. Vereins für Schwaben und Neuburg Bd. 21
gibt 3. Schufter eine „Beichreibung der Römerjtraße von Augsburg nadı
Türkheim und Wörishofen“. — Im Globus 67, 22 behandelt &. Banca=
lari in ortiegung feiner hausgeſchichtlichen Studien: Thüringiſche
Haustypen.
Unter Notes and Documents tn der Engl. Hist. Review 39 (Juli
1895) veröffentliht H. Anscombe einen Artilel: The paschal canon
attributed to Anatolius of Laodicea (tft erſt 457 entworfen. Eben
bort folgt eine Miscelle von $. 9. Round: Henry I at Burne (sc.
Weitburne).
Die Revue des Questions Histor. 115 (Juli 1895) enthält einen
Auffag von P. Allard: Le clerg& chretien au milieu du IV sitcle
(über die joziale und politiihe Stellung ber Biſchöfe und des Klerus übers
haupt und über die Anfänge des Höfterlihen Lebens). Aus bderfelben Zeit
fohrift notiren wir eine fkirhenredhtlihde Studie von U. d'April: Les
eglises autonomes et autoc&phales (451—1885).
Sn ben Etudes Religieuses, Juni und Juli 1895, veröffentlicht
A. Lapdtre die Fortſetzung feiner Studien zur Geſchichte Papft
Johann's VIIL und feiner Beziehungen zu Karl dem Kahlen: Etudes
d’histoire pontificale. I. L’Eıinpire, l'Italie et le pouvoir temporel des
papes au temps de Jean VII (la royaute sous Charles le Chauve
und l’empire sous Charles le Chauve). IH. Gaule et Germanie.
Sn der Revue des deux Mondes vom 1. Juli 1895 veröffentlicht
E. M. de Vogüe einen Artikel: Le moyen-Age. Po£tes et philologues
(über die Arbeiten von Gaſton Paris).
Am neuen Heft der Quidde’fhen Zeitjchrift 12, 1 ift der Schluß der
Abhandlung von ®. Sidel abgedrudt: Die Verträge ber Päpfte mit den
Karolingern und das neue Kaiſerthum (vgl. die Notiz 74, 542). Berfafler
behandelt hier namentlid die Erneuerung des Kaiſerthums durch Karl ben
Großen und die Rüdwirkung diejer neuen Würde auf die Stellung des
548 Notizen und Nachrichten.
wortung diefer Frage gegen Michael. Endlih macht ebendort 8. Eubel
eingehende kritifche Bemerkungen zum Provinciale in Zangl’8 „päpftlidhen
FKanzleiordnungen”.
Sn den Württemberg. Vierteljahrsheften 4, 1/2 veröffentlicht 8. Weller
eine Miscelle: Zur Kriegägeihichte der Empörung des Königs Heinrich
gegen Kaiſer Friedrich IL.
Die Blätter des Vereins für Landeskunde von Niederöſterreich 29, 1—4
enthalten eine quellenfritiide Studie von K. Uhlirz: Die Continuatio
Vindobonensis, ein Beitrag zur Quellentunde der Geſchichte Wiens (an
da3 bis 1267 reichende, in Klofjterneuburg entftandene Annalenwert ſchließt
fih eine wahrſcheinlich ebendort, jedenfalls nicht in Wien geichriebene, aus
mehreren ungleihartigen Stüden bejtehende Fortſetzung).
Die Analectes pour servir à l’histoire eccles. de la Belgique 25, 3
enthalten die Fortſetzung der Documents relatifs & l’abbaye Norbertine
de Heylissem von Reujens (Nr. 34—110, 1187—1238).
In den Bulletins de la commission roy. d’histoire de Belgique
5, 2 veröffentliht 9. Birenne: Note sur un manuscrit de l’abbaye de
Saint-Pierre de Gand (aud) als Sonderabdrud audgegeben, Brüſſel 18%.
49 ©. Genaue Beichreibung einer jetzt im fgl. Archiv zu Brüffel auf»
bewahrten Handſchrift, die die Annales Blandinienses, einen werthvollen
Liber traditionum vom 7. bis 12. Jahrhundert und vereinzelte, bis in’s
14. Jahrhundert reihende Stüde enthält. Eine Anzahl von Bullen und
andern Urkunden aus dem 9.—13. Jahrhundert werden im Tert und Ans
Bang abgedrudt).
Sn der Revue de l’orient latin 3, 1 veröffentlicht Yrau B. de Khi-
tromwo: Pelerinage en Palestine de l’abbesse Euphrosine, princesse
de Polotsk (1173; in franzöfifher Überjegung nad dem Schluß der
ruffiihen Vita der heiligen Euphrofine). Ebendort publizirt 3. Dela⸗
ville le Roulr: Inventaire de piece de terre sainte de l’ordre de
’Hopital und zwar zunädjt: Inventaire des chartes de Syrie (in
373 Nummern von 1107—1287).
Am Archivio storico per le province Napoletane 20,1 publizirt
und kommentirt G. Guerrieri: Un diploma del primo Goffredo conte
di Lecei (Schenfung3urftunde aus Dezember 1082).
In den Studi Storici 4, 1 veröflentliht A. Erivellucci einen Beir
trag zur Gejdichte der Anfänge des Franziskanerordens: La penitenza
di frate Elia.
Aus dem Bullettino dell’ istituto storico ital. Nr. 15 notiren wir
eine Bublifation von A. Gaudenzi: Un secondo testo dell’ assedio
d’Ancona di Buoncampagno Veröffentlichung des Terte® nad dem
560 Notizen und Nachrichten.
Bürtler, Baternofterer, Glajer, Maler, Bildhauer, Maurer, Steinmegen unb
dergl. Dabei Hat U. fi nicht darauf beſchränkt, die Nachrichten über die
genofjenfchaftlihe Organifation und die politiſche Stellung des Handwerks
zu notiren, ſondern auch die über gewerbliche Erzeugnijfe und über einzelne
Handwerker und Künftler erwähnt. Wan erfährt alfo 3. B. aud), wie die
Wiener Bürger diefe und jene Kirhe mit den Erzeugnilien ded Wiener
Kunſtfleißes auszufhmüden ſich beftrebten. Die Yublikation umfaßt
128 Folioſeiten. Das dem Separatabdrud beigegebene Regijter bezieht
fi) auf die ganze zweite Hälfte des 16. Bandes. G. v. Below.
Karl Heldmann jtellt in jeiner fehr fleißigen und forgfältigen „Ge⸗
ihichte der Deutfhordensballei Hejjen nebit Beiträgen zur Gejchichte
der ländlihen Rechtsverhältnifie in den Commenden Marburg und Sciffen-
berg, I. Theil, bis 1360* (Sonderabdrud aus der Ztichr. des Vereins für
Heſſiſche Geſchichte, N. F., Bd. 20; Kafjel 1894, 2. Döll; 191 S. nebft einer
Unzahl Tabellen) zunädjt die Entftehung der Ballei, ihre Berfajlung, Er⸗
werbungen, Rechte (beſonders auc gegenüber den Landesherrihaften) und
Zhätigfeit dar. Als den Höhepuntt der Ballei bezeichnet er, von der
äußeren politiſchen wie von der innern Seite des eigentlihen Ordenslebens
betrachtet, die Sahre 1280—90. ©. 86, Unm. 3, weijt er auf einen inter-
ejjanten Beitrag zur Geſchichte des römiſchen Recht? in Deutjchland hin.
— Weiter unterſucht Heldmann jpeciell die landwirthichaftliden Berhältnijie:
Hörigkeit und Pacht, Gutspreiſe und Vertheilung des Grundbefiged. In dem
Abſchnitt zur Geſchichte der Hörigkeit geht er auf die fuldiichen Traditionss
bücher zurüd. Bei der Pacht unterjcheidet er als Hauptarten die einfache
Padıt und die Landſiedelleihe. Die legtere ertlärt er ald „das gemeinjame
Produkt von Grundhörigfeit und Prekarie, erwadien auf dem Boden der
Rodungen“. Die Zeitformen find jämmtlid) bei ihr vertreten. Sehr be—
ftimmt erflärt fi Heldmann in Übereinjtimmung mit dem Ref. (9. 3. 63, 308)
gegen Lamprecht's Behauptung, day die Hojgerichte (und überhaupt die
Hörigkeit) durch das Pachtweſen zerſetzt worden ſeien. „Nichts ijt irriger
als das... . Das Gegentheil entſpricht der Wahrheit: mit den freien
Pachten wurde den Hofdingen gerade eine auägebreitetere Wirkſamkeit zu⸗
gewiejen.“ Die jpecielle Darjtellung der landwirthſchaftlichen Berhältnifie
ift au (unter dem Titel: „Beiträge zur Gejhichte der ländlihen Rechts⸗
verhältnijje in den Teutihordenscommenden Marburg und Schiffenberg“)
al8 Marburger Dolktordijjertation von 1894 erichienen. G. v. Below.
Für die Betrachtung der Entwidlung der Landeshoheit im nördlichen
Deutichland, jpeziell der Staatsjteuern, ijt ein neuer Beitrag von Werth, den
D. Mertlinghaus in einer Unterfuhung über die Bedeverfaſſung
der Markt Brandenburg in den Forihungen zur Brandenburg. und
Preuß. Geſchichte 8, S. 59 fi. darbietet. In zwei Abjchnitten wird der
Berlauf bis zum 14. Jahrhundert geführt; ala der wichtigſte Moment tritt
552 Notizen und Nachrichten.
madjer legt darin jeine Gründe vor, aus denen die Ausſöhnung möglich
fei, die ihm für feine Kreuzzugspläne unentbehrliche Borausfegung iſt. Die
Datirung de3 nicht vollftändig und nicht ohne Fehler überlieferten Stüds
ift Schwierig; die übrigen Stüde find aus der Mitte der dreißiger Jahres
Doh hat der Berfafier ganz ähnliche Zdeen ſchon viel früher entwidelt-
Da ber Berziht auf das Reich vortommt, möchte id es eher dem Sabre
1334 zuweijen, ald den Jahren 1335—1336, wie die Herausgeber. S.
Ebenda ©. 99 beginnt eine breit angelegte Biographie des bretoniichen
Dichter? Jehan Meſchinot, die aus feinen Werken vor Allem die Satiren
gegen Ludwig XI. behandeln wird. Sie jtammt aus der Feder von Arthur
de la Borberie.
Sin den Melanges d’arch6ologie et d’histoire 15, 103 veröffentlicht
U. Coulon aus einer vatilanifchen Handidrift ein Fragment d’une
chronique du regne de Louis XI. vermuthlich aus der Feder eines
burgundiijhen Hofbeamten, in dem die genauen Schilderungen der
Krönung in Reims und des Einzug3 in Paris den weitaus größten Raum
einnehmen.
Das Juliheft der Revue des questions historiques bringt einen
Aufſatz: Premiere guerre entre le protectionnisme et le libre-&change
von E. de la Ronciere, der die Bemühungen Frankreichs nad) dem 100 jährigen
Kriege um Wiederbelebung des Handeld ſchildert. Hauptgegenſtand der
ſehr lebendigen Tarftelung ijt der Kanıpf, den der feinen geraden und
frummen Weg der Bolitif und des Krieges verſchmähende Ludwig XI. in
nothwendig proteftioniftifcher Weife gegen den Widerjtand jeiner Kaufleute
zur Bejeitigung des Zwiſchenhandels mit den Jtalienern und Nieder
ländern führte.
‘m Archivio storico Napoletano 20, 72 beginnt %. Cerajoli mit
der Herausgabe vatitanifher Aktenjtüde für Die Beziehungen zwiſchen
Urban V. und der Königin Johanna LI von Neapel.
Ein Söldnerführer unter Karl VIL, Jean de la Rode, beilen Ber:
fönfichteit innerhalb einer Gruppe gleichnamiger Herren erit feitgejtellt
werden mußte, wird in Revue des questions historiques 58, 41 von
Simon dargeftellt. Wegen feiner Tüchtigfeit hat ihn der König zum
Senefhall von Poitou gemadt. Später, ala er dur jeinen Freund La
Tremoille in Konjpirationen und den Würgerfrieg der jogen. feinen
Praguerie Hineingerietd, wurde er abgejegt und entging wohl nur durch
jeinen Tod (1440, jchärjerer Bejtrafung.
Berliner annalijtijhde Aufzeihnungen, wahrideinlih aus
dem Jahre 1434 jtammend und zumeiſt die Jahre 1369—1434 behandelnd,
bat Wild. Meyer aufgefunden und veröffentlicht jie in den Nachrichten
der Wöttinger Gejellihajt 1895, 3 mit jorgfältigem Kommentar.
Notizen und Nachrichten. 653
Eine Zufammenftellung der Oberlaujiger auf Univerjitäten
während ſdes Mittclalter® und bis zum Sabre 1550 gibt H. Knothe im
N.⸗Lauſitz. Mag. 71, 133.
Zum Theil aus ungedrudten Materialien gibt 9. Witte unter dem
Titel „Zur Geſchichte der Burgundertriege” in der Ziſchr. f. d. Geld.
db. Oberrheing Bd. 10 eine ausführlide Abhandlung über die Ereignifie
feit dem Sommer 1475 (nad) der Aufhebung der Neufier Belagerung) bis
zu der entfchiedenen Offenfive Karl's gegen die Schweizer Eidgenoſſenſchaft.
Bene Bücher: Nehme, Das Lübeder Oberjtadtbud. (Hannover,
Helwing. M. 8) — Nirrnheim, Das Handlungsbuh Vickos von
Helderjen. (Hamburg, Bob. M. 6.) — Zille, Die bäuerl. Wirthichafts-
verfaffung des Vintſchgaues, vornehmlidy in der zweiten Hälfte des Mittel-
alterd. (Insbruck, Wagner.) — vd. Ballinger, Das Berfahren gegen
die landſchädlichen Leute in Süddeutichland. (Insbruck, Wagner.) —
Joachimſohn, Die humaniſtiſche Geſchichtſchreibung in Deutſchland.
J. Die Anfänge. Sigismund Meiſterlin. (Bonn, Hanſtein. M. 10.) —
Ortvay, Geſch. der Stadt Preßburg. Deutſche Ausg. Bd. 1—3. (Preß⸗
burg, Stampfel. 1892/%.) — Vogelſtein u. Rieger, Geſch. der Juden
in Rom. HD. (1420—1870). (Berlin, Mayer & Müller.) — Pollock
and Maitland, The history of English law before the time of
Edward I. 2 voll. (Canterbury, University Press.) — F. v. Löher,
Das Kanarierbud. Geſch. u. Gefittung der Germanen auf den kanariſchen
Inſeln. (Wünden, Schweiger. M. 8.)
Reformation und Gegenreformation (1500 —1648).
Mittheilungen über Beziehungen der FZugger zum Humanismus macht
€. Fink in der Ztſchr. d. hift. Ver. f. Schwaben u. Neuburg 21 (1894). Anton
Fugger jtand mit Erasmus in freundfchaftlicher Verbindung (ein Brief von
ihm an Erasmus von 1530 wird abgedrudt). Vorwiegend handelt der
Aufſatz über etliche jchlefiihe Humanijten, deren fih Anton und fein Sohn
Markus Fugger vielfah angenommen Haben, den Poeten Georg dv. Logau,
Unton Baus und den Juriſten Nikolaus v. Neusner.
D. Vogt referirt in der Zeitfchrift für Kirchengefchichte 16, 1 tiber drei
Briefe Bugenhagen’s (von 1523 und 1524) an Spalatin, die 1891 in
den Mitt. d. Inſtituts f. öſterr. Geſchichtsforſchung 12 von R. Thommen
veröffentlicht worden find.
Im Anzeiger für Schweizer Geſch. 1895, 2 weiſt W. Ochsli auf
Grund der betreffenden Briefe nach, daß die jpätere Behauptung Tſchudi's,
ber erite Drud jeiner Rhaetia 1537 fei gegen feinen ®illen von Gleveau
veranlaßt worden, nicht wahrheitsgemäß geweſen ift.
554 Notizen und Nachrichten.
In den Nahrihten der Geſellſch. d. Wiflenih. zu Göttingen 1895, 1
bejchreibt und beipriht W. Meyer eine in Böttingen befindlihde Nahichrift
der Pojtile Melanchthon's von 1555/56 und vergleicht biejelbe mit
Pezel’3 Drud. Die Göttinger Handichrift läßt einen ſehr guten Einblid in
Melanchthon's Lehrthätigkeit thun und wäre, wie Meyer ausführt, befonders
geeignet, als Grundlage für weitere Forſchung gedrudt zu werden.
Intereflantes Material zur Geſchichte der Univerfität Frankfurt a/D.
veröffentliht E. Friedlaender in den Forihungen zur Brandenb.-Preuß.
Geſch. 8, 1, und zwar einmal 14 Erlafje des eriten Rektor Wimpina an
die Studirenden (Anſchläge am jchwarzen Brett) von 1506 und fodann eine
Verordnung vom 14. September 1542 über die Reform der Univerfität nad
einer Bilitation dur kurfürſtliche Delegirte.
Sn einem interefjanten Auffage behandelt K. Haebler in der Ztſchr.
d. hilt. Ver. f. Schwaben und Neuburg 21 (1894) auf Grund bisher unbes
fannter Urkunden die Frage, wie die Weljer in den Befig von Benezuela
gelommen find, und namentlih die dort vorhergehende Regentichaft der
Ehinger (1528—1530). Aus diejer Zeit werden eine Reihe von Aktenſtücken
aus dem Britiih Mufeum und dem Dresdener Archiv abgedrudt.
Die Augsburger Chronik des Clemens Sender, die kürzlih durch
die Hiſtoriſche Kommijjion in Münden veröffentliht worden ift, wird durch
W. Vogt in der Ztidhr. d. hiſt. Ver. f. Schwaben u. Neuburg 21 aus
führli bejprodhen und ihre Bedeutung für die Geſchicht Augsburgs in
der Reformationszeit gewürdigt.
Aus Enoch Widmann's Handichriftliher Chronik der Stadt Hof
veröffentliht Chrijtian Meyer in der Beitichrift für Kirchengeſchichte 16, 1
das Stüd, welches den Wiedertäufer Nikolaus Storch unb deſſen Anhänger
betrifit.
Die Nachrichten über die Schügengejellihaften und Schügenfeite Aug 8⸗
burgs im 15. und 16. Jahrhundert ftelt Radlfofer in einem Aufſatze
in der Btichr. d. bift. Ver. f. Schwaben und Neuburg 21 zujammen. Am
Schluſſe desjelben veröffentlicht er einige darauf bezügliche Urkunden und
Nachrichten.
Im Arc. f. Heil. Geſch. u. Alterthumsk. N. 5. 2, H.1 gibt &. Winde
haus neue Beiträge zur Geichichte der Kirche und Schule in Friedberg,
eine Ergänzung zu jeinem früheren Auffage und zugleich eine Berichtigung
verjchiedener Behauptungen Grein's (vgl. H. 3. 73, 857).
Die Nachrichten über die Familie des polnifhen NReformatord Joh.
vd. Yasco vereinigt Céeſar Pascal in einem nocd nicht abgeſchloſſenen
Aufjage des Bullet. du protestantisme francais (1895 9.5 u. 6). Er
behandelt bisher Johann Andreas und den politiih vielfach thätigen
Hieronymus Lasco.
656 Notizen und Nachrichten.
zu Thorn vom Jahre 1645 (vgl. die Notiz in H. 3. 74, 552). Die
Erzählung ijt ausführlich und genau, aber e8 ſcheint fait, ald ob fie dur
den unerguidlihen Verlauf des Geſprächs an Kraft und Tiefe etwas ein⸗
gebüßt habe.
An der Altpreuß. Monatsſchrift Bd. 32 H. 3 u. 4 erhebt 8. Loh⸗
meyer in augführlicher, im allgemeinen recht anerfennender Beiprehung
der von Breyjig herausgegebenen oftpreußijhen Ständeverband»
lungen (vgl. H. 3. 74, 101) Einjprud gegen dejjen Auffaliung von dem
abjoluten, antijtändiichen Charafter der älteren Ordensregierung. Sein
weiterer Einwurf, daB Breyfig für Oftpreußen und für Deutichland über-
haupt die principielle Bedeutung des jürjtlidejtändiihen Gegenjages für
das 16. und beginnende 17. Jahrhundert übertreibe, daß man nicht ohne
weiterd die deutjche Entwidlung mit der franzöfiichen vergleichen dürfe,
berührt eine wichtige, allgemeinerer Behandlung werthe Trage.
Neue Büder: Lavisse et Rambaud, Histoire generale. V.
Les guerres de Religion. 1559—1648. (Paris, Colin; Leipzig, Brods
baus. fr. 12) — Villari, Machiavelli. II. 2.ed. (Milano, Hoepli., —
Bothein, Loyola. (Halle, Niemeyer. M. 15.) — Correspond. de
Granvelle. XI. ‚Brüjiel, Hayez., — Wiebe, Zur Geſchichte der Preis
revolution im 16. und 17. Jahrhundert. (Leipzig, Dunder & Humblot,
M. 9.) — B. Loewe, Tie Organijation und Verwaltung der Wallen⸗
ftein’jhen Heere. (Freiburg u. Leipzig, Mohr. M. 2.) — Die böhm.
Landtagsverhandlungen und Landtagsbeſchlüſſe. VIII 1592—1594. (Prag,
Verlag d. kgl. böhmiſchen Landesausſchuſſes. — Archiv Cesky. XIL
1503—1511. (Prag, Bursik & Kohout.; — Strud, Das Bündnis
Wilhelm's von Weimar mit Gujtad Adolf. ‘Straljund, Regierungsbud:
druderei.; — Knipſchar, Kurfürſt Rhilipp Chriſtoph von Trier und jeine
Beziehungen zu Frankreich. (Marburg, Elwert) — R. Schmidt, Ein
Kalviniſt als kaiſerl. Feldmarihal im Treibigjähr. Kriege (Holzappel).
(Berlin, Fußinger. M. 3.) — Svenska riksrädets protokoll. VIL
1637 —1639. (Stockholm, Norstedt.'
1648—1789.
Zn den Forſchungen zur brand. u. preuß. Geſch. 8, 1 ‚1895 tbeilt
Hirſch adıt bieher unbelannte Briefe der Kurfürſtin Yuije Genriette)
an den Cherpräfidenten Otto v. Schwerin mit und gibt im Anichluß daran
eine Reihe tertlritiicher Bemerkungen zu den früher von Orlich veröffent»
lichten Briefen der Nurfürjtin, dejjen Datirungsverſuche aud) vielfach bes
richtigt werden.
Einen ſehr Ichrreihen Beitrag zur Geſchichte der Provinzial- und Lokal⸗
verwaltung unter Crommell in der parlamentlofen Zeit von Sanuar 16565
658 Notizen und Nachrichten.
Sn den Mittheil. d. Inſtituts f. öjterreih. Geſchichtsforſch. 16, 3 vers
öffentliht M. Lehmann, um feine Thefe von der Priorität der preußtichen
Rüftungen gegenüber den öjterreihiichen im Sabre 1756 zu erhärten, mehrere
Ültenftüde Wiener Provenienz. Wir notiren noch au8 den Forſch. zur
brand. u. preuß. Geſch. 8, 1 zwei Heinere, gegen Lehmann fi richtende
Aufjäge von DO. Herrmann und H. Prutz und aus den Mitth. aus der
hiftor. Literatur 23, 3 eine eindringende, zufammenfaflende Beiprehung des
ganzen Streited burh E. Berner, der fid) ebenfalls durch Lehmann nicht
überzeugt fühlt. — Unter den wenigen Stimmen, welde ji für Lehmann
erhoben Haben, befindet fi eine kurze Beſprechung von Onno Klopp, was
freilich nicht Wunder nehmen kann. (Oſterreich. Literaturblatt 1895 4, 12.)
Er triumphirt, daß Lehmann die Schlußfolgerungen, die er ſchon 1860 aus
der Apologie de ma conduite politique gezogen, wieder aufnimmt; er
gibt Lehmann in allem Recht, nur für einen Punkt ift er andrer Meinung:
Friedrich's Verhalten gegenüber Sadjjen ſei nit „in dem Geiſt feines
Jahrhunderts“ zu verftehen; ſchon Fleury habe den König einen mal-
honn&te homme et un fourbe genannt, und aud) |päterhin babe es an
ähnlichen Urtheilen von kompetenter Seite nicht gefehlt.
Im Suli-Auguithefte der Revue histor. bringt R. Waddington den
Schluß feined von uns ©. 376 dieſes Bandes notirten Aufjapes über bie
Allianzen von 1756. Er nennt bier den Berjailler Vertrag ein Meifterftüd
der öfterreihiihen Diplomatie, aber ein Unglüd für Frankreich.
Den Antheil des Sekretär Weſtphalen an den Feldzügen des Herzogs
Yerdinand von Braunſchweig unterjudt Hand Donalies in den Forid.
3. brandenb.spreuß. Geſch. 8, 1 und gibt darin eine ſummariſche Daritellung
der Feldzüge auf dem wejtlihen Schauplage des Giebenjährigen Krieges.
Insbeſondere charatterifirt er die Verhältniſſe im deutſchen Hauptquartier
und die eigenthümliche Stellung, die jih Wejtphalen, uriprünglich der Privat
jefretär de3 Herzogs, dann thatſächlich fein Generalftabschef, zu verichaffen
gewußt Hatte. In feinen ſachlichen Rejultaten und feinen Urtheilen berührt
fih der Verfaſſer fait jtet8 mit Emil Daniels, der feine bereits früher
notirtte Monographie über Herzog Ferdinand fortgejegt und nahezu
vollendet hat. (Preuß. Sahrb. 79, 80.) Bor Tonalicd? hat Daniels die
genauen Scladjtbefchreibungen und namentlih die Stärkeberechnungen
voraus, an llberjichtlichteit jteht aber feine zu ausführliche Erzählung
der fnappen Darſtellung von Donalies weit nad. — Neben dieſen Auf-
fügen über den Siebenjährigen Krieg jei nody erwähnt Schmitt, Ulm und
fein Militär 1757 (Würtemb. Bierteljahrsichr. für Landesgeſch. 4, 1).
Im Juli-Auguſt-Heft der Revue historique findet fi die Einleitung
zu einem größeren Werke Les Francais au Canada von R. de Kerallain;
das Werk ſoll, nachdem einzelne Theile in der Revue historique abgedrudt
fein werben, felbjtändig erſcheinen. Die Einleitung bietet einen Überblid
über die bisherige Literatur zur Geſchichte Canadas im vorigen Jahrhundert.
660 Notizen und Nachrichten.
du cosmopolitisme litt6raire. (Paris, Hachette.) — Der zweite Schlefifche
Krieg. Herausg. vom Großen Generalftabe. I. II. (Berlin, Mittler. M. 15
u. M. 11.) — Scriptores rer. Silesiacarum XV. Das Kriegdgericht wegen
der Fapitulation von Breslau 1758. (Breslau, Mar & Komp.) — De
Larividöre, Catherine le Grand. (Paris, Le Sondier. Fr. 8.50.) —
Rae, Life of Adam Smith. (London, Macmillan.)
Nexuere Geſchichte feit 1789.
Eine hübſche Studie ift der Aufjag von Kayfer Über Anardarjis
Cloots, den „Spreder des Menſchengeſchlechts“, der in der etwas roſa⸗
farbigen Beleudtung des Verfaſſers mehr wie ein Opfer des franzöfifchen
Chauvinismus, als feiner eigenen revolutionären Ausfchreitungen ericheint.
(Preuß. Jahrb. März 1895.)
In einer Reimann zum B5Ojährigen Doktorjubiläum gemwidmeten
Heinen Schrift „Sranzöfifhe Staatsgefangene in fhlefifhen
Heltungen“ (Breslau, Niſchkowsky, 1895) behandelt 3. Krebs, nad
den Alten des Geh. Staatsarchivs und des Ardivs des Kriegäminifteriums
in Berlin, jehr eingehend den Aufenthalt von Lafayerte, Zatour-Maubourg
und Bureau de Puzy in Neiße und Glatz (1794).
Die Wegnahme von Kunjtwerten, Handſchriften und Büchern: in Belgien
und Stalien durd die Franzoſen jhildert Müntz in einer Reihe von
Artikeln mit großer Unbefangenheit und Gründlichkeit. (Les annexions
de collections d’art ou de biblioth&ques, principalement pendant la
revolution frangaise in der Revue d’hist. dipl. 1895.)
Vortrefilih ift ein Aufiag von A. Sorel über die legten Jahre des
General Hode, deſſen Berhalten in der Vendée, Pläne gegen Irland,
Wirkſamkeit am Rhein, Verhältnis zum Fructidor-Staatäftreih. Sorel nennt
Hode le plus completement et le plus foncierement francais parmi
tous les heros de la Revolution, im Gegenjag zu dem esprit tout
romain et tout cesarien Bonaparte's, und weiſt nad), daß die außer:
ordentlihe Volksthümlichkeit Hoce’3 in Frankreich auf der Hoffnung bes
ruhte, dur ihn die drei Dinge zuſammen verwirklicht zu fehen, die ich
gegenjeitig vernichtet haben: „die Freiheit, die Republik und die Rhein
grenze“. Das Unfertige, Unbejtinmie in dem Charakter und den Zielen
von Hohe wird von S. beſonders anjhaulich vergegenwärtigt. (Les vues
de Hoche in der Revue de Paris, 15. Juli und 1. Augujt 1896.)
Die dur den Streit Böhtlingk's und Obſer's neuerdings wieder bes
lebte Frage nad) den Urhebern des Raftatter Gefandtenmordes bat
9. Hüffer, unter Heranziehung einiges bisher unbekannten Materlal8 aus
Wien, einer gründlichen und umſichtigen Prüfung unterzogen, indem er
durch ſcharfe Unterjheidung zwiihen dem Attentat auf die Geſandſchafts⸗
562 Notizen und Nachrichten.
Graf Gerard de Eontades hat unter dem Titel Emigres et Chouans
(Baris, Didier, 1895) fünf theilweife früher im Correspondant erfchienene
Abhandlungen vereinigt: 1. Die Geſchichte des Chevalier de Hauſſey (vgl.
9. 3- 75,183). 2. Armand de Chatenubriand, ein Better des Dichters, der als
Mitglied der „Agentur von Yerſey“ im Jahre 1809 gefangen und erjchofien
wurde. 3. „Ein Ehouan in London“ (Collin de la Eonrie, Vertreter der
bretonifden Armee). 4. Les gentilshommes pottes de l’armee !de
Conde, die fogen. Akademie von Steinftadt im Breißgau. 5. Puisaye
et d’Avaray, die Intriguen zur Verdrängung Avaray's aus dem BBer-
trauen Zudwig’® XVII. wobei aud der Graf Artoiß eine Rolle jpielte.
Ahnlichen Inhalts find die Erzählungen zur Geſchichte der
Chouans von E. Daudet, welde gleichfalls die Agentur von Yerſey
und deren erbitterten Kampf gegen Napoleon (von 1807 bis 1809 wurden
außer Chateaubriand noh 25 Chouans hingerichtet), die romantijchen
Schickſale des Chevalier de la HayesSaint-Hilaire (erichoffen 1806), und die
Entdedung und Unterdrüdung einer royaliftiihen Verſchwörung zu Bor
deaur (1804) behandeln. (Bgl. Revue de Paris, 1. Dez. 1894 und 1. Juli
1895; Revue hist. 1895, Mai-Quni.)
Die bisher vermißten Immediatſchreiben Napoleon's an Cau—⸗
laincourt während deſſen Gejandtihaft in Rußland haben fi, abfchrift-
lich aber in zweifello® authentiicher @eftalt, in den Papieren von La
Ferronays vorgefunden. Vandal, der jie in ber Revue bleue
(Nr. 13—16) veröffentliht und ihre Bedeutung mit Recht jehr body an⸗
ihlägt, findet darin im Wefentlihen eine Bejtätigung der in feinem-großen
Werke vorgetragenen Anſchauungen, namentlid auch iiber Napoleon's aufs
richtige Abneigung gegen den Krieg von 1809. ıDie vom 2. Februar 1808
bi8 zum 10. April 1809 reichenden Schreiben beleuchten neben den oriens
taliihen Plänen der beiden Katjer in höchſt charakterijtiicher Weiſe die
Smtervention Napoleon’8 in Spanien (31. März: je ne suis pour rien
dans les affaires d’Erpagne) und bie Vorgeſchichte des Krieges mit Diter
reich, das Napoleon dur eine Trennung in drei Theile oder durch Ent⸗
wafinung unſchädlich zu machen vorjchlägt. Übrigens find die Briefe mehr
Inftruftionen darüber, wie die napoleoniiche Politif in Petersburg dargeftellt
werden jollte, als wie jie wirklich war.
Aus der Fortſetzung feiner Studien zur Geſchichte Napoleon’8 und
Alexander's I.veröffentliht Bandal eine Unterfuhung über die Spionage
Tihernyihemw’3 in Paris vor Ausbruh des Krieges "von 1812.
(Revue%deß@Paris, 1. Januar 1895.)
Nah den Tagebüchern eines Advokaten und Profeſſors an der Unis
verfität Perpignan, Namens Zafume , fchildert der Abbe Torreilles die
Bandlungen in den] Befinnungen ‚der flerilalen !und royaliftiigen Bars
teien Frankreichs, namentlih in ‚ber Beurtheilung Napoleons, von 1800
bis 1809. inter den zahlreichen bemerfenswerthen Notizen heben jwir
564 Notizen und Nachrichten.
Napoleon’3 Erichlaffung, jeinem zu jpäten Angriff am 16. wird wiederholt,
die Dualität des preufiichen Heeres wird überſchätzt und das Verhältnis
zwifhen Blüher und Wellington nicht richtig dargeitellt; in®befondere tft
dem Verfaſſer da8 Verſprechen Wellington’s, zu Hüffe zu kommen, un«
befannt, infolgedejjen ſich die Preußen erft definitiv zur Schlacht entjchlofien.
Die von dem Generallieutenant Delort im Jahre 1820 nieder»
geichriebene Relation über die Schlacht von Belle-Alliance betrifft Haupt:
fählih die großen Kavalleriefämpfe, an denen er ald Kommandeur einer
Divifion des Milhaud'ſchen Corps Theil nahm. Dem unzeitigen Berbraud)
der Netterei, für den er ausſchließlich Ney verantwortlid) macht, bezeichnet
er als eine Haupturfadye der Niederlage. (Revue hebdom., 10. Aug. 1895.
Über „Die Einihiffung Napoleon's in Rochefort“ bringt
die Nouvelle Kevue retrosp. Relationen von Augenzeugen, eines Beamten
und eines Offizierd von ber Bemannung des „Epervier“, des Schiffs, auf
dem Napoleon zum Belleropbon hinüberfuhr. (Juniheft.)
In der Revue de Paris (15. April 1895) werden in franzöſiſcher
Üiberfegung eine Anzahl Briefe des Papites Leo XIII. aus den Jahren
1829,31 veröffentlicht, die der 20 jährige Student aus Rom an jeinen Vater
und feinen Bruder jchrieb. Sie enthalten vornehmlid) Nachrichten über die
Wahlen der Päpfte Pius’ VIII. und Gregor's XIV. und über die Rarteien,
die fi im Konklave gegenüberftanden.
Sn den Annales de l'Ecole libre des sciences politiques 10, 3
beginnt F. Barojz eine Studie über die polnijhe Revolution von
1830:31. Der vorliegende, bis Anfang 1831 reichende Abſchnitt jchildert
die Vorbereitung der Revolution, die Unfähigkeit de Gouverneurs, des
Sropfürften Konjtantin, der fie unjchwer in Keime eritiden konnte, Die
Ausbreitung des Aufitandes und die Parteien, die fid unter den Polen
bildeten. Der Diktator Ehlopidi wird geſchildert als ein der Revolution
eigentlich durdaus abgeneigter Mann. Da er von der Injurgirung Lit—
tauens und Rutheniens und als alter Napoleonijher Soldat von einer
Volksbewaffnung nichts wiſſen wollte, jo bildete jich bald eine jtarfe Oppo⸗
jttionspartei gegen ihn.
In den Fortgang jeiner Beröffentlihungen über Montalembert
‚dgl. H. 3. ©. 379 dieſes Bandes) berichtet Lecanuet über defien Reife
durch Deutfhland in den Jahren 1833 und 1834 und madıt aus
Tagebüchern und Briefen an Lamennais intereiiante Wittheilungen über den
Aufenthalt in Bonn (wo ihm A. W. v. Schlegel trop vain et trop francais
erſchien), in Weſtfalen (la Bretagne germanique), Berlin bei Savigny,
Radowig) u. ſ. w. Am längjten verweilte Montalembert in Münden im
Verfehr mit Baader, Görres und Klemens Brentano. Tas Ergebnis jeiner
Reife faßte er in dem Urtheile zujanınıen, daß certainement l’histoire
telle quelle est enseignee et ecrite en France est bien au-dessous
566 Notizen und Nachrichten.
juhungen über die Anziehungskraft u. f. w., und bie Revue de Paris
(15. Juni und 15. Juli): Notes de voyage en Belgique et en Hollande,
Aufzeihnungen, die neben kritiſchen Betrachtungen über Gemälde und
Bauten auch feine Bemerkungen über Kulturgefchichte und Charakter ber
Belgier und Holländer enthalten.
QZeue Bäder: [Kovalevsky, 1 dispacci degli ambasciatori
Veneti alla ’corte di Francia durante la rivoluzione. I. (Torino,
Bocca.) — Montegut, Le mar6chal Davout. :Paris, Hachette.
fr. 3.50. — Gießener Studien. VII. Lohr, 1. Die ſchleswig-holſteiniſche
Stage. 2. Der Kampf bei Edernförde. (Gießen, Rider: — Schweizer,
Geſchichte der !ichweizerifchen Neutralität. III. (Schlußband.: yrauenfeld,
Huber. M. 7.20. — 8. Bogel, Die driite franzöfiige Republik big
179. Deutiche Verlagsanftalt, Stuttgart. M. 7.50.
Bermifdtes.
Die Hijtorifhe Kommijjion bei der fgl. bayer. Alademie
der Wiſſenſchaften verjendet den Bericht über ihre 36. Plenarverfammlung
in der Pfingitwode am 7. und 8. Juni 1895.
Seit der letten Plenarverfammlung, Mai 1894, jind folgende Publi⸗
fationen durch die Kommiffion erfolgt:
1. Allgemeine deutſche Biographie. Bd. 37, Lieferung 2 und 3. Bd. 38.
Bd. 39, Lieferung 1. 2. 3.
2. Chroniken der beutihen Städte. Bd. 23: Bd. 4 der Chroniken der
Stadt Augsburg.
3. Briefe und Ulten zur Gejchichte bed Dreipigjährigen Kriegs. Bd. 6.
Die Hanjerecefie werden mit dem nädjten, dem 8., Band abichliepen,
defien Trud demnädjt beginnt.
Bon den Chroniken der deutihen Etädte ijt der 24. Band im Druck
begriffen. Er wird Auszüge aus den Stadtbüchern von Soejt und die von
dem Briejter Johann von Waſſenberch verfapte Chronik von Duisburg in
den Jahren 1474— 1517 enthalten, beides von Ardivar Dr. Jlgen in Münjter
bearbeitet, welcher auch eine Geſchichte ber Berfajlung von Soeſt hinzu—⸗
fügen wird.
Die Jahrbücher des Deutihen Reichs unter Otto II. und Otto III. Hofit
Dr. Uhlirz im Laufe des Jahres 1896 drudjertig zu jtellen.
Bon der Geſchichte der Wiſſenſchaften in Deutſchland ijt die von
Profeflor Landsberg übernommene Vollendung von Stinging’8 Geſchichte
der Rechtswiſſenſchaft big zum Ende ded 18. Jahrhunderts vorgerüdt, und
wird dieſe fertige Hälfte demnächſt veröffentlicht werben.
Bon ben Reichstagsakten der älteren Serie find der 10. und 11. Band
noch in Vorbereitung begriffen; von denen ber jüngeren Serie ijt der 2. im
Drud begriffen.
568 Notizen und Nachrichten.
complectantur, additis et veterum testimoniis et eruditorum argumen-
tis. (Löſungen für legtere Aufgabe lateiniſch, für eritere auch deutſch.)
Preisausfchreiben der Societa storica lombarda in Mailand: Storia
della ragioneria italiana nel medio evo e nell' eta moderna. Abs
lieferungstermin 30. Juni 1896. Preis 1200 Lire.
Am 3. Juni iſt in Sigmaringen ber verdiente Direktor des dortigen
fürjtlihen Muſeums und der Bibliothek, Hofrat Dr. v. Lehner, im Alter
von 70 Jahren gejtorben.
Am 22. Juli ift in Berlin im faft vollendeten 82. Lebensjahr Rudolf
v. Gneiſt geitorben (geb. zu Berlin 13. Auguft 1813), Wie als Polititer
und Juriſt, jo Bat er auch als Hijtoriler die fruchtbarſte Wirkſamkeit ent»
faltet; jein Ruhm als Meijter auf dem Gebiet der engliſchen Rechts- und
Berjajiungsgefhichte ift in England wie in Deutichland gleidy anerkannt.
(Nachruf von E. Loening in der Beilage zur Allgem. Zeitung vom 6. und
T. Aug.‘
Über G. Hirſchfeld veröffentlicht die Altpreuß. Monatsſchrift 32, 3,4
einen Nefrolog von 9. Prug und ein Berzeihnis jeiner Arbeiten von
M. Lehnerdt. Nachträglid erwähnen wir auch noch den in ber Altpreuß.
Monatsſchrift Bd. 31 erfhienenen eingehenden Nekrolog Lohmeyer's für
Toeppen. — Ein umfangreiher Nekrolog für 8. Hartfelder findet
fi in Burſian's Jahresberichten 23.
Bon Arndt und Weiland gibt E. Dünmmler) Nekrologe im, Neuen
Ardiv 20, 3 (unter Nachrichten).
Einen Netrolog von John Robert Seelen veröfjentliht T.R. Tanner
in der Engl. Histor. Review 39 (Juli 1895;.
Das Auguftheft der Deutihen Rundidau enthält einen Artikel von
U. dv. Miastomsti: Wilhelm Rojder.
Eine Gedädhtnisrede, die G. Cohn in der fgl. Gejellich. der Wiſſen⸗
fhaften zu Göttingen auf ©. Hanjjen gehalten hat, ijt außer in den
Nachrichten ber Bejellihaft auch als Sonberichrift herausgegeben (Leipzig,
Dunder & Humblot. 24 ©). Wan kann nicht jagen, daB es eine eigentlich
tiefgründige Darftellung von dem Wirken und der Bedeutung deö Mannes
tft; eigenthümlich berührt das Hereinziehen politiich-agrariiher Fragen der
Gegenwart in bie Rede.
Un die
geehrten Leſer der Hiſtoriſchen Beitfchrift!
Es wird den Leſern unferer Heitichrift zur Befriedi-
gung gereichen, zu erfahren, daß Heinrich v. Treitſchke
fich bereit erflärt hat, die Leitung der Biftorifchen Zeit:
ſchrift in Gemeinfhaft mit dem bisherigen Redakteur zu
übernehmen.
Redaktion und Berlagshandlung
der
„Hiſtariſchen Beitfchriff“.